(Bogotá, 18 Mai 2022, el salto).- Kolumbien, eine Woche vor der Wahl. Noch nie zuvor ist es einer linken Partei gelungen, sich in dem ausgesprochen konservativen Land als Regierungspartei zu behaupten; der blutige Konflikt zwischen Staat und Guerilla hat bisher noch jede progressive Alternative ausgebremst. Doch nun liegt das linke Wahlbündnis Pacto Histórico mit Gustavo Petro und Francia Márquez an der Spitze in allen Umfragen deutlich in Führung; bei den Parlamentswahlen vom 13. März hat es bereits hervorragende Ergebnisse erzielt. Vieles ist in der kolumbianischen Gesellschaft in den letzten Jahren im Umbruch, und weite Teile der Bevölkerung, insbesondere die Jugend, fühlen sich angesprochen vom Wahlprogramm der Linken, das Umverteilung, Frieden und Korruptionsbekämpfung verspricht. Die Anschuldigungen der Rechten, die linke Politik sei von der Guerilla unterwandert, scheinen ihre Wirkung verloren zu haben, und paradoxerweise hat sich im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen ausgerechnet die linke Position zu den bewaffneten Konflikten zu einem ihrer wichtigsten Trümpfe entwickelt. Von allen Kandidaten, die am 29. Mai zur Wahl antreten werden, ist sie diejenige, die sich den Vereinbarungen des Friedensvertrags von 2016 am stärksten verpflichtet fühlt. Zum ersten Mal ist es der kolumbianischen Linken gelungen, als die politische Option wahrgenommen zu werden, die sich am entschiedensten für den Frieden einsetzt.
Talfahrt des Uribismo
Am anderen Ende des politischen Spektrums befindet sich die die vom ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe geführte Rechte, der auch der derzeitige Präsident Iván Duque angehört. Dessen Regierungszeit war geprägt von sozialen Unruhen und anhaltenden Protesten, dazu kommt die Verurteilung Uribes wegen Zeugenbestechung und Verfahrensbetrugs; insofern kann der Uribismo die letzten vier Jahre kaum als Erfolgsphase verbuchen, im Gegenteil: Die tiefe Krise, in der die Rechte steckt, hat dazu führt, dass zum ersten Mal seit Jahren kein Uribismo-Vertreter aufgestellt wurde, was dem linken Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro enorm in die Hände spielt. Seine Vision vom politischen Wandel greift den Wunsch nach Frieden und die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit auf, die die kolumbianische Gesellschaft in der jüngsten Vergangenheit auf der Straße getragen hat.
Paro nacional: Blockieren, um zu bewegen
Der 21. November 2019 ist ein Meilenstein in der Geschichte der sozialen Bewegungen in Kolumbien. Der von Arbeitnehmer*innenorganisationen initiierte landesweite Streik gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung Duque entwickelte sich zum Symbol der Unzufriedenheit mit der Regierung insgesamt. Student*innen, Feministinnen und Landarbeiter*innen verbündeten sich mit afrokolumbianischen und indigenen Communities und füllten für ganze drei Wochen die Straßen mit Kundgebungen und Protestmärschen. Seither hat die Aufbruchsstimmung, abgesehen von einer pandemiebedingten Flaute, nicht mehr nachgelassen. Angestoßen durch den Friedensprozess nach 2016 begann sich in Kolumbien ein tiefgreifender Wandel der politischen Kultur und des sozialen Protests zu vollziehen. Wie die Autorin Sandra Borda in ihrem Buch Parar para avanzar („Blockieren, um zu bewegen“) betont, sind die Massivität und der historische Erfolg dieser ungewöhnlichen Mobilisierung nicht zuletzt ihrer Vielfalt geschuldet. Das linke Bündnis hat die Veränderungen in der kolumbianischen Gesellschaft in den letzten Jahren in ihrer Bedeutung erkannt und viele der neuen Forderungen integriert, die mit dem Estallido auf den Tisch kamen, darunter die konsequente Umsetzung des Friedensvertrags von 2016, die prekäre Situation der Jugendlichen, die Gewalt gegen soziale Führungspersönlichkeiten, Frauen*rechte und die Rechte der indigenen Gemeinschaften. So gelang es, auch viele junge Menschen zu mobilisieren und die Kräfte zu bündeln, die bereits zur Zeit des Friedensabkommens und während der Mobilisierungen im Vorfeld des Ausbruchs aktiv gewesen waren. Ähnlich wie in Chile, wo vor allem junge Menschen die Kandidatur Gabriel Borics maßgeblich unterstützt haben, findet auch der kolumbianische Pacto Histórico die meisten Anhänger*innen in der Gruppe der jüngeren Menschen ‑ ein Faktor, der für das Ergebnis am 29. Mai entscheidend sein könnte.
Die dringendsten gesellschaftlichen Probleme sind Korruption und Armut
Jüngsten Berichten des Lateinamerikanischen Zentrums für Geopolitische Studien CELAG zufolge würden nur 15 Prozent der Kolumbianer*innen Kriminalität und Drogenhandel als die größten Probleme des Landes bezeichnen. Eine viel größere Geißel stellen nach Ansicht der meisten Menschen Korruption und Armut dar. Auch hier liegt ein eindeutiger Pluspunkt für die Linke, die traditionell für Umverteilung und den Abbau sozialer Ungleichheit eintritt, jedoch jahrzehntelang von der Regierungsbeteiligung ausgeschlossen war, während sich die Rechte unter der Regierung von Iván Duque durch Korruptionsvorwürfe in Misskredit gebracht hat.
Die Krise der Rechten
Nach der Ankündigung der Steuerreform lebte die landesweite Streikwelle im April 2021 wieder auf, und das mit zwei bedeutungsvollen Tendenzen: Die Linke übernahm die sozioökonomischen Forderungen der Aktivist*innen und gewann dadurch zahlreiche neue Wählerstimmen; der Rechten hingegen mangelte es zunehmend an aussagekräftigen Wahlzielen und an repräsentativem Führungspersonal, und keine der beiden Schwachstellen scheint bisher überwunden. Der parteilose Federico „Fico“ Gutiérrez wird zwar von der Partei Álvaro Uribes unterstützt, versucht aber seinerseits, gemeinsame öffentliche Auftritte mit dem Ex-Präsidenten zu meiden. Tatsächlich könnte dem Kanidaten Gutiérrez die Unterstützung von Anhänger*innen Uribes bei seinem Versuch, die politische Mitte zurückzugewinnen, eher schaden als helfen. Bei den letzten Wahlen vor vier Jahren hatten sich viele Menschen aus Angst gegen Petro und für Iván Duque entschieden. Nur wenn es Gutiérrez gelänge, diese Stimmen zu halten, hätte er eine Chance zu gewinnen. Und in dem Punkt sieht es nicht gut aus: Wirtschaftlich hat der Uribismo dem Land offensichtlich nicht gut getan, dazu hat er die Umsetzung des Friedensabkommens von 2016 blockiert, wo er nur konnte. Das Friedensabkommen ist seit langem einer der Hauptstreitpunkte zwischen dem gemäßigten Spektrum um Ex-Präsident Santos, der den Prozess während seiner Amtszeit unterstützt hatte, und einer von Álvaro Uribe angeführten Fraktion, die den Friedensvertrag als Kapitulation vor der Guerilla bezeichnete. In diesem Punkt hat Fico Gutiérrez sich bereits vor einigen Wochen von Uribe und seinen Anhänger*innen distanziert und öffentlich erklärt, seine Regierung werde für die Umsetzung der Friedensvereinbarungen eintreten. Auf Uribes Unterstützung verzichten kann er aber auch nicht, wenn er die Wahl gewinnen will. Und zu allem Überfluss tritt ihm eine Linke gegenüber, die so geeint ist wie nie zuvor und entschlossen für einen historischen Wandel kämpft.
Der Pacto Histórico
Doch auch die Linke hatte es nicht leicht. Der Pacto Histórico ist ein Bündnis verschiedener Parteien und Bewegungen, und was sie tatsächlich eint, ist der Wunsch nach Veränderung in Kolumbien. Darüber hinaus ist der Zusammenschluss alles andere als homogen, und die verschiedenen Positionen und Forderungen in einer einheitlichen Kandidatur unterzubringen bedeutete harte Arbeit. Die von Petro geführte Koalition vertritt auch bestimmt kein revolutionäres Programm, sondern will eine gesellschaftliche Kraft etablieren, die stark genug ist, um Demokratie, Frieden Gleichheit und soziale Gerechtigkeit zu etablieren. Agrar-, Steuer- und Rentenreformen, die Verbesserung des öffentlichen Bildungswesens, die Rückkehr zum öffentlichen Gesundheitssystem und der Rückzug aus der extraktivistischen Rohstoffförderung sind nur einige der Herausforderungen, denen sich eine progressive Regierung stellen müsste.
Vielfalt ist unsere Stärke
Im Zuge des Friedensprozesses bildeten sich in verschiedenen Landesteilen neue Führungspersönlichkeiten als Vertreter*innen bestimmter sozialer und ethnischer Gruppen heraus. Auch hier liegt ein Grund für den Erfolg des Pacto Histórico: Diese Personen ermöglichten es dem Bündnis, in viele verschiedene Bereiche vorzudringen und außerdem nicht mehr andauernd mit der Guerilla in Verbindung gebracht zu werden. So hat sich zum Beispiel Francia Márquez nach ihrem unglaublichen Erfolg bei den parteiübergreifenden Konsultationen zu einem echten politischen Phänomen entwickelt. Márquez ist seit über 20 Jahren in ihrer Gemeinde für Umweltrechte und gegen Zwangsumsiedlung aktiv und hat sich durch ihr Engagement mehr und mehr zur politischen und sozialen Führungsperson entwickelt. Die Vizepräsidentschaftskandidatin tritt außerdem als Vertreterin feministischer und antirassistischer Bewegungen auf.
In der Vielfalt des Pacto Histórico liegt gleichzeitig auch seine Stärke. Er verbindet die klassische Linke mit der Umweltbewegung und feministischen und antirassistischen Positionen. Dem tausendfachen Ruf nach einem friedlichen Wandel in Kolumbien eine Stimme geben – nichts weniger als das will der Pacto Histórico.
Übersetzung: Lui Lüdicke
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[…] Von Jaime Bordel Gil und Javier Castro Cruz (el salto / NPLA) […]
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