Die Krise der MAS

(La Paz, 7. August 2023, bolpress).- Die linke Partei Movimiento al Socialismo MAS (Bewegung zum Sozialismus), regiert Bolivien mit einem Jahr Ausnahme seit Ende 2005. Bis 2019 stellte Evo Morales den Präsidenten, nach einem Jahr unter einer rechten Regierung folgte Luis Arce. Inzwischen steckt die Partei MAS in einer tiefen Krise. Diese begann damit, dass sie ihre Berührungspunkte mit der Mittelschicht verlor, insbesondere mit der breiten Mittelschicht und derer mit indigenen Wurzeln. Beide haben schon mehrfach ihre Unterstützung für die MAS zurückgezogen.

Mit dem Verlust der Mittelschicht hat die MAS auch die politische Hegemonie verloren. Gleichzeitig sorgte diese Entwicklung auch dafür, dass die kulturelle Hegemonie der MAS unmöglich wurde, da auch deren führende Stimmen in Ländern wie Bolivien aus der Mittelschicht stammen. Den Wunsch nach einer kulturellen Hegemonie hatte die MAS ohnehin nur selten geäußert. Stattdessen fokussierte sie sich auf den demokratischen „Kampf der Aktion“ – sie wollte alle Wählerstimmen in einer Volkspartei sammeln, um als alleinige Macht regieren zu können. Es zeigte sich jedoch, dass diese Strategie die Mittelklasse abschreckte, die das als nicht einvernehmlich und autoritär empfand.

Seit 2016 werden die MAS-Regierungen zunehmend von einer dominierenden anti-MAS-Kultur belagert. Diese Tendenz kann man in den schwachen Ideen und offiziellen Positionen in der Presse beobachten. Diese Schwäche schränkte sogar die Regierungsfähigkeit der MAS ein, wie man in den Unruhen im Jahr 2019, als Evo Morales die Macht verlor, und in mehreren Momenten der aktuellen Arce-Regierung erkennt.

Einer der wichtigsten Faktoren für die „implizite Hegemonie“ der MAS war der Erfolg ihres Wirtschaftsmodells. Sie schien die Formel gefunden zu haben, die krampfartigen Zyklen des Extraktivismus mit ihren Höhen und Tiefen zu umgehen. Längst ist allerdings klar, dass dieses Modell (wie andere kapitalistische Modelle) an der typischen „extraktivistischen Kurzsichtigkeit“ litt. Die MAS sah nicht vor, in die Quellen der Dynamik, also nicht-erneuerbare Ressourcen, zu reinvestieren – oder sie tat es auf irregeleitete Weise wie im Falle des Lithiums. Die Erschöpfung der Rohstoffvorkommen hat das Wirtschaftsmodell extrem geschwächt – und die MAS wusste nicht angemessen zu reagieren.

Hohles Gerede von Erfolg

Seitdem dieses Modell also zu bröckeln begann – im Kontext einer globalen Wirtschaftskrise, ausgelöst vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine – ist auch die hegemonische Strahlkraft der MAS verschwunden. Diese wird nur noch vom Regierungsdiskurs am Leben erhalten, als Fossil. Es ist ein hohles Gerede von Erfolg, das die Mehrheit nicht mehr überzeugt und sich zunehmend von der Realität entfernt.

Neben diesen Rückschritten (und befeuert von diesen) entstand die interne Spaltung der MAS. Diese wurzeln in der Inkompetenz des „Evismus“ [Politik des Expräsidenten Evo Morales, Anm.d.Ü.], die Partei zu institutionalisieren, was wiederum von der politischen Caudillo-Kultur des Landes stammt [Das politische Phänomen Lateinamerikas, charismatische, revolutionäre oder populistische, aber immer autoritäre Herrscher gutzuheißen, Anm.d.Ü.]. Doch ohne die Institutionalität konnte die MAS keine Regierung schaffen oder führen, die nicht direkt in den Händen ihres charismatischen Anführers lag.

Evo Morales verfügt über eine narzisstische Persönlichkeit und eine personalisierte Vision der Politik für die Massen. Seine Anhänger*innen teilen dieses Mindset unkritisch in der Illusion, dass diese unterwürfige Unterstützung ihnen eines Tages die Rückkehr an die Macht ermöglicht. Auf der anderen Seite haben die „Erneuerer“, angeführt von Luis Arce und David Choquehuanca, dem Opportunismus der sozialen Anführer*innen Platz gemacht. Deren Ideologie ging nie über eine Ablehnung des Neoliberalismus hinaus; oder vielmehr über den Verlust der unternehmerischen Vorzüge der Firmen, die der Neoliberalismus hervorbrachte. Die „Erneuerung“, die den vom Selbstbewusstsein der eigenen Bewegung getragenen „Evismus“ ersetzen sollte, gipfelte in Tendenzen der gemeinschaftlichen Ausnutzung des Staates, wie es immer Teil der MAS war.

20 Jahre MAS – nicht alles war schlecht

Die MAS verkörperte einst die Prophezeiung bolivianischer Sozialwissenschaftler*innen einer Regierung der plebejischen Bürger*innen, Indigenen, Landwirt*innen und der Arbeiterschaft – ohne Vermittlung irgendwelcher Herren. Diese Prophezeiung verknüpfte jene Regierung mit der Emanzipation ihrer Akteur*innen und des ganzen Landes. Nach mittlerweile 20 Jahren der MAS-Herrschaft kann man sagen: Die Übernahme des Staates durch die historischen Subalternen des Landes war insofern fortschrittlich, als sie das alte und verknöcherte Verhältnis von ethnisch-rassischen und klassistischen Kräften im Lande umgestoßen hat. Auch förderte die MAS sehr wichtige Prozesse der wirtschaftlichen Mobilität. Außerdem schaffte sie eine neue Welle der Modernisierung, ausgehend vom Extraktivismus natürlicher Ressourcen. Hier spielen sowohl Erfahrungswerte vorheriger Wellen (wie der mangelnden Nachhaltigkeit) eine wichtige Rolle, als auch neue Charakteristika, die das Land neu konfigurieren. Aus naheliegenden Gründen waren die MAS-Regierungen die am wenigsten rassistischsten in der Geschichte Boliviens (allerdings waren sie auch nicht komplett nicht-rassistisch).

Macht ist jedoch keine externe Kraft, die man dominiert, sondern ein Medium, in das man sich installiert. Der Staat verfügt über Codes und Mechanismen, die sich reproduzieren und die sich nicht einfach durch neue Regeln oder andere externe und oberflächliche Reformen durcheinanderbringen lassen, wie die MAS naiverweise angenommen hat. Der Inhalt einer Norm kann variieren, aber die Logik ihrer Anwendung und Dekodierung hängt noch immer von den hegemonischen Vorrichtungen ab.

MAS in der Falle der Ideologie des bolivianischen Staates

Die Ankunft der Bürger*innen in die Staatsführung, emanzipatorisch aus der Perspektive der Selbstermächtigung, transformierte diese intern auf eine regressive Weise. Ihnen fehlte ein Programm, das über die Ablehnung des Neoliberalismus und die rein symbolische Neubewertung indigener Ballungszentren hinausging. Dadurch geriet die MAS in die Falle der Ideologie des bolivianischen Staates – der gleichen Ideologie, die der Gründung dieser Organisation vorausging.

Diese Ideologie des „Befehls des Befehls wegen“ auf der Suche nach Gewinn, des Extraktivismus, des Caudillismo, des Korporatismus [Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen an politischen Entscheidungsprozessen, Anm.d.Ü.], der Instrumentalisierung der Justiz, des Rassismus und des Eurozentrismus [hier: die unreflektierte Ansicht, europäische Prozesse als ideales Modell zu betrachten und sie in Lateinamerika übernehmen zu können, Anm.d.Ü.] ist die politische Kultur des Landes, die die bolivianischen Kreol*innen in den letzten zwei Jahrhunderten etabliert hatten. Die MAS selbst ist dem logischerweise nicht fremd, sie ist ein Produkt dieser politischen Kultur. Niemand kann der Gesellschaft entfliehen, der er entspringt. Ein ernsthafter Versuch der Emanzipation erfordert jedoch ein Bewusstsein für die geerbte Situation und außerdem den Willen, gegen den Strom zu schwimmen – etwas, das die MAS nur im Ansatz besessen hat. Die Regierungsvision der MAS basierte konventionell auf einer Bündelung der Kräfte. Ihre Vision war weder von Zavaleta (unorthodoxer bolivianischer Marxist) noch von Foucault geprägt.

Abgesehen von der Ablehnung des Neoliberalismus und ihrem symbolischen Pro-Indigenismus (also einer hegemonischen Politik), war die MAS eine Regierungsinstanz ohne Programm, ein Opfer der Hegemonie der politischen Kultur der bolivianischen Kreol*innen. Die „barbarischen“ Heerscharen belagerten Rom nur, um dann mit Mitteln der Römer erobert zu werden – obwohl anders als im beschriebenen Herrschaftsparadoxon: denn der Rassismus verhinderte die vollständige Transformation der Indigenen zu Herr*innen. Stattdessen wurden sie zu Opportunist*innen, korrupt und wurden in Klassen aufgeteilt.

„Bolivien wird entweder indigen sein oder gar nicht“

Trotz allem verhalf der Einfluss der MAS zur Bildung und Entwicklung einer bürgerlich-plebejischen und indigenen Schicht, die zuvor lediglich eine geisterhafte Existenz hatte, jetzt aber eine der wichtigsten Protagonist*innen der bolivianischen Gesellschaft ist.

Diese Bevölkerungsschicht blickt auf eine lange Geschichte zurück. Sie wurde sich gelegentlich iher bewusst, zerstreute sich dann wieder, um schließlich wieder aufzutauchen: in den Kämpfen um Land, um Bildung und schließlich um die Macht. Sie hat sich nach zahlreichen Niederlagen aufgerappelt und wird sich auch von der großen Niederlage erholen, die scheinbar schon am Horizont lauert.

Das beste für Bolivien wäre, wenn diese Niederlage nicht ausgenutzt werden würde, um die Öffentlichkeit in die genau entgegengesetzte Richtung des Aktuellen zu lenken; wenn die essenziellen Möglichkeiten der Bevölkerungsgruppen gesperrt würden, die das Machtgefüge verlassen werden. Das wäre eine Chance des Landes, seinen indigenen Charakter auf eine andere Weise zu repräsentieren. Eine moralische und intellektuelle Reform der politischen Kultur Boliviens könnte entstehen. Dadurch würde sich eine neue Hegemonie bilden, die die allgemeinen Bürden beinhalten würde, sowie die Erkenntnisse dieser beiden Jahrzehnte. Leider ist das unwahrscheinlich. Bolivien bewegt sich immer wie ein Pendel. Und dennoch, um den Sinnspruch von Zavaleta zu wiederholen: „Bolivien wird entweder indigen sein oder gar nicht“.

Epilog des Buchs „Die Krise der MAS“, geschrieben von Fernando Molina

Übersetzung: Patricia Haensel

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