„Das Vertrauen der Menschen in die Institutionen nimmt ab.“

(Rio de Janeiro, 19. Juni 2023, IHU Unisonos).- Nach wie vor gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, was der Juni 2013 – die Protestwelle, die vor zehn Jahren im Land stattfand – bedeutete und welche Folgen er hatte. „Das Gefühl der Trennung zwischen den sogenannten repräsentativen Institutionen und dem Volk hat sich vergrößert“, sagt Igor Mendes im Interview mit dem Instituto Humanitas Unisinos – IHU. Mendes zufolge hat es im letzten Jahrzehnt eine wiederkehrende „Empörung gegen das offizielle politische System gegeben, ein starkes Gefühl, sich von diesem nicht vertreten zu fühlen“. Vertrauen in die Institutionen? Warum? „Zwei Jahre nach dem tödlichsten Polizeieinsatz der Geschichte in der Favela Jacarezinho ist kein Polizist bestraft worden. Wie können wir den Familien der Opfer sagen, dass sie ‚auf die Justiz‘ oder auf die Gesetze vertrauen sollen?“, fragt Igor Mendes. Im Juni 2013 wurde er zusammen mit 23 anderen Teilnehmenden der Proteste vom von der Justiz von Rio de Janeiro wegen Verbrechen wie Bandenbildung, Sachbeschädigung, Körperverletzung und Korruption von Minderjährigen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. In seinem Buch „A pequena prisão“ (Das kleine Gefängnis) erzählt er von seinen Erfahrungen im Gefängnis in Bangu. In zwei weiteren Werken – „Essa indescribível liberdade“ (Diese unbeschreibliche Freiheit) und „Junho Febril“ (Fieberhafter Juni), seinem neuesten Buch, thematisiert Mendes die Demonstrationen von 2013 aus der Perspektive von Jugendlichen aus der Peripherie.

IUH: Wie interpretieren Sie den Juni 2013 zehn Jahre später und im Lichte der politischen Ereignisse des letzten Jahrzehnts?

Igor Mendes – Der Juni 2013 ist ein Schlüsselereignis in der jüngeren Geschichte des Landes, ein Wendepunkt, der die noch andauernde Krisenzeit der neuen Republik einleitet. Deshalb glaube ich, dass man sagen kann, dass wir immer noch unter der Ägide dieses Juni 2013 leben.

Was sagen Ihre Recherchen zu den Ereignissen von 2013 über die Geschehnisse im Land zu diesem Zeitpunkt aus?

Ein Ereignis von derartiger Bedeutung und beispiellosem Ausmaß (denn Proteste dieses Formats, so radikal und landesweit, waren beispiellos in unserer Geschichte) kann nicht durch einen einzigen Faktor erklärt werden. Es war wie ein Flugzeugabsturz, der durch das Aufeinanderprallen von Widersprüchen zustande kam. Um die Wucht der Empörung im Juni 2013 zu verstehen, muss man sich den internationalen Kontext vor Augen führen, den Ausbruch verschiedener Massenbewegungen, die zu diesem Zeitpunkt vor allem in Ländern an der Peripherie des Kapitalismus entstanden, wie Ägypten, die Türkei und Griechenland. Im Fall von Brasilien ist es sehr wichtig, Ereignisse mit weitreichenden Auswirkungen in ihrer Gesamtheit zu sehen: Zwangsräumungen, die ganze Gemeinden zugunsten der Interessen von Immobilienspekulanten entwurzelt haben, der Anstieg der Lebenshaltungskosten und die Auswirkungen großer Bauvorhaben, von denen ein Teil nicht einmal fertiggestellt wurde, das chronische Problem der öffentlichen Verkehrsmittel, das von Zeit zu Zeit in mehreren Städten zu Protesten der Bevölkerung geführt hat, die Frustration über eine so genannte fortschrittliche Regierung, die jedoch im Namen der „Regierbarkeit“ nur die immergleichen Privilegierten schützt, dazu die explodierende Zahl der Inhaftierten und die Intensivierung des sogenannten „Kriegs gegen die Drogen“. Und was auf jeden Fall besonders war an diesen Protesten, war die brutale polizeiliche Repression gegen die Demonstrierenden, die ihren Höhepunkt in der Aktion auf der Avenida Paulista am 13. Juni fand [bei dieser Demonstration wurden Hunderte Menschen verletzt und weitere hunderte verhaftet]. Die Ereignisse verursachten einen enormen Aufruhr und waren wegweisend für künftige Ereignisse.

Hat die Hermeneutik der parteipolitischen Linken im Juni 2013 in gewissem Maße zur Abkühlung der Demonstrationen und zur Entstehung neuer politischer Führungen im Laufe des Jahrzehnts beigetragen?

Das Jahr 2013 war eine im Wesentlichen politische Bewegung, die mit dem gesamten Spektrum der offiziellen Politik kollidierte. Wenn wir die damaligen Zeitungen und die Fernsehnachrichten lesen, werden wir feststellen, dass es zumindest bis zum 20. Juni einen Konsens der Presseberichterstattung gab, die Proteste der „Vandalen“ und die Straßenblockaden zu verurteilen, beschränkten sie doch das Recht „zu kommen und zu gehen“. Dabei war es eigentlich nur das Recht, mit dem Auto zu kommen und zu gehen, denn der Kampf gegen die Tariferhöhung die Erhöhung der Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel zielte darauf ab, auch das Recht der ärmsten Menschen auf Kommen und Gehen zu verteidigen. Die Ansicht, […] dass „diese Randalierer aus der Mittelschicht keine 20 Cent wert sind“, wurde und wird auch heute noch von der institutionalisierten Linken geteilt, die an der Regierung war. Die renommierte Philosophieprofessorin Marilena Chaui sagte damals in einer Rede vor der Militärpolizei von Rio, der „Schwarze Block“ habe „mit faschistischer Inspiration gehandelt“. Stellen Sie sich vor, diese Worte werden an eine Institution gerichtet, deren tägliche Praxis die Ausrottung armer Jugendlicher in den Favelas ist! Und das ist noch perverser, wenn man bedenkt, dass sie nicht zu Intellektuellen sprach, sondern zu denjenigen, die den Abzug betätigen, das heißt, sie rechtfertigte die Polizeirepression ganz direkt. Für alle diese Intellektuellen ist Politik nur das, was in der offiziellen Sphäre geschieht. Selbst ihre Auffassung von der „Arbeiterklasse“ beschränkt sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf die am besten organisierten und heute in der Minderheit befindlichen Sektoren der Erwerbstätigen, wie Beamte, Facharbeiter usw. Eine ganze Masse arbeitsloser, obdachloser, halbproletarischer junger Menschen, die nicht gewerkschaftlich organisiert ist, keiner Partei angehört und sich von keiner Partei vertreten fühlt, die eine Art unsichtbare Mehrheit bildet, steht am Rande der öffentlichen Debatte, ich würde sagen, am Rande der Ordnung, die mit der Verfassung von 1988 eingeführt wurde, und sie hat keine Verbindung zu ihren Institutionen. Das Jahr 2013 war eine Bewegung dieser Menschen, die verlangten, wahrgenommen zu werden. Und diese Bewegung war nicht antipolitisch, sondern das genaue Gegenteil, und eins der seltenen Ereignisse dieser Art, da sie nicht von den herrschenden Klassen vereinnahmt wurden.

Einer der Kritikpunkte an Demonstrationen wie 2013 ist, dass sie außerhalb der parteipolitischen Sphäre organisiert werden und daher keine konkreten Veränderungen in der Parteipolitik bewirken. Wie bewerten Sie diese Art von Kritik? Welche praktischen Konsequenzen hat der Juni 2013 heute, was die politische Organisation, das Auftreten neuer Führungspersönlichkeiten und die Entwicklung neuer sozialer Agenden angeht?

2013 wurde nicht versucht, die Parteipolitik zu reformieren. Wenn ich mich nicht irre, war es Dilma [Rousseff], die in einer Erklärung vom 23. Juni eine „politische Reform“ vorschlug, die aber nie durchgeführt wurde. Ich halte es für einen absoluten Fehler, Politik auf offizielle Parteipolitik zu beschränken (die im Übrigen gegen die Interessen und die Beteiligung des Volkes gerichtet ist). Diese einseitige Identifizierung der Politik mit den staatlichen Institutionen ist eins der deutlichsten Symptome für die ideologische Fäulnis einer bestimmten brasilianischen Linken, die vor dem Liberalismus kapituliert hat. Im Gegensatz zu anderen sozialen Bewegungen der letzten Zeit, wie Fora Collor [„Collor raus“, eine Kampagne gegen Ex-Präsident Fernando Affonso Collor de Mello aufgrund von Korruptionsvorwürfen] oder den Demonstrationen für die Amtsenthebung von Ex-Präsidentin Dilma [im Jahr 2016] wurde im Juni 2013 kein Abgeordneter gewählt und auch keine Bewegung mit diesem Namen gegründet. Die Nichtintegration stellt keine Schwäche dar. Im Gegenteil, es ist eine der Stärken des Juni 2013 und sein beispielloses Merkmal, exklusiv eine Bewegung des revoltierenden Volkes zu sein. Die Szenen der Revolte vor dem Gebäude der gesetzgebenden Versammlung von Rio de Janeiro am 17. Juni, als die Demonstrierenden 30 Polizisten angriffen und das Gebäude fast in Brand setzten, quasi als Antwort auf die jahrzehntelange Repression,  illustrieren dies gut. Wenn man will, dass sich diese ausgegrenzte Bevölkerung (die tagtäglich unter den Missständen einer gnadenlos ungleichen Gesellschaft leidet) in geordneter und friedlicher Weise äußert, dann will man in Wirklichkeit nicht, dass sie sich äußert. Die Folgen der Demonstrationen vom Juni 2013? Was die praktischen Folgen betrifft, so haben die Demonstrationen des Jahres 2013  die gesamte brasilianische Gesellschaft erschüttert. Denken wir zum Beispiel an die Proteste mit Barrikaden und Straßensperren, die seitdem weitverbreitet sind; an die Politisierung der Gesellschaft, die begann, beim Sonntagsessen über politische Themen zu debattieren; an die Stadtmauern, die mit Graffiti und anderen künstlerischen Statements verziert wurden, mit Forderungen, mit Protestäußerungen. Im Jahr 2013 stieg die Zahl der Streiks im Vergleich zu den Vorjahren sprunghaft an, weil sich die Arbeitnehmerschaft durch die Jugend auf den Straßen ermutigt fühlte, die alten bürokratisierten Gewerkschaftsführungen zu stürzen. Ein anschauliches Beispiel dafür war der Streik der Müllabfuhr während des Karnevals 2014 in Rio de Janeiro. Im Jahr 2015 besetzten Gymnasiasten die Gebäude mehrerer Schulen im ganzen Land. Nachbarschaftsversammlungen und sogar eine Wiederbelebung öffentlicher Plätze als Raum für kulturelle Produktion und politischen Kampf fanden wieder statt. Neulich wurde ich Zeuge des Widerstands gegen eine Enteignung in Rondônia, bei dem die Landbevölkerung Schilde gegen die Stoßtrupps einsetzte. Der Kampf der Obdachlosen hat seitdem ein Echo gefunden, das er vorher nicht hatte. All diese Beispiele der politischen Mobilisierung und Aktion aus der Perspektive der Bevölkerung sind Folgen der Demonstrationen vom Juni 2013, die als Junitage bekannt wurden.

Zu den Forderungen des Jahres 2013 gehörten eine Senkung der Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel und die Verbesserung der öffentlichen Gesundheits- und Bildungsdienste. Wie ist die Situation im Land heute in Bezug auf diese Themen?

Was die Preise und die Situation im Verkehrswesen sowie die öffentlichen Dienstleistungen wie Gesundheit und Bildung angeht, stehen wir heute schlechter da als 2013.

Welche Gefühle haben die Demonstrationen vom Juni 2013 beeinflusst, und wie fühlt sich die Gesellschaft heute, ein Jahrzehnt später?

Ich denke, ich habe diese Frage bereits beantwortet. Nochmal in Kurzform: Empörung gegen das offizielle politische System, ein starkes Gefühl, sich von diesem nicht vertreten zu fühlen. Dies mit der extremen Rechten in Verbindung zu bringen, wie es die sozialdemokratischen Sektoren tun, ist ein Fehler, denn damit überlässt man der extremen Rechten das Monopol der Kritik an Institutionen, die stark aristokratisch geprägt sind, die Repressionen gegen die Volksschichten ausüben und aus diesem Grund von diesen zu Recht diskreditiert werden. Zwei Jahre nach dem tödlichsten Polizeieinsatz der Geschichte in der Favela Jacarezinho ist noch immer kein Polizist bestraft worden. Wie kann man den Familien der Opfer sagen, sie sollen „auf die Justiz“ oder das Gesetz vertrauen?

Zehn Jahre später kehrt die Arbeiterpartei in die Präsidentschaft der Republik zurück. Was sind die Erwartungen in politischer Hinsicht, aber auch in Bezug auf soziale Forderungen?

Viele Menschen haben 2013 oder sogar davor mit der Arbeiterpartei gebrochen. Die Möglichkeit, Bolsonaro abzuwählen, hat sie dazu veranlasst, sie 2022 wieder zu unterstützen. Für die Arbeiterpartei und für Lula persönlich ist dieses pragmatische, personalistische und sogar korrupte Modell der Verhandlungen zwischen der Exekutive und der Legislative – von ihren Ideologen hochtrabend „Regierbarkeit“ genannt – der richtige und sogar der einzige Weg, Politik zu machen. Daher werden die gleichen Wege zu den gleichen Ergebnissen führen, mit einem Vorbehalt: 2023 ist nicht 2013, denn die Gesellschaft als Ganzes ist heute viel stärker mobilisiert, und die „Bolsonaro-Drohung“ wird nicht ewig ein sicheres Ventil für Frustrationen und Enttäuschungen sein, insbesondere angesichts seiner bevorstehenden Nichtwählbarkeit [Bolsonaros]. Daher können wir in den kommenden Jahren eine enorme Intensivierung der Auseinandersetzungen erwarten.

Übersetzung: Fabiana Raslan

 

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