(Santiago de Chile, 27. September 2022, taz/npla).- Gerhard Mücke, Führungsmitglied der Colonia Dignidad, ist am 17. September 2022 mit 88 Jahren im Krankenhaus der chilenischen Stadt Cauquenes gestorben. 1961 hatte er die Siedlung jener sektenartigen Gemeinschaft „Kolonie der Würde“ in Chile 1961 mitgegründet.
Mücke war der „Mann fürs Grobe“: Nach übereinstimmenden Berichten vieler Bewohner*innen der deutschen Siedlung, in der Prügel, unentlohnte Zwangsarbeit und sexualisierte Gewalt zum Alltag gehörten, schlug er besonders oft und hart zu. Er trainierte Einheiten der rechtsextremen paramilitärischen Vereinigung Patria y Libertad („Vaterland und Freiheit“), die sich in der Colonia auf den Putsch vorbereiteten. Er kooperierte mit dem chilenischen Geheimdienst DINA, war an Verhaftung, Folter, Mord von Oppositionellen in der Colonia Dignidad beteiligt. Dutzende Gefangene wurden in der deutschen Siedlung nach Aussagen von Bewohner*innen ermordet und in Massengräbern verscharrt, später wieder ausgegraben und verbrannt, ihre Asche im nahe gelegenen Fluss Perquilauquén verstreut.
Mücke nimmt Informationen mit in den Tod
Wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung wurde Mücke 2016 in Chile rechtskräftig zu fünf Jahren Haft verurteilt. 2013 war er bereits zu elf Jahren wegen Beihilfe zu Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch chilenischer Kinder durch Sektenchef Paul Schäfer verurteilt worden. Wegen Beteiligung an Mord- und Folterfällen erhielt er weitere sechs Jahre Haft. Seitdem saß Mücke seine Strafe im Gefängnis der chilenischen Kleinstadt Cauquenes ab, bis er ins Krankenhaus verlegt wurde. Mehrere Versuche, ihn zum Sprechen zu bringen, damit er zur Aufklärung des Schicksals der in der Colonia Dignidad Verschwundenen beitrage, schlugen fehl. Gerhard Mücke nimmt seine Informationen mit in den Tod, die Angehörige von Verschwundenen zur Aufklärung des Schicksals ihrer Liebsten so dringend gebraucht hätten.
Denn bis heute wurde keine der in der Colonia Dignidad ermordeten Personen identifiziert, in Massengräbern auf dem weitläufigen Gelände werden aber weitere Leichen vermutet. „Der Schweigepakt der Täter wie Gerhard Mücke ist unmenschlich und unerträglich, insbesondere für die Angehörigen der Ermordeten. Bevor Informationen wie im vorliegenden Fall durch Versterben der Täter endgültig verschwinden, sollten die Strafverfolgungsbehörden – auch in Deutschland – alles daran setzen, vermeintliche Täter*innen und Zeug*innen zu verhören. Die deutsche Justiz hat mit der Einstellung aller Ermittlungen in den letzten Jahren die Wahrheitsfindung jedoch ad acta gelegt“, sagt der Colonia Dignidad-Experte Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika in Berlin.
Nationaler Aktionsplan zur Suche nach den Verschwundenen
Derweil will die chilenische Regierung die Suche nach den über 1.100 während der Diktatur (1973 bis 1990) Verschwundenen mit einem nationalen Aktionsplan vorantreiben. Am 22. September stellten die Justizministerin Marcela Rios und die Staatssekretärin für Menschenrechte, Haydee Oberreuter, die selbst als politische Gefangene der Diktatur 1975 unter Folter ihr ungeborenes Kind verlor, diesen vor. Dazu luden sie Angehörigenverbände von Verschwundenen aus ganz Chile zu einem Austausch nach Santiago ein, um sie in einem partizipativen Prozess und Austausch einzubeziehen. Über Blutproben und DNA-Analysen der Angehörigen von Verschwundenen sollen Knochen und andere Überreste von Ermordeten identifiziert und zugeordnet werden. Bereits vorliegende Daten sollen systematisiert und noch nicht analysierte Dokumente ausgewertet werden.
Chiles Regierung erstmalig bei Gedenken in Colonia Dignidad
„Seit sechs Monaten sind wir an der Regierung, seitdem sehen wir uns in der Verantwortung, die schwere Geschichte unseres Landes aufzuklären“, erklärte Chiles Justizministerin Marcela Rios bereits am 10. September bei einer Gedenkveranstaltung in der Colonia Dignidad, am „Kartoffelkeller“, wo Gefangene gefoltert wurden. Es war das erste Mal, dass Vertreter*innen der chilenischen Regierung an einer Gedenkveranstaltung in der ehemaligen Colonia Dignidad teilnahmen.
Mit Musik, roten Nelken und Fotos der Verschwundenen gedachten Angehörigenverbände und Menschenrechtsorganisationen der auf dem Gelände Gefolterten und Ermordeten und forderten Aufklärung des Schicksals der dort Verschwundenen. Unter einem der Kundgebungsorte in der Ex Colonia Dignidad, der sogenannten „Feldscheune“, in der Strohballen gestapelt werden, befinden sich bisher kaum bekannte, mutmaßlich ebenfalls für Folterungen benutzte Kellerräume. Über eine mitgebrachte Leiter konnten die Kundgebungsteilnehmenden diesen Raum zum ersten Mal betreten.
Wann kommt ein Dokumentationszentrum in Ex Colonia Dignidad?
Eine Gedenkstätte oder ein Dokumentationszentrum gibt es bislang allerdings nicht auf dem Gelände, das sich inzwischen Villa Baviera nennt und von Tourismus und Landwirtschaft lebt. Zwar hatte der Deutsche Bundestag bereits 2017 beschlossen, in der Colonia Dignidad begangene Verbrechen aufzuklären und zusammen mit der chilenischen Regierung auch einen Gedenk-, Dokumentations- und Lernort einzurichten. Das zu befördern ist formell auch erklärtes Ziel einer deutsch-chilenischen Regierungskommission. Ein Team von deutschen und chilenischen Gedenkstättenexpert*innen hat dafür einen Entwurf erstellt und bereits 2021 vorgestellt. Doch die internationale Zusammenarbeit liegt in dieser Sache seit Monaten auf Eis. Konkrete Schritte sind bis heute nicht geplant.
Am 13. September stellten das chilenische Kultusministerium und der Rat für Denkmalfragen immerhin die frühere Operationsbasis der Geheimdienstes DINA in der Stadt Parral als Gedenkort unter Denkmalschutz. In den 1970er Jahren war das Gebäude im Besitz der Colonia Dignidad, die es der DINA zur Verfügung stellte. Der Geheimdienst koordinierte von hier aus seine Repressionsmaßnahmen in der Region und hielt Menschen gefangen, bis sie in andere Folterlager verlegt wurden. Oftmals in die 40 Kilometer entfernt gelegene Colonia Dignidad.
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