von Gerd Goertz
(Mexiko-Stadt, 05. Oktober 2014, npl).- Die schlimmsten Befürchtungen über ein von Polizisten und organisiertem Verbrechen gemeinsam durchgeführtes Massaker an Studenten im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero scheinen sich zu bestätigen. In einer Siedlung am Rand der Provinzstadt Iguala fanden die Ermittlungsbehörden am Wochenende sechs Massengräber. Bis zum späten Sonntagabend bargen sie 28 verkohlte und zum Teil verstümmelte Leichen. Sehr wahrscheinlich handelt es sich bei den Opfern um eine Gruppe der 43 seit dem 27. September vermissten Studenten von der pädagogischen Hochschule Ayotzinapa. Noch am Sonntagabend gestanden ein verhafteter Auftragsmörder und ein Drogenhändler, in der Nähe der Massengräber 17 Studenten getötet zu haben. Sie benannten Francisco Salgado, den Polizeidirektor von Iguala, sowie den lokalen Drogenboss „El Chuky“ als diejenigen, die ihnen gegenüber die Verschleppung und anschließende Ermordung der Lehramtsanwärter anordneten.
Zwei Verhaftete gestehen Morde an 17 Studenten
Laut Iñaky Blanco Cabrera, dem Generalstaatsanwaltschaft von Guerrero, führten Hinweise von 22 verhafteten örtlichen Polizisten und weiterer direkt dem organisierten Verbrechen zugeordneter Krimineller zu den Massengräbern. Es wird erwartet, dass die Gerichtsmediziner zwischen 15 Tagen und zwei Monaten brauchen, die Identität der Leichen zweifelsfrei zu klären. Alles deutet aber daraufhin, dass es sich um die formale Feststellung einer Gewissheit handeln wird.
In der Nacht vom 26. auf den 27. September hatten Polizisten und Kriminelle in der 130.000 Einwohner*innen zählenden Stadt Iguala in offensichtlich koordinierten Aktionen zuerst einen von Studenten beschlagnahmten Bus unter Beschuss genommen. Stunden später attackierten Bewaffnete die am Ort des Geschehens stattfindende Pressekonferenz der Studenten. Wahrscheinlich wegen einer Verwechslung beschossen sie zudem den Bus einer jugendlichen Fußballmannschaft. Insgesamt kamen dabei drei Studenten und drei Unbeteiligte um. 25 Personen wurden verletzt. Einer der drei ermordeten Studenten, ein junger Familienvater, hatte versucht, der Beschießung zu entkommen. Er wurde am anderen Tag mit fürchterlichen Folterspuren aufgefunden – unter anderem waren ihm die Augen ausgeschnitten und die Gesichtshaut abgezogen worden.
Kaum noch Hoffnung auf Überlebende
Anfangs bestand die Hoffnung, dass sich die Mehrheit der verschwundenen Studenten hatte retten können und sich aus Angst versteckt hielt. Die Ermittler stellten allerdings bereits vor mehreren Tagen Videos von Überwachungskameras sicher. Sie zeigten, wie mindestens 15 bis 25 Studenten von Polizisten und bewaffneten Personen in Zivil mit Patrouillenfahrzeugen verschleppt wurden. Da sie auf keiner Polizeiwache auftauchten, musste ihre Ermordung als realistisch eingeschätzt werden.
Unterdessen sind Felipe Flores, der Chef der Öffentlichen Sicherheit in Iguala und Bürgermeister José Luis Abarca immer noch untergetaucht. Nach ihnen wird landesweit gefahndet. Beiden wurden seit langem Verbindungen zum organisierten Verbrechen nachgesagt. Sie blieben jedoch unbehelligt. Die nach Iguala entsandten Medien berichten von einem Klima der Angst und des Horrors in der Stadt.
Wut und Verzweiflung
Wut und Verzweiflung unter den Familienangehörigen, den studentischen Lehramtsanwärtern von Ayotzinapa und der Bevölkerung Guerreros allgemein drücken sich seit Tagen in Straßenblockaden, Massendemonstrationen mit bis zu 10.000 Menschen in der Landeshauptstadt Chilpancingo und Zerstörungen von öffentlichen Einrichtungen aus. In ihrem Bundesstaat sind Einwohner*innen vielfach der Komplizenschaft zwischen kommunalen Autoritäten, örtlichen Sicherheitskräften und organisiertem Verbrechen sowie dem präpotenten Militär hilflos ausgeliefert. Die nationale staatliche Menschenrechtsrechtskommission CNDH kam nach zehn Tagen zu dem Schluss, dass es sich im Fall der Studenten um „schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen“ handelt. Das muss den Angehörigen wie blanker Hohn klingen. Von Mexikos Präsident Ernesto Peña Nieto gab es am Sonntag noch keine Erklärung zu den neuen Erkenntnissen.
EPR meldet sich zu Wort
Die in Guerrero früher sehr aktive Guerillagruppe Revolutionäres Volksheer (EPR) veröffentlichte ein offenbar vor dem Auffinden der Massengräber verfasstes Kommuniqué, in dem sie sich gegen die These einer vom organisierten Verbrechen infiltrierten Polizei wendete. Dies sei ein „plumpes politisches Manöver“, damit der Staat seiner Verantwortung ausweichen können. Das EPR bezeichnete das Vorgehen gegen die Studenten von Ayotzinapa als „kriminelle Politik eines Polizei- und Militärstaates“.
In den vergangenen Tagen tauchte auf den Transparenten in Guerrero eine Losung aus den Zeiten der lateinamerikanischen Militärdiktaturen wieder auf: „Lebend haben sie sie uns genommen, lebend wollen wir sie wieder“. Wie unter den Militärdiktaturen scheint dieser Ruf in Guerrero vergeblich zu sein. Ein böses Omen für Mexiko.
Guerrero: 28 Leichen gefunden von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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