Welche Hoffnungen knüpft die Linke an den Verfassungskonvent?

(Berlin, 25. November 2021, npla).- In den wenigen Wochen seit den Wahlen am 21. November hat sich die politische Situation in Chile verändert. Die Massendemonstrationen der letzten Monate, die Rückeroberung des öffentlichen Raums, die Besetzung der Plaza Dignidad, die Wahl des Verfassungskonvents und auch einige andere vorangegangene Wahlen hatten große Hoffnungen geweckt. Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen herrscht Ernüchterung: Die Ultrarechten befinden sich bedrohlich auf dem Vormarsch. Bei einer Stichwahl am 19. Dezember wird der rechtsextreme Kandidat José Antonio Kast gegen den linken Aktivisten Gabriel Boric antreten. Wir möchten die Erfahrungen des Volksaufstands und der verfassungsgebenden Versammlung rekapitulieren und schauen, inwieweit die Rückbesinnung auf den Geist der Allianz eine tragfähige Strategie für diesen zweiten Wahlgang ist.

Ernüchterndes Ergebnis der Präsidentschaftswahl

Am 18. Oktober 2021 jährte sich der Volksaufstand in Chile zum zweiten Mal. Hunderttausende Menschen kamen in verschiedenen Teilen des Landes zum Gedenken an den Beginn des Estallido social zusammen; allein in Santiago de Chile gingen 200.000 Menschen auf die Straße. Am selben Tag nahm die verfassungsgebende Versammlung ihre Arbeit auf und begann mit der inhaltlichen Diskussion über die künftigen Verfassungsnormen. Die Ausarbeitung ihrer Geschäftsordnung hatte sie in einer Rekordzeit von drei Monaten absolviert.

Die Präsidentschaftswahlen am 21. November boten ein enttäuschendes Ergebnis: Neben Gabriel Boric, der für die linke Parteienkoalition Apruebo Dignidad antrat, schaffte es auch Rechtsaußen-Kandidat José Antonio Kast in die zweite Runde. Um den rechtsextremen Kandidaten zu besiegen, bedürfe es einer breiten linken Allianz, betonte Camila Vallejo, ehemalige Aktivistin der Student*innenbewegung und heutige Abgeordnete der Kommunistischen Partei, bei der Abschlussveranstaltung von Borics Wahlkampagne: „Wir gehen in die zweite Runde. Das wahrscheinlichste Ergebnis, auf das wir hoffen konnten, haben wir damit erreicht, und wir haben gute Chancen, unsere Position auszubauen. Die meisten Kandidaten streben tiefgreifende Veränderungen an: Das gilt für Provoste, Enriquez Ominami und sogar für Parisi. Ich glaube, unsere wichtigste Aufgabe besteht jetzt darin, diese Kräfte zu bündeln, ein Konzept für eine gesellschaftliche Umgestaltung zu entwickeln, das mehr soziale Gerechtigkeit garantiert und den Staat beim Schutz der Grundrechte in die Pflicht nimmt, und mit diesem Konzept gemeinsam nach außen zu gehen. Unser Gegner in diesem Wahlgang steht für eine rückwärtsgewandte Politik, er wünscht sich einen Polizeistaat, der die Menschen diskriminiert. Um dem etwas entgegenzusetzen, muss die Linke geeint auftreten, und daran müssen wir arbeiten: auf der Straße und in den Netzwerken“. Weniger optimistisch äußert sich der Sportler, Aktivist und Soziologe Pablo Yañez: „Es sieht schlecht aus. Ein Sieg von Boric könnte die Situation ein wenig besser machen, aber die Lage ist kompliziert. Falls er gewinnt, gibt es einfach unheimlich viel zu tun: die Organisierung in den einzelnen Gebieten, eine richtige, tiefergehende Politisierung, und sehr viel Nachholbedarf im Bereich der Bildung. Wir brauchen eine Bestandsaufnahme und dann entsprechende Maßnahmenpakete – das bedeutet sehr sehr viel Arbeit.“

„Die Menschen wollen einbezogen werden“

Welche Bedeutung hat der Verfassungskonvent, und was hat er mit der rebellischen kämpferischen Atmosphäre zu tun, die immer noch auf den Straßen zu spüren ist? Um einen Einblick in die aktuellen Entwicklungen zu bekommen, sprach Radio Matraca mit verschiedenen Akteur*innen aus dem Umfeld des Konvents und mit Aktivist*innen der historischen Kämpfe, die die Aufbruchssituation überhaupt erst möglich gemacht haben.

„Die Menschen wollen mitmachen, sie wollen einbezogen werden, sie wollen die Kontrolle über das, was passiert“, meint Doris González. Sie leitet die Organisation Ukamau, die sich für das Recht auf Wohnen und das Recht auf Stadt einsetzt. „Wir haben viele Jahre lang alles gemacht, was möglich war, und uns den Kämpfen angeschlossen, die am 18. Oktober begannen. Wir verstehen uns als Teil dieser Neugestaltung. Die Aussicht auf eine neuen Verfassung hat hohe Erwartungen geweckt, und wir hoffen, dass diese nun erfüllt werden.“

Max Telias ist Sozialarbeiter und studiert Soziologie in Berlin. „Der soziale Aufbruch vor zwei Jahren hatte umstürzlerisches Potential. Der Verfassungskonvent arbeitet am Aufbau einer neuen gesellschaftspolitischen Ordnung. Das ist offensichtlich nicht das gleiche; daher dauern die Demonstrationen auch nach zwei Jahren noch an. Dieser Aufbruch ist Ausdruck eines Unbehagens, das sich an die Gesellschaft als Ganzes richtet. Und eine gesellschaftliche Dimension ist nun mal die Art und Weise, wie wir uns institutionell mit diesem Staat einlassen. […] Der Konvent will einen neuen Staat aufbauen, einen plurinationalen Staat, der wirklich anders ist und die Menschen mehr einbezieht. Aber die Unzufriedenheit sitzt tiefer.“

Kontrovers diskutiert: der Verfassungskonvent

Die Pandemie hatte seit ihrem Beginn im März 2020 in Chile eine deutliche Verlangsamung der tiefgreifenden Prozesse der Revolte und der sozialen Neuorganisation des Landes erzeugt. Nun, da die virale Situation besser unter Kontrolle ist, treten die Energie und Lebenskraft, die ein ganzes Land mobilisiert hat, um seine Rechte wiederzuerlangen, wieder mehr zu Tage. Wohl nicht mit der gleichen Intensität wie vor der Pandemie, aber mit der gleichen Stoßrichtung und mit konkreten Schritten. Die früheren Dynamiken und Triebkräfte haben ihren Platz in der neuen Normalität eingenommen. Die massive Präsenz auf den Straßen anlässlich dieses zweiten Jahrestags kam für viele dennoch überraschend. Nach Monaten ohne Massendemonstrationen hatte man nicht damit gerechnet, noch einmal die Stimmung der Oktobertage 2019 zu erleben. Die Bildung des Verfassungskonvents hatte ebenfalls dazu beigetragen, die Unzufriedenheit zu kanalisieren, die 2019 zu den Protesten geführt hatte. Dazu Pablo Yañez: „Ich glaube, das Ganze war so eine Art Glücksfall. Der Ärger über die enorme Ungleichheit in unserem Land erfasste auf einmal viele Menschen, die sich bis dahin mit der Situation arrangiert hatten. Dann hat die Politik die Idee des Verfassungskonvents aufgegriffen, und es ist gut gelaufen.“ Natürlich gibt es auch innerhalb der Linken abweichende Positionen, auch hinsichtlich des Verfassungskonvents. Kritiker*innen betrachten die Idee des Konvents als Ausweg, der die Energie des Volksaufstands zwar aufgreift, sie aber nicht hinreichend zusammenbringt. Dazu der in Berlin lebende Exilpolitiker Orlando Mardones: „Der Grundstein für den Verfassungskonvent wurde am 15. November gelegt: Die Bevölkerung wollte die Verhältnisse, so wie sie waren, nicht mehr hinnehmen. Ihre Selbstermächtigung brachte die politische Elite und die Regierung des Landes so zur Verzweiflung, dass sie sich verbündeten, um diesem „grausamen und unerbittlichen Feind“, wie unser Präsident die sozialen Bewegungen nannte, mit einem Abkommen entgegenzutreten, an dem dieser Feind nicht beteiligt sein sollte, obwohl er doch ein legitimer Gegenspieler war.“ Emiliano Salvo, Historiker und Berater des Verfassungskonvents, ist anderer Meinung: „In Chile gehen Veränderungsprozesse ihren ganz eigenen Weg. In den siebziger Jahren zur Zeit der Unidad Popular waren die Augen der ganzen Welt auf Chile gerichtet. Man war gespannt, wie sich das Experiment der sozialistischen Transformation durch eine demokratische Wahl entwickeln würde. Was heute in Chile passiert, ist etwas ganz Besonderes. Dieses Land drohte in einer Krise zu versinken, aus der es scheinbar keinen Ausweg gab. Doch irgendwie haben wir es geschafft, eine demokratische Lösung zu finden, und das ist der Verfassungskonvent. Ganz besonders ist auch die Zusammensetzung: 50 Prozent Männer, 50 Prozent Frauen, und für die Beteiligung der Indigenen sind extra Sitze reserviert. Darin zeigt sich, wie viel Wert die Chilenen auf eine demokratische Lösung ihrer Konflikte legen. Und anstatt uns zu verschanzen, setzen wir auf Transparenz und beziehen die Öffentlichkeit mit ein und lassen niemanden, wirklich niemanden außen vor.“ Auch Doris González zeigt sich optimistisch: „Die Ergebnisse der Wahl zum Verfassungskonvent sind vielversprechend und ermutigen vor allem diejenigen von uns, die für mehr Rechte, mehr Demokratie und mehr Mitsprache kämpfen. […] Die Mitglieder des Konvents haben eine wichtige Aufgabe: Wir brauchen mehr Raum für Reflexion und Auseinandersetzung mit den Gemeinschaften und sozialen Bewegungen, die auf der Straße gekämpft haben. Dass wir nun die Möglichkeit haben, über eine Verfassungsänderung zu diskutieren, verdanken wir keiner Abmachung zwischen politischen Parteien, sondern der Mobilisierung der Bevölkerung. Sie hat den Wandel möglich gemacht und Begegnungen herbeigeführt, aus denen die Cabildos entstanden sind: Diskussionsrunden im öffentlichen Raum. Mit der Pandemie kam diese Form des Austauschs ein bisschen zum Erliegen, aber die Cabildos bestehen trotzdem weiter.“ Der Verfassungskonvent spiegelt die politische Bandbreite der Gesellschaft mit ihren Kontroversen und Widersprüchen und wird in Zukunft wohl noch etliche Diskussionen führen müssen.

Ausblick

Was bringt die Zukunft? Was sind derzeit die größten Herausforderungen? Dazu Pablo Yañez: „Schwierige Frage. Die ganze Situation ist nicht ja auch nicht einfach. Es gibt verschiedene Aspekte, die dem Verfassungskonvent gefährlich werden könnten. Die Exekutive in diesem Land hat sehr viel Macht. Im Zweifelsfall wird die Reaktion der Gesellschaft wieder so explosiv ausfallen, denn das Dilemma besteht bereits, immerhin geht es hier um sehr viele Menschen. In den USA war es genauso: Trump hat die Wahl zwar verloren, aber trotzdem haben 60 Millionen Menschen für ihn gestimmt.“ Max Telias meint: „Der Verfassungskonvent muss sich zu einem institutionellen Gerüst entwickeln, das die unterschiedlichen Weltsichten berücksichtigt, die in den letzten 30 Jahren in den verschiedenen Gebieten entstanden und entstehen. Darüber erhält er seine Legitimation, und das ist wirklich eine Herausforderung.“ Pablo Yañez: „Jetzt kommt es wirklich darauf an, dass die Menschen aktiv werden und die Entwicklung mitbestimmen. Das ist auf jeden Fall das, was ich tun werde, ich will, dass über das Thema Sport und das Recht der Vereine diskutiert wird. Wir müssen uns Gedanken machen und auf den Konvent zugehen…“

Was tun? Unnachgiebig bleiben, nichts für gut befinden und am Ende verlieren? Oder eine Zukunft gestalten, in der Gerechtigkeit und gegenseitiger Respekt ihren festen Platz haben? Der Verfassungskonvent mag nicht perfekt sein, aber er ist ein greifbares und konkretes Ergebnis des Volksaufstands. Seine Arbeit besteht darin, die Spielregeln festzulegen für eine Zukunft, die der Rettung der menschlichen Spezies mehr Bedeutung beimisst als den Machtimperien. Ob dieser Weg der richtige ist, muss sich noch zeigen. Auch wie die Stichwahl am 19. Dezember ausgeht, ist heute nicht abzusehen. Fest steht hingegen, dass die verfassungsgebende Versammlung die Unterstützung der traditionellen progressiven Sektoren UND der neuen Aktivist*innen des estallido social gut gebrauchen kann. Auch um den Vormarsch der rechtsextremen konservativen Kräfte zu stoppen, ist die Bündelung aller progressiven Kräfte die wirksamste Strategie. Nur durch entschlossene Gegenwehr kann verhindert werden, dass die Ultrarechten die neue Regierung stellen.

Einen Matraca-Beitrag zu diesem Thema findest du hier.

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