
Foto: Jules Giessler
(Berlin, 25. April 2025, npla).- Laut Lexikon gibt es zwei Erklärungen für den portugiesischen Begriff Desova: erstens: „Laichen“, also das Ablegen von Fischeiern. Die zweite Erklärung des Begriffs Desova bedeutet das Verschwindenlassen von Menschen, Autos oder anderen unrechtmäßig erworbenen Gegenständen. Um das gewaltvolle Verschwindenlassen in der Baixada Fluminense, der Metropolregion Rio de Janeiros, geht es im brasilianischen Dokumentarfilm „Desova“. Er portraitiert das Leben der Mütter, die ihre Kinder verloren haben. Jetzt waren sie mit ihrem Film auch in Deutschland, und der NPLA hatte die Möglichkeit, mit ihnen über ihre Erfahrungen, ihre Trauer und ihre Wünsche zu sprechen.
Die Geschichten und Gesichter hinter dem Film
Renata Aguiar verlor 2017 ihren ersten Sohn – er wurde ermordet, und die Leiche wurde ihr nicht ausgehändigt. Da begann für sie ihr Kampf für die Menschenrechte, wie sie sagt. Nachdem sich die Behörden über mehrere Monate querstellten, schloss sie sich mehreren Menschenrechtsgruppen in ihrem Heimatort Queimados an, der in der Baixada Fluminense liegt, im Norden der Metropolregion Rio de Janeiros in Brasilien. Sechs Jahre später, 2023, verlor Renata ihren zweiten Sohn. Sie sagt, es war der Staat selbst, der ihn getötet hat – er wurde in die Brust geschossen. Im Gespräch sagt sie, dass sie froh war, zu diesem Zeitpunkt bereits Teil eines Netzwerks gewesen zu sein, das ihr die Unterstützung zukommen ließ, die sie brauchte. Die zierliche Frau aus Queimados ist eines der Gründungsmitglieder des Fórum Grita Baixada, eines Netzwerks aus verschiedenen Organisationen in der Baixada Fluminense, das sich für die Kartierung und Aufarbeitung des gewaltsamen Verschwindenlassens einsetzt und die Angehörigen der Opfer unterstützt. Renata sagt, für sie gehe es dabei aber um mehr: „Ich mache das nicht um meiner selbst willen, sondern damit andere Mütter nicht dasselbe durchmachen müssen. Und auch, um ihnen zu zeigen, dass, es sich lohnt, mutig zu sein und erhobenen Hauptes für eine bessere Gesellschaft kämpfen.“
Auch Joseane Martins, bei vielen besser bekannt als Jô, wurde durch den gewaltsamen Tod ihres ersten Sohnes Daniel 2018 zur Aktivistin. 2022 verlor sie ihren zweiten Sohn Davi. Im Film Desova wird seine Beerdigung gezeigt. Jô erklärt, wieso sie sich dazu bereit erklärt hat, diesen schmerzhaften und sehr persönlichen Moment zu zeigen: „Ich wollte, denen, die nicht beerdigt wurden, denen, die keinen Abschied hatten, eine Stimme geben, sie sichtbar machen. Den Müttern, die mit unbeantworteten Fragen leben müssen: Wo ist er? Wie geht es ihm? Ich habe diesen Schlusspunkt an Davis Leben setzen können. Ich konnte mich von meinen beiden Söhnen immerhin verabschieden. Als ich mich entschieden habe die Beerdigung filmen zu lassen, da habe nicht ich gesprochen, sondern das Herz einer Mutter.“
Desova macht auf die Missstände in der Baixada Fluminense aufmerksam
Für Filmemacher Gabriel Barbosa, der sich in seinen Dokumentarfilmen mit den Themen Rassismus und dem Recht auf Erinnerung auseinandersetzt, war es wichtig, im Film Desova Missstände in der Baixada sichtbar zu machen und den Menschen, die in der Baixada leben, eine Stimme zu geben. Dabei betont er, wie wichtig die Protagonist*innen für den Film gewesen sind, sie haben „ihm einen Puls gegeben“, indem sie ihre eigene Vision mit eingebracht haben – sie versuchen, den Schmerz, den sie fühlen, „durch Kunsttherapie und sozialen Kampf in etwas anderes zu verwandeln“. Der Film ist im ständigen Dialog mit sozialen Bewegungen in der Baixada Fluminense entstanden.
Proportional verschwinden mehr Menschen in der Baixada Fluminense als in Rio
Die Baixada Fluminense, wo immerhin drei Millionen Menschen leben, steht oft im Schatten der Großstadt Rio de Janeiros, wenn es um Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit geht. Die Gewaltstatistik für den Bundesstaat Rio zeigt, dass pro 100.000 Einwohner mehr Menschen in der Baixada Fluminense getötet werden oder verschwinden als in der Hauptstadt Rio selbst. Adriano Moreira de Araújo koordiniert seit 2017 das Netzwerk Fórum Grita Baixada, das sich aktiv für die Kartierung von vermissten Personen und gegen das gewaltsame Verschwindenlassen in der Baixada Fluminense einsetzt. Dabei versucht das Netzwerk, Geschichten von vermissten Personen zu sammeln und die Fälle zu rekonstruieren, um besser zu verstehen, wie dieses Phänomen zustande kommt. Moreira de Araújo erklärt, dass sie dabei auch versuchen, Beweispunkte wie „geheime Friedhöfe, Orte an denen Leichen, Überreste, Knochen usw. entsorgt werden, zu kartieren“ und sie versuchen, die Techniken zu identifizieren, mit denen man Leichen verschwinden lassen kann.
Offizielle Zahlen zum gewaltsamen Verschwindenlassen fehlen
Zusätzlich erschwert wird ihre Arbeit dadurch, dass es keine offiziellen Zahlen zum gewaltsamen Verschwindenlassen in Brasilien gibt, denn in der brasilianischen Justiz gilt das gewaltsame Verschwindenlassen nicht als Straftatbestand. In der offiziellen Statistik werden alle Arten des Verschwindens aufgezählt, ohne zu unterscheiden, wer freiwillig oder unfreiwillig verschwunden ist, wie Professorin der Sozialwissenschaften Nalayne Mendonça Pinto erklärt. Sie sagt weiter: „Bei unseren Nachforschungen haben wir in vier Jahren etwa 380 Fälle herausgefiltert. Aber es ist eine schwierige Methodik, weil es keine Daten gibt, und es gibt auch viele Fälle, die aus Angst vor der Polizei nicht gemeldet werden.“
Brasilien ratifizierte 2011 die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen
Brasilien hat 2011 die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen unterzeichnet und ratifiziert – weigerte sich jedoch, eine von den UN geleitete Beschwerdestelle anzuerkennen, die von bzw. im Namen von Opfern oder Staaten genutzt werden kann, wenn staatliche Behörden ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sind. 2013 wurde dem brasilianischen Kongress ein Gesetz vorgelegt, das die Einführung des gewaltsamen Verschwindenlassens einer Person als eigene Kategorie vorgesehen hat, doch bisher ohne Erfolg, wie Adriano Moreira de Araújo ausführt: „Es gibt einen Gesetzesentwurf, der seit Jahren als dringlich gekennzeichnet im Kongress liegt und bis heute nicht verabschiedet wurde. Wir hoffen also, dass unsere Anwesenheit hier für Aufmerksamkeit in Brasilien sorgen wird. Wir haben eine scheinbar fortschrittliche Regierung, und gleichzeitig fällt es dieser schwer, das Thema vorrangig und relevant zu behandeln.“
Schusswaffen bei Polizeieinsätzen nur das „letzte Mittel der Wahl“, laut neuem Dekret
Untätig war Präsident Lula in den letzten Jahren nicht – die offiziellen Zahlen der Tötungsdelikte Rio de Janeiros zeigen einen merklichen Rückgang. Ende 2024 hat das brasilianische Ministerium für Justiz und öffentliche Sicherheit ein Dekret veröffentlicht, das die Anwendung von Gewalt bei Polizeieinsätzen regelt. Die von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva unterzeichnete Maßnahme legt Leitlinien für den schrittweisen Einsatz von Waffen fest, um Polizeigewalt in ganz Brasilien zu verringern. Dem Dekret zufolge darf der Einsatz von Schusswaffen nur das „letztes Mittel der Wahl“ sein. Waffen dürfen also nur dann eingesetzt werden, wenn andere Mittel von geringerer Intensität nicht ausreichen, um die angestrebten rechtlichen Ziele zu erreichen. Der Text legt auch fest, dass die Polizei bei ihren Maßnahmen keine Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Ethnie, sexuellen Orientierung, Sprache, Religion oder politischen Meinung diskriminieren darf.
Die Polizeikultur in Brasilien ist von Gewalt geprägt und braucht einen Wandel
Für Professorin Nalayne Mendonça Pinto ist klar, dass sich dafür auch die Polizeikultur ändern muss, und das wird ihrer Meinung nach nicht einfach umzusetzen. Die Sozialwissenschaftlerin hat Umfragen mit Polizisten durchgeführt und diese gefragt, wo sie lernen, Polizist zu sein. Sie berichtet, dass die meisten nach mehreren Gesprächen zugaben, dass sie dies „auf der Straße lernten, in der Praxis“, daran werde deutlich, dass sie keinen Wert auf die Ausbildung an sich legten und es auch keine Frage des Gehalts sei, das in den letzten Jahren angehoben wurde, trotzdem zeigen die Gewaltstatistiken noch keinen Rückgang der Polizeigewalt. Deshalb, meint Mendonça Pinto, sei es viel mehr eine Frage der Verankerung der Gewalt in der brasilianischen Polizeikultur. Sie führt weiter aus, dass die Gewalt auch Teil der brasilianischen Geschichte ist: „Der Kolonialismus in Brasilien, der die „indigene Bevölkerung ausgelöscht hat, das sind fast 400 Jahre Sklaverei mit viel Gewalt. Brasilien ist von einer Kultur der Gewalt, einer Kultur der Ausrottung geprägt.“
Auch Renata Aguiar hofft auf einen Wandel. Sie wünscht sich mehr staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Gewalt: „Statt dass die Militärfahrzeuge in die Favelas eindringen und um sich zu schießen, erwarte ich, dass den Gemeinden mehr Bildung und Lebensqualität zuteilwird. Ich glaube, dass die hohe Gewaltrate dann niedriger wäre.“
Das gewaltsame Verschwindenlassen auf internationalen Leinwänden
2024 kam der mittlerweile international bekannte Film „Ainda Estou Aqui“ – „Für immer hier“ in die Kinos. In dem Film geht es um das gewaltsame Verschwinden während der brasilianischen Militärdiktatur. Der Film gewann 2025 sogar den Preis für den besten internationalen Spielfilm bei der Verleihung der 97. Oscars. Filmemacher Gabriel hofft durch den Erfolg des Films auf eine breitere Diskussion des Themas in der brasilianischen Öffentlichkeit; zugleich stelle für viele Menschen die erste Berührung mit dem brasilianischen Kino dar. Im Film wird dasselbe Thema wie in Desova behandelt, nur zu einer anderen Zeit, in anderen sozialen Schichten und in einem anderen sozialen Kontext. Gabriel hofft, dass durch die Wirkung des international bekannten Films nun auch die Aufmerksamkeit auf die Probleme in der Baixada Fluminense gerichtet werden könne. Es sei eine Gelegenheit, ein aktuelles Thema „in einem unsichtbaren Gebiet sichtbar“ zu machen. Für Jô und alle Beteiligten ist klar, sie kämpfen weiter, komme was wolle: „Ich werde den ganzen Weg gehen, bis ich nicht mehr reden kann. Bis dahin habe ich die Absicht, zu kämpfen, für Gerechtigkeit und Erinnerung. Nicht nur für meine beiden Kinder, sondern für alle Jugendlichen, alle Menschen, Frauen, Männer, die verschwunden sind und für die Frauen, die ermordet werden, von denen es viele gibt. Es ist ein Kampf für die Menschenrechte.“
Hier findet ihr einen Audiobeitrag zum Artikel:
DESOVA von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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