(Bogotá, 12. Dezember 2024, Dialogue Earth).- Die Menschen in der bedrohten Region Serranía de San Lucas fühlen sich vom Staat alleingelassen: Die Ermordung eines Aktivisten durch eine illegale bewaffnete Gruppe im April beunruhigt die Verantwortlichen der Gemeinde.
Am 21. April 2024 kamen bewaffnete Männer in das Haus von Narciso Beleño und erschossen ihn, ohne dass er hätte reagieren können. Der 62-jährige Mann lebte in Santa Rosa del Sur, in Bolivar, im Norden Kolumbiens. Er hatte sein Leben dem Schutz des Territoriums vor großen Bergbauprojekten gewidmet, die die Serranía de San Lucas bedrohen, eine der artenreichsten Gegenden des Landes. Beleño war eines der jüngsten Opfer eines immer komplexer werdenden Konflikts, der diesen Teil Kolumbiens betrifft, aber auch in mehreren anderen Regionen ausgetragen wird. Ein Konflikt, in dem sich illegale Wirtschaftsaktivitäten, Bergbauprojekte multinationaler Unternehmen und organisierte Gemeinschaften inmitten enormer Kräfter vermischen: von Guerillas wie der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) bis zu FARC-Dissidenten. Vor allem aber tritt ein Akteur immer mehr in den Vordergrund: der Clan del Golfo, auch bekannt als Autodefensas Unidas Gaitanistas, eine paramilitärische Gruppe, die sich weiter ausbreitet.
In verschiedenen Berichten der Wahrheitskommission heißt es, dass sich die Landverteidiger*innen gegen die Expansion des Bergbaus wehren, die häufig von der Zentralregierung vorangetrieben wird. Die Wahrheitskommission war im Jahr 2016 nach dem Friedensabkommen mit den FARC von der Regierung Santos (2010-2018) eingesetzt worden, um die Ursachen des lang andauernden bewaffneten Konflikts im Land zu untersuchen. Einige dieser Bergbauprojekte gehen sogar Hand in Hand mit Aktivitäten illegaler bewaffneter Gruppen, was die Situation in den Regionen noch verschlimmert. Doch trotz der jüngsten Versuche der Regierung von Gustavo Petro, Reformen zum Schutz von Landverteidigern durchzuführen, sagen Gemeinden und NRO, dass Frieden schwer zu erreichen ist und ihr Leben weiterhin in Gefahr ist.
Widerstand in der Serranía de San Lucas
Ein herausstechendes Beispiel ist die Federación Agrominera del Sur de Bolívar (Fedeagromisbol), eine Organisation von Landarbeiter*innen und Kleinbergleuten, die sich für nachhaltige Praktiken im Süden Bolívars einsetzt und in ihrem Kampf für Frieden, verantwortungsvollen Bergbau und nachhaltige Landwirtschaft nicht nachlässt. Fedeagromisbol arbeitet in der Serranía de San Lucas. Dort befinden sich erhebliche Goldvorkommen, die von dem multinationalen Unternehmen AngloGold Ashanti erkundet werden. Das südafrikanische Bergbauunternehmen beantragte 2004 die Erlaubnis, in dem Gebiet nach Gold zu suchen und zu schürfen. Die Arbeiten auf dem Terrain wurden von einer Einheit der kolumbianischen Armee geschützt. Im Jahr 2006 wurde diese Einheit beschuldigt, zwei Fedeagromisbol-Führungspersonen gefangen genommen und getötet zu haben, die Proteste gegen die Präsenz des Unternehmens in der Region angeführt hatten.
„Es ist eins der größten Goldvorkommen Lateinamerikas, und die Bevölkerung hat nicht zugelassen, dass es ausgebeutet wird, sondern es wurde als Schutzgebiet ausgewiesen“, sagt Gladys Rojas, Leiterin der NRO Corporación Sembrar, die sich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens beschäftigt. „Aktuell ist das eine wichtige Maßnahme im Rahmen des Umweltschutzes.” Der Reichtum der Region zieht bewaffnete Gruppen wie die ELN und Paramilitärs an. Nach Recherchen des Centro Nacional de Memoria Histórica (Nationale Zentrum für historische Erinnerung), einer öffentlichen Einrichtung, die den kolumbianischen Konflikt aufarbeitet, kämpfen diese Gruppen seit Jahrzehnten darum, die Gebiete unter ihre Kontrolle zu bekommen. Der Widerstand von Fedeagromisbol gegen Bergbauprojekte wird seit Jahren von diesen bewaffneten Gruppen bekämpft.
Die Kontrollposten der Paramilitärs rücken näher
Die Arbeit von Fedeagromisbol konzentriert sich auf die Interessenvertretung und die Einreichung von Klagen vor internationalen Gerichtshöfen zu Themen im Zusammenhang mit dem Süden Bolivars, wie „Land und Territorium, würdevolles Leben, Erinnerung und Menschenrechte, Bergbau und Umwelt“, so das Centro Nacional de Memoria Histórica. Seit 2009, ein Jahr nach der Ermordung eines anderen ehemaligen Fedeagromisbol-MItarbeiters, Edgar Martínez Ruiz, hat die Gruppe von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IACHR) vorsorgliche Schutzmaßnahmen erhalten. Die Kommission forderte den kolumbianischen Staat auf, Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Fedeagromisbol-Führungspersonen zu ergreifen. Seit der Ermordung von Narciso Beleño ist die Situation für alle Bewohner*innen der Region sehr gefährlich geworden. „Im Moment gibt es eine paramilitärische Umzingelung auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene, mit sehr starken sozialen Kontrollmaßnahmen. In der Bergbauregion wurden mehrere paramilitärische Stützpunkte eingerichtet. Früher befanden sich diese Stützpunkte noch weit von der Bevölkerung entfernt, heute findet man sie innerhalb der Dörfer, was die Kontrolle [der Paramilitärs] über die Bevölkerung und die Organisationen verstärkt“, beschreibt Rojas.
Der Frieden – mehr Beschluss als Realität
Astrid Torres ist Koordinatorin des Programms Somos Defensores, der wichtigsten NRO in Kolumbien, die die Situation bedrohter sozialer Führungspersonen überwacht. Bei der Auswertung der Zahlen des ersten Halbjahres stellt sie fest, dass „es keine Verbesserung gegenüber dem Vorjahr gegeben hat“. Kolumbien ist nach wie vor das Land in der Welt, in dem jährlich die meisten Landverteidiger*innen getötet werden. Die Zahlen von Somos Defensores fließen in die Berichte von Global Witness ein, das die Gewalt gegen Landrechtaktivist*innen weltweit überwacht. Im Jahr 2023 verzeichnete Kolumbien mit 79 getöteten Menschenrechtsverteidiger*innen die mit Abstand höchste Zahl. „Die Situation der Menschenrechtsverteidiger*innen in Kolumbien muss über die Ermordung und den Willen der derzeitigen Regierung hinaus als strukturelles Problem der historischen Verfolgung der sozialen Bewegung verstanden werden“, so Torres. „Dies ist nicht nur auf legale bewaffnete Akteure oder staatliche Strukturen zurückzuführen, die die Verteidiger*innen oft verfolgt und stigmatisiert haben, sondern auch auf illegale bewaffnete Akteure, die im Kontext des politischen, sozialen und bewaffneten Konflikts die Verteidiger*innen als Feinde betrachten.“ Im Dezember 2023 hat das Verfassungsgericht, das höchste Gericht des Landes, die ernste Lage der Menschenrechtsverteidiger festgestellt. In seinem Urteil SU-546 erklärte es die Situation für verfassungswidrig und verpflichtete den Staat, mit allen erforderlichen Mitteln wirksam auf Bedrohungen zu reagieren. Torres argumentiert auch, dass die derzeitige Situation für Menschenrechtsverteidiger*innen kritisch sei, da sich die Umsetzung des Friedensabkommens von 2016 zwischen dem kolumbianischen Staat und der FARC-Guerilla verzögert habe und es vor allem nicht gelungen sei, den Paramilitarismus und die Straflosigkeit abzubauen: „In der 20-jährigen Geschichte unseres Programms [Somos Defensores] gab es nur 179 Urteile wegen der Ermordung von Menschenrechtsverteidiger*innen“.
Angriffe trotz laufender Vermittlungsgespräche
Hinzu komme, so Torres, dass der Staat aufgrund fehlender Abstimmung nicht in der Lage gewesen sei, Führungspersonen wie Beleño zu schützen. „Es gibt im Moment keine klare Politik, um auf die Situation zu reagieren… Es gibt derzeit keine konkreten Maßnahmen von Seiten des Staates, um diese Situation zu beenden und die Gefahrensituation für die Aktivist*innen zu entschärfen.“ Sie zeigt auch die strategischen Schwächen der derzeitigen Petro-Regierung auf, die zwar gute Absichten verfolge, aber in den Territorien kaum Ergebnisse erzielt habe. Diese Politik, die als „vollständiger Frieden“ bekannt ist, hat die wichtigsten illegalen bewaffneten Gruppen, die im Land operieren, an den Verhandlungstisch gebracht, aber laut Somos Defensores wurde bei den Verhandlungen keine Einigung auf konkrete Maßnahmen zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen erzielt.Torres fügt hinzu, dass die NRO Fälle von Aggressionen gegen Landverteidiger*innen registriert habe, obwohl die Guerillagruppen im Dialog mit der Regierung stehe. für die meisten Vorfälle im ersten Halbjahr 2024 seien Dissident*innen der FARC und der Clan del Golfo verantwortlich. „So war Estado Mayor Central [FARC-Dissidenten] zusammen mit AGC [Clan del Golfo] einer der Hauptakteure, die im vergangenen Halbjahr die meisten Übergriffe auf Verteidiger verübten. Mit diesen Gruppen liefen Verhandlungen, und trotzdem wurden Angriffe registriert.“
Der ‚Frieden mit der Natur‘ – eine ernstzunehmende Verpflichtung
Am 28. September gab Präsident Petro bekannt, dass die Nationalpolizei Mitglieder des Clan del Golfo festgenommen habe, die für den Mord an Narciso Beleño verantwortlich sein sollen. Die drei Mitglieder wurden im Rahmen der „Operation Themis“ verhaftet, einer Sonderinitiative des Verteidigungsministeriums zur Ermittlung der Verantwortlichen für die Morde an sozialen Führungspersonen und Unterzeichner*innen des Friedensabkommens. Dies ist zwar ein Fortschritt, aber in einem Land, das durch mangelnden Schutz geprägt ist, sind die Umweltschützer*innen nicht beruhigt. Die Regierung Petro hat versucht, den Kampf gegen den Klimawandel zu einem ihrer Aushängeschilder zu machen. Dazu hat sie Räume und Instrumente gefördert, die eine Mischung aus Skepsis und Hoffnung erzeugen. Ein solcher Ort war die COP16, der UN-Biodiversitätsgipfel, der kürzlich in der kolumbianischen Stadt Cali stattfand. Tatiana Roa, Vizeministerin für Umweltmanagement im Ministerium für Umwelt und nachhaltige Entwicklung, verteidigte den Gipfel und versicherte gegenüber Dialogue Earth, dass Kolumbien in diesem Jahr als Gastgeberland eine wichtige Botschaft aussenden wollte: „Es ist die Zeit des ‚Friedens mit der Natur‘, verstanden als Aufruf zum dringenden Handeln angesichts des Ausmaßes der zivilisatorischen Krise, mit der wir konfrontiert sind, und der Notwendigkeit, sofort zu handeln. ‚Frieden mit der Natur‘ verpflichtet uns dazu, unser Verständnis von Entwicklung und Fortschritt zu überdenken.”
Escazú und COP16
Nelsón Orrego, Aktivist aus der Serranía de San Lucas, berichtet, dass auf der COP16 ein Treffen zwischen führenden Vertretern verschiedener sozialer Organisationen aus der Serranía de San Lucas und der Nationalregierung stattfand. Man einigte sich auf ein Dokument mit Verpflichtungen, das einen Punkt zum Schutz der sozialen Führungspersonen und der Gemeinschaften in dem Gebiet enthält. Ein weiteres von der Regierung gefördertes Instrument ist die Umsetzung des Escazú-Abkommens, das im August vom Verfassungsgericht ratifiziert wurde. Dieses regionale Abkommen kann der Schlüssel sein, um das Leben der sozialen Führungspersonen zu garantieren, indem er Instrumente für den Zugang zu Informationen, die Beteiligung der Öffentlichkeit und Umweltgerechtigkeit bereitstellt. Das Escazú-Abkommen in Verbindung mit dem COP16-Dokument sei „ein wichtiger Schritt nach vorn, da die bestehenden gesetzlichen Instrumente genutzt und weitere geschaffen werden, um diese Anführer zu schützen“, so Orrego. Torres fügt hinzu: „Die Escazú-Vereinbarung verpflichtet uns, in bestimmten Fragen schneller zu handeln, insbesondere in Bezug auf die Umweltschützer*innen. Es bietet uns die Möglichkeit, Instrumente zu entwickeln, die eine echte Bürgerbeteiligung, die Transparenz von Informationen und die Achtung der Rechte von Menschenrechtsverteidigern gewährleisten.
Umweltschützer*innen wie Professor Gabriel Tobón von der Universidad Javeriana sehen die Instrumente des Escazú-Abkommens mit Hoffnung. Er glaubt, dass das Abkommen „bessere Bedingungen schafft, um diejenigen zu schützen, die sich gegen Projekte wehren, die ihr Territorium bedrohen“, auch wenn nicht automatisch Ergebnisse zu erwarten seien. Torres ist der Ansicht, dass die wichtigste Garantie für die Menschenrechtsverteidiger*innen darin bestehe, die ehrgeizigen Sozialreformen der derzeitigen Regierung voranzutreiben, die vom Arbeitsschutz über die Ausweitung der demokratischen Teilhabe bis hin zur Verbesserung der Justiz reichten, jedoch aufgrund der Oppositionsmehrheit im Kongress nur langsam vorankämen. „Die Landfrage ist von zentraler Bedeutung für den Konflikt, ebenso wie die Möglichkeit, eine existenzsichernde Wirtschaft aufzubauen, die mit der illegalen Wirtschaft konkurrieren kann und den Menschen echte Alternativen bietet“, schließt sie.
Übersetzung: Dorothee Baldenhofer
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