(28. April 2018, ruptura).- „Wie schafft man es nicht faschistisch zu werden, (vor allem) wenn man sich für einen revolutionären Aktivisten hält?“ Der Satz von Michel Foucault beschreibt auf perfekte Art und Weise den Prozess, den Nicaragua erleidet.
Die Regierung unter Daniel Ortega und Rosario Murillo hat das Sozialsystem reformiert, das unter anderem eine Kürzung der Renten um fünf Prozent vorsieht, um die Kassen des Nicaraguanischen Instituts für Sozialversicherung INSS (Instituto Nicaragüense de Seguridad Social) wieder aufzufüllen und so der Empfehlung des Internationalen Währungsfonds zu folgen. Die ökonomische Situation hat sich durch die venezolanische Krise verschlimmert und die Bevölkerung muss für die entstandenen Schäden bezahlen.
Die Regierung ist patriarchal, ausschließend und frauenfeindlich
Wie bereits bekannt ist, hat die staatliche Repression in gerade mal vier Tagen 25 bis 30 Todesopfer gefordert. Die feministische Organisation Articulación Feminista Nicaragüense erläutert den Charakter der Repression: „Gegen junge Studierende und ihre aktiven Unterstützer*innen werden Einheiten der Aufstandsbekämpfung der Nationalen Polizei zusammen mit paramilitärischen Kräften, bestehend aus jungen Menschen, die vermutlich in der sogenannten Sandinistischen Jugend organisiert sind, eingesetzt“. Und sie erzählen weiter: „Die meisten Toten fielen den Kugeln der Aufstandsbekämpfungseinheiten zum Opfer, die die Paramilitärs schützen. Die Regierung schloss zeitweise die wenigen noch bestehenden unabhängigen Medien.“ Die Feministinnen sagen außerdem, dass die nun elfjährige Regierung patriarchal, ausschließend und frauenfeindlich ist.
Was wir herausfinden müssen, ist, wie es zu dieser Situation gekommen ist. Wie ist es möglich, dass eine revolutionäre politische Kraft und Führungspersönlichkeiten, die die Sandinistische Nationale Befreiungsfront FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional) mit aufgebaut haben, zu Mördern ihrer eigenen Bevölkerung werden? Ich denke, dass diese Krise zumindest vier Aspekte beleuchtet:
Das ist nicht das erste Mal
Der erste Aspekt besteht darin, sich im Klaren darüber zu sein, dass es nicht das erste Mal ist, das so etwas mit den revolutionäre Bewegungen geschieht, die an die Macht kommen. Das war der Fall in der stalinistischen Sowjetunion, aber auch bei der grausamen Partei und Guerilla Leuchtender Pfad (Sendero Luminoso) in Peru und der salvadorianischen Guerilla ERP (Ejército Revolucionario del Pueblo), die ihren Genossen Roque Dalton wegen Meinungsverschiedenheiten hingerichtet und den Mord an der Kommandantin Ana María organisiert hat. Unbequeme Angelegenheiten über die man nicht reden mag und noch weniger aus ihnen lernen möchte.
Die herrschende Linke schweigt
Der zweite Aspekt ist, dass das Ehepaar Ortega-Murillo Verbrechen begangen hat, ohne dass die herrschende Linke ein Wort darüber verloren hätte, weil es für sie allein darum geht die Macht zu erhalten, um jeden Preis. Als die Tochter von Murillo und die Stieftochter von Ortega, Zoilamérica Narváez, Ortega 1998 wegen sexuellem Missbrauch angezeigt hatte, verhielten sich die Mitgliederparteien des linkspolitischen und länderübergreifenden Forum von São Paulo ruhig und stellten die Unschuld des Angeklagten noch nicht einmal infrage. Als die derzeitige Vizepräsidentin von Nicaragua, die Herrin der Ringe und Klunker, ihren Ehemann gegen ihre Tochter verteidigt hat, um ihre Macht zu stärken, schaute die Linke weg. Es wurde auch keine Stimme erhoben, als Ortega 1998 einen Pakt mit dem Rechten Arnoldo Alemán unterzeichnete, um das Land unter sich aufzuteilen und ihre Reichtümer zu sichern. Nie wurde die Allianz mit der wirtschaftlichen Macht öffentlich verurteilt, auch nicht die skandalöse Korruption in den oberen Etagen der FSLN oder die Drohungen gegen linke Oppositionelle, die die eigentlichen Sandinisten sind und die Clique von Ortega und Murillo als Verräter*innen betrachten.
Was ist das für ein Regime?
Eine der wahrscheinlich erhellendsten Analysen über den Verfall der Regierung hat Mónica Baltodano verfasst, die unter dem Titel „Was ist das für ein Regime? Welche Mutationen hat die FSLN durchgemacht um dahin zu kommen wo sie heute ist?“ im Januar 2014 in der Zeitschrift Envío erschienen ist. Die ehemalige Guerilla-Kommandantin geht auf vier Mutationen des Ortegismus ein, die das aktuelle Abdriften erklären: An erster Stelle hat sich -wie nie zuvor- ein politisches und wirtschaftliches Regime etabliert, das gegen die Armen und zu Gunsten der Konzentration von Reichtum und Macht agiert. An zweiter Stelle hat sich das Land der globale Logik des Kapitals unterworfen, das sich die natürlichen Ressourcen und die günstige Arbeitskraft in Nicaragua zu Nutze macht. Drittens muss sich das aktuelle ökonomisch-soziale System der sozialen Widerstände entledigen und das Ortega-Regime erreicht dies durch eine strenge soziale Kontrolle. Und viertens ist die Machtkonzentration der Ortega-Murillo-Clique für das Abdriften verantwortlich.
Die Privatisierung durch die FSLN (1990, kurz vor ihrer Abwahl, Anm.d.Ü.) war ein Prozess, der sich vor der Schaffung der wirtschaftlichen Oligarchie der Frente Sandinista entwickelte, was dazu führte, dass eine absolute Kontrolle der wichtigsten Einrichtungen des Landes und damit eine Machtkonzentration ermöglicht wurde, die sich über Jahre an der Spitze des Staates reproduziert, behauptet und festgesetzt hat. Baltodano hält fest, dass es sich um eine Symbiose der Ortega-Regierung mit den nicaraguanischen Wirtschaftseliten handelt – zwischen dem traditionellen Bürgertum und dem aufstrebenden rot-schwarzen (FSLN-Farben, Anm.d.Ü.) Bürgertum.
Politische und ethische Armut
Der dritte Aspekt, den die nicaraguanische Krise beleuchtet, ist die Entblößung der ethischen und politischen Armut der Linken. Mehr noch als Armut, eine richtiggehende Zersetzung. Es gibt noch Intellektuelle (Söldner*innen, wie ein alter aktiver Kommunist sie nennt), die weiterhin die imperialistischen Interventionen in Nicaragua als Grund angeben, um die Verbrechen zu rechtfertigen. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass die USA die jungen Nicaraguaner*innen ermutigt, Ortega zu stürzen. Aber das hat nicht die geringste Bedeutung, denn wir haben nicht die Absicht geopolitisches Schach zu spielen, sondern das Leben der Bevölkerung zu verteidigen, jenes Leben, dass die Regierung in Managua zerstört.
Widerstand leisten ohne zu Verbrecher*innen zu werden
Der vierte Aspekt besteht darin, dass wir hart daran arbeiten müssen, um mit einem Dilemma zu brechen: Die Politik als Krieg zu verstehen, wie Clausewitz sagte und Lenin übereinstimmte. Der Krieg besteht in der Niederlage und Zerstörung des Feindes, mit oder ohne Waffen. Ich denke wir müssen uns gegen Feinde verteidigen, sogar mit Waffen. Aber die Politik mit Krieg zu untermauern (mit militärischen Strategien) ist ein Weg, der den Kampf für die Emanzipation in einen tiefen Abgrund führt. Wir sind mit dieser Tradition aufgewachsen, aber es ist Zeit sie zu überdenken.
Wenn die jungen Nicaraguaner*innen schreien „Ortega und Somoza sind ein und das selbe“, ist es, weil das Ziel, um der Macht willen, verloren gegangen ist. Uns bleiben die Beispiele der Zapatist*innen und Kurd*innen, die Widerstand leisten ohne zu Verbrecher*innen zu werden.
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Ihr schreibt: „Die Regierung unter Daniel Ortega und Rosario Murillo hat das Sozialsystem reformiert, das unter anderem eine Kürzung der Renten um fünf Prozent vorsieht, um die Kassen des Nicaraguanischen Instituts für Sozialversicherung INSS (Instituto Nicaragüense de Seguridad Social) wieder aufzufüllen und so der Empfehlung des Internationalen Währungsfonds zu folgen. Die ökonomische Situation hat sich durch die venezolanische Krise verschlimmert und die Bevölkerung muss für die entstandenen Schäden bezahlen.“
Die MillionenHilfe aus VEN wurde veruntreut. Genauso gibt es neben der strukturellen Krise des INSS auch dort enormen Missbrauch. Und: die Proteste wurden durch den Brand in der Regenwaldreservation Indio Maíz und die INSS-„Reform“ zwar ausgelöst, haben jetzt aber fast nichts mehr damit zu tun.