Von Gerd Goertz
(Mexiko-Stadt, 25. März 2016, npl).- Es nötigte Bewunderung ab: 31 Monate lang verbrachte Nestora Salgado, Kommandantin der gemeindebasierten Polizei der Regionalkoordination der Gemeindeautoritäten (CRAC-PC) der Kleinstadt Olinalá im Bundesstaat Guerrero, unter falschen Anschuldigungen in Haft. Noch am Tag ihrer Freilassung am 18. März absolvierte sie eine Pressekonferenz und weitere Termine. Inzwischen befindet sie sich auf einer Rundreise durch die USA, um sich im Rahmen einer Kampagne für die politischen Häftlinge in Mexiko einzusetzen. Die erste Station war Seattle. Dort hatte das Menschenrechtsprogramm der Rechtsfakultät der Universität des Bundesstaates Washington eine wichtige Rolle bei den Bemühungen um ihre Freilassung gespielt.
Trotz zugegebener Angst hat Salgado ihre baldige Rückkehr in den Bundesstaat Guerrero angekündigt. „Wenn die Angst dich paralysiert, bist du angreifbarer”, so sagte sie kurz vor ihrer Entlassung in einem Interview. Und: „Für meine Polizei bin ich weiterhin Kommandantin”. Der Fall von Nestora Salgado ist einerseits einer von vielen und doch wieder besonders. Als aus den USA trotz erlangter US-Staatsbürgerschaft nach Olinalá zurückgekehrte Migrantin spielte Salgado eine wesentliche Rolle bei der effizienten Organisation der gemeindebasierten Polizei der CRAC gegen die Übergriffe von Kriminellen sowie auch staatlicher Sicherheitskräfte. Ihre Ernennung als Frau zur Kommandantin und ihre natürliche Autorität verschafften ihr einen zunehmenden Einfluss in der Region, der der Regierung unter dem damaligen Gouverneur Ángel Aguirre ein Dorn im Auge war.
Zwar erkennt das Gesetz 701 des Bundesstaates Guerrero die Figur der gemeindebasierten Polizei an. Doch gleichzeitig versucht der Staat, durch Geldzuweisungen und unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Gruppen, die gemeindebasierte Polizei zu spalten beziehungsweise zu kooptieren. Durchaus mit Erfolg. Nestora Salgado dagegen achtete stets auf gebührende Distanz zu den staatlichen Institutionen. Am 31. August 2013 wurde sie zusammen mit anderen gemeindebasierten Polizisten unter einem Vorwand wegen Entführung und organisierter Kriminalität verhaftet. Später kamen noch Anklagen wegen Raub, Mord und versuchten Mordes dazu. In den 31 Monaten ihrer Haft wurde nicht ein einziger Zeuge für die Beschuldigungen präsentiert. Gleichzeitig blieben die von Salgados Anwält*innen vorgebrachten Entlastungsbeweise unberücksichtigt.
Isolationshaft und Hungerstreik
Die Kommandantin der CRAC-PC hat immer versichert, dass es dem Staat darum ging, sie „kaltzustellen“. Sie teilte das Schicksal vieler verhafteter Aktivist*innen in Mexiko: Unterbringung in einem Hochsicherheitsgefängnis für Schwerverbrecher*innen, über längere Zeit sogar Isolationshaft. Den Aufenthalt im Gefängnis beschreibt Nestora Salgado als „schrecklich, wie lebendig begraben“. Mit einem Hungerstreik protestierte sie gegen Haftbedingungen und für ihre Freilassung. Obwohl diese immer wieder hinausgezögert wurde, hatte Salgado einen Vorteil gegenüber vielen anderen Häftlingen. Ihre US-Bürgerschaft führte dazu, dass ihr Fall auch in den USA bekannt wurde und sie von dort wie aus anderen Ländern Unterstützung erfuhr. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission sowie die Arbeitsgruppe zu willkürlichen Verhaftungen der UNO setzten sich für ihre Freilassung ein. Am Ende auch die staatliche Nationale Menschenrechtskommission Mexikos, die CNDH. Noch Anfang März wurde der Regierung eine Liste mit 32 000 Unterschriften von Personen aus aller Welt überreicht, die die Haftentlassung forderten.
Nestora Salgado will sich nun im Ausland und in Mexiko zuerst für die Freilassung weiterer gemeindebasierter Polizisten freilassen, die noch auf mehrere Hochsicherheitsgefängnisse in Mexiko verteilt sind. Die CNDH hat in ihrem Bericht, der zwei Jahre bis zu seiner Publikation vor wenigen Wochen brauchte, festgestellt, dass diese zum Teil nach der Verhaftung gefoltert wurden und eine erniedrigende Behandlung erfuhren. Ganz in diesem Kontext stellte Abel Barrera, der Direktor des Menschenrechtszentrums Tlachinollan auf der Pressekonferenz nach Salgados Freilassung die rhetorische Frage, warum „Nestora“ inhaftiert und als Kriminelle stigmatisiert wurde, während in den wichtigsten Städten Guerreros Auftragsmörder unbehelligt herumlaufen könnten.
Die Tatsache, dass Nestora Salgados Wille und Engagement die Haft zumindest auf den ersten Blick ungebrochen überstanden, versuchte der Historiker und Religionsphilosoph Enrique Dussel in einem am 24. März veröffentlichten bemerkenswerten Artikel mit einem Rückgriff auf Walter Benjamin und dessen positiv verstandenen Begriff des „messianischen Materialismus“ zu erklären. Darin ordnet er das messianische einer Person zu, die ihre Führungskraft ganz in den Dienst einer unterdrückten Bevölkerung (bzw. eines Volkes) stellt.
Nestora Salgado: Aus dem Gefängnis direkt zum politischen Engagement von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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