(Oaxaca-Stadt, 18. Juli 2023, taz).- Logisch, die Medien sind schuld. Die hätten mit einer Kampagne bewusst ein Bild gezeichnet, nach dem der Bundesstaat Chiapas sehr unsicher sei, ließ der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador jüngst auf Twitter wissen. Klarer Fall: Alles Lüge, es geht uns eigentlich gut, aber da sind diese Journalist*innen, die das Land mit Dreck bewerfen. Und natürlich ihn.
De facto herrschen im Südosten des Landes seit über einem Jahr Zustände, die man ohne Übertreibung als bürgerkriegsähnlich bezeichnen kann. Tausende Bewohner*innen wurden aus ihren Dörfern vertrieben, Aktivist*innen ermordet, zahlreiche Regionen leiden alltäglich unter dem Terror der organisierten Kriminalität. Paramilitärs, die eng mit staatlichen Kräften zusammenarbeiten, greifen Gemeinden der rebellischen indigenen Zapatist*innen an.
Bewaffnete Banden selbst in San Cristóbal
Selbst in der Touristenhochburg San Cristóbal ziehen kriminelle Banden mit Waffen durch die Straßen. Nach Einschätzung der Menschenrechtsorganisation Fray Bartolomé de las Casas agieren in Chiapas gewaltsam bewaffnete Gruppen, um ihre soziale, politische, wirtschaftliche und territoriale Kontrolle unter anderem im Interesse der Widerstandsbekämpfung der Regierung durchzusetzen.
Davon will der linksnationalistische Präsident nichts wissen, nicht zuletzt, weil einige der örtlichen korrupten Machthaber in seiner Partei MoReNa sitzen. Gemeinhin betont López Obrador bei solchen Verlautbarungen, die Kampagnen hätten nur das Ziel, ihm zu schaden. Dafür war bei Twitter wohl kein Platz. Zur Erklärung seiner steilen These schrieb er dafür, Chiapas liege mit Blick auf die Mordzahlen pro 100.000 Einwohner*innen nur auf Platz 26 der 32 mexikanischen Bundesstaaten. Eine begrenzt überzeugende Erklärung.
Im restlichen Land sind die Mordzahlen noch höher
Ein Blick in die Nachrichten der letzten Woche geben ihm jedenfalls Recht. Am Montag überfielen mehrere maskierte Männer in der zentralmexikanischen Stadt Toluca eine Markthalle, erschossen neun Menschen, gossen Benzin aus und zündeten das Gebäude an. Am Dienstag starben sechs Menschen im westlichen Bundesstaat Jalisco durch Bomben, die am Straßenrand abgelegt wurden.
Ebenfalls Anfang der Woche (10./11. Juli) mobilisierte das kriminelle Kartell „Los Ardillos“, das beachtliche Teile des Bundesstaats Guerrero kontrolliert, 2.000 Menschen aus umliegenden Dörfern. Sie legten die Landeshauptstadt Chilpancingo lahm, um die Freilassung zweier ihrer Mitglieder durchzusetzen. Zuvor starben dort sechs Taxifahrer bei Kämpfen zwischen den „Ardillos“ und den „Tlacos“ – zwei von ihnen verbrannten in ihren Autos. Und so weiter.
Journalistische Arbeit ist lebensgefährlich
Sicher sind für López Obrador auch diese Geschichten Teil einer Kampagne von Journalist*innen. Etwa von Yener de los Santos, der immer wieder über die Ardillos schreibt und auch über die Vorfälle der vergangenen Woche berichtete. Für Kolleg*innen wie ihn ist ihre Arbeit lebensgefährlich. Im April brachen Unbekannte in Santos’ Wohnung ein und stahlen drei Fotoapparate, eine Videokamera und seinen Computer.
Erst im Juni wurde nahe Chilpancingo der Radiomoderator Pablo Salgado ermordet. Im Juli traf es in der Stadt Tepic im westlichen Bundesstaat Nayarit den Korrespondenten der Tageszeitung La Jornada, Luis Martín Sánchez. Man fand ihn gefesselt, mit Plastiksäcken bedeckt. Auf seiner Brust hatten die Täter eine Nachricht hinterlassen. Am Samstag, 15. Juli, wurde dann in Acapulco der Journalist Nelson Matus erschossen.
López Obradors Fähigkeiten, die Realität zu ignorieren und umzuschreiben, ist immer wieder beeindruckend. Es wäre schön, wenn man seine Geschichten nicht ernst nehmen müsste und als Realsatire abtun könnte. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Mehrheit der Bevölkerung will genau das hören. Bislang besteht jedenfalls kein Zweifel daran, dass der Kandidat oder die Kandidatin seiner Partei bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr als Sieger hervorgehen wird.
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