Suche nach der historischen Wahrheit – „Der Fall Colonia Dignidad“

Colonia Dignidad
Schon das Titelbild spricht Bände: Besuch des chilenischen Diktators Augusto Pinochet im „Casino Familiar“, einem Restaurant, das die Colonia Dignidad betreibt. Sektenchef Schäfer (r.) präsentiert Hochglanzbilder der als deutsches Mustergut geltenden Siedlung. / Foto: Buchcover transcript Verlag

(Berlin, 12. März 2022, npla/ND/Südlink).- Zwölf Jahre hat der Politologe Jan Stehle geforscht: 2021 ist seine Dissertation „Der Fall Colonia Dignidad: Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961-2020″ im transcript Verlag veröffentlicht worden. Der Autor liefert damit die bisher genaueste Analyse zur (Mit-)Verantwortung deutscher und chilenischer Institutionen für die in jener deutschen Sektensiedlung in Chile begangenen Verbrechen.

„Die Colonia Dignidad war nach innen eine kriminelle Gemeinschaft und nach außen eine international agierende kriminelle Vereinigung“, so lautet eine Kernaussage des Politik- und Wirtschaftswissenschaftlers Jan Stehle. Mit seinem über 600 Seiten starken Buch legt er eine systematische Bestandsaufnahme jener 1961 in Chile gegründeten deutschen Siedlung und der dort begangenen Verbrechen vor – eine Leistung, zu der weder das Auswärtige Amt noch die deutsche Justiz bisher willens oder in der Lage waren. Anhand der Quellenauswertung legt Stehle offen, wo und wann deutsche (und chilenische Behörden) hätten intervenieren und die Menschenrechtsverletzungen stoppen können – es aber nicht getan haben (S. 453). Auf der Suche nach einer „historischen Wahrheit“ ist es dem Autor gelungen, ein Referenzwerk zu erstellen, auf das sich nun weitere Forschungen stützen können. Denn die Aufarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad und der dort begangenen Verbrechen ist noch längst nicht beendet.

In akribischer Recherche und genauer Analyse hat Stehle alle verfügbaren Quellen bei deutschen – und auch bei vielen chilenischen – Behörden ausgewertet. Das Recht auf Zugang zu den Akten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (AA) musste er sich aufwändig mit einer Klage nach dem Informationsfreiheitsgesetz erstreiten, Akten des Bundesnachrichtendienstes (BND) sind auch für ihn bis heute gesperrt. Der Autor hat darüberhinaus diverse Privatarchive analysiert und unzählige Gespräche mit Zeitzeug*innen geführt. Dementsprechend ist das Buch mit einer Fülle von Zitaten, Quellenangaben und Originalbelegen angereichert. Um mit der großen Menge von Daten und Dokumenten umzugehen, strukturiert Stehle seine Arbeit sehr klar nach chronologischen und inhaltlichen Kriterien. So ist es möglich, einzelne Kapitel zu lesen, nach speziellen Informationen zu suchen oder das Buch als Nachschlagewerk zu benutzen. Besonders aufschlussreich ist das Kapitel über die juristische und politische Aufarbeitung. Doch zuvor zeichnet der Autor ein Panorama der Entwicklung der Colonia Dignidad und der dort begangenen Menschenrechtsverletzungen.

Interne und externe Verbrechen

Der Politologe und Ökonom Stehle beschreibt zwei komplementäre Seiten der Colonia Dignidad: zum einen die interne Struktur einer „pseudoreligiösen kriminellen Gemeinschaft“, die gegen die eigenen Mitglieder über einen Zeitraum von fast einem halben Jahrhundert „interne Verbrechen“ beging. Dabei analysiert er viele Fälle von sexualisierter Gewalt und Adoptionsbetrug über Freiheitsberaubung und Zwangsarbeit an Angehörigen der Gruppe. Zum anderen untersucht er die Struktur einer „kriminellen Vereinigung“, die nach außen gerichtete „externe Verbrechen“ beging. Dazu gehörten betrügerische Adoptionen und Sexualverbrechen an chilenischen Kindern aus der ländlichen Umgebung der Colonia Dignidad ebenso wie Waffenhandel und -produktion sowie Folter und Mord von politischen Gefangenen während der chilenischen Diktatur (1973 bis 1990).

Colonia Dignidad
Hier, am Fuß der Anden, gründeten Paul Schäfer und seine Anhänger*innen die Sektensiedlung Colonia Dignidad. Für Opfer gab es kaum Entkommen / Foto: Jorge Escalante

Um die Kontinuität von Strukturen und Verbindungen zu verdeutlichen, die die Entwicklung und den Fortbestand der Siedlung ermöglichten, führt er den Begriff „System Colonia Dignidad“ ein. Damit meint und analysiert Stehle neben der Führungsebene der Gruppierung auch die Rechtspersonen und die ökonomischen Strukturen der jeweiligen Niederlassungen sowie der Unterstützungsnetzwerke in Deutschland und Chile (S. 28). Ihnen gegenüber standen, so der Autor, „aufklärerische“ Akteur*innen meist allein: aus der Colonia Dignidad geflüchtete Personen, Opfer- und Angehörigenverbände, Menschenrechtsorganisationen, Aktivist*innen, einzelne Rechtsanwält*innen und Journalist*innen. Ihr Engagement sei entscheidend gewesen für jeden Schritt der Aufklärung. Nur einzelne Personen in staatlichen Institutionen hätten diese Bemühungen unterstützt.

Fünf historische Phasen

Fünf historische Phasen prägen die Geschichte der Colonia Dignidad, so Stehle. Detailliert beschreibt er die Entstehungsgeschichte im Westdeutschland der Nachkriegsjahre. Paul Schäfer arbeitete damals als Jugendpfleger in evangelischen Heimen, wo er mehrmals entlassen wurde, weil er schon zu dieser Zeit Kinder sexualisierter Gewalt unterwarf. Außerdem zog er als charismatischer Laienprediger durch evangelisch-freikirchliche Gemeinden und scharte viele – oft orientierungslose oder kriegstraumatisierte – Menschen um sich. Schäfer habe immer darauf losgeredet, gehandelt, gepredigt, so zitiert Stehle den Architekten der Colonia Dignidad und Schäfers Vertrauten Johannes Wieske: „Er fühlte sich offenbar so auserwählt und begnadet, dass er nie Fehler machte, weil Gottes Geist ihn erfüllte und leitete“.

Zusammen mit den Baptistenpredigern Hugo Baar und Hermann Schmidt gründete Schäfer 1956 den Verein „Private Sociale Mission“ und 1960 ein Kinderheim im nordrhein-westfälischen Heide. Als Beleg für die frühe Unterstützung durch deutsche und chilenische Institutionen führt Stehle an, dass eine Vertreterin des Bundesministeriums für Familien- und Jugendfragen (S. 103) sowie der chilenische Botschafter in Deutschland Arturo Maschke (S. 485) an der Einweihungsfeier des Kinderheims teilnahmen und die Weiterentwicklung der Gruppierung unterstützten.

Ausführlich dokumentiert der Autor auch die Übersiedlung der Gruppe nach Chile. Nachdem 1961 erstmals Eltern Anzeige gegen Schäfer wegen sexualisierter Gewalt gegen ihre Kinder erstattet hatten, reiste dieser nach Chile aus. Rund 300 Anhänger*innen folgten ihm. Darunter waren mehrere quasi entführte Kinder, deren Eltern lediglich Einverständniserklärungen für mehrwöchige (Chor-)Reisen ihrer Kinder innerhalb Europas unterschrieben hatten.

Botschafter Maschke und der Konsul Osorio sollen die Einwanderung nach Chile unterstützt haben. Die Gruppierung kaufte Ländereien in einer abgelegenen Region am Fuß der Anden und errichtete die Siedlung, die unter dem Namen „Wohltätigkeits- und Erziehungsgesellschaft Würde“ bald offiziell als gemeinnützig anerkannt wurde. Die Gruppe baute ein Krankenhaus auf, in dem Menschen aus der Umgebung umsonst behandelt wurden, die Kosten dafür ließ sich die Colonia Dignidad allerdings vom chilenischen Gesundheitssystem erstatten. Im Krankenhaus wurden Siedlungsbewohner*innen monate- und jahrelang mittels Elektroschocks und zwangsweiser Verabreichung von Psychopharmaka misshandelt. 21 chilenische Kinder wurden in der Colonia Dignidad zwangsadoptiert, oftmals nachdem sie zu einer Behandlung ins Krankenhaus gekommen waren. „Dort wurde den Eltern beispielsweise eröffnet, die Kinder benötigten eine mehrmonatige stationäre Behandlung“, schreibt Stehle auf Seite 233 und erklärt das Zusammenspiel mit örtlichen Behörden sehr plastisch: „Dafür sollten die – teilweise analfabetischen – Eltern Einverständniserklärungen vor Notaren oder Gerichten unterzeichnen. Diese Erklärungen (…) entpuppten sich später erst als Sorgerechtsabtretungen“. Viele Eltern konnten ihre Kinder später nicht wieder besuchen.

Enge Kooperation mit der Diktatur

Mithilfe von unzähligen Dokumenten und Aussagen von Zeug*innen dokumentiert Stehle die enge Kooperation der Sektenführung mit der chilenischen Diktatur und deren Geheimdienst Dirección de Inteligencia Nacional (DINA) sowie die Rolle der deutschen Politik in diesem Kontext. Nach dem Putsch am 11. September 1973 wurden in einem in der Colonia Dignidad eingerichteten Gefangenenlager Hunderte Oppositionelle gefoltert sowie Dutzende ermordet und in Massengräbern verscharrt. Um Spuren zu verwischen, wurden deren Leichen 1978 wieder ausgegraben, verbrannt und ihre Asche im nahegelegenen Fluss verstreut. Das belegen Zeugenaussagen von Siedlungsbewohnern und DINA-Angehörigen, die Stehle zitiert.

Colonia Dignidad
„Der deutsche Staat ist mitverantwortlich“ – Protest von Angehörigen der Opfer der Colonia Dignidad / Foto: Jorge Soto

1976 veröffentlichte die UNO Aussagen von Chilen*innen, die die Folter in der Colonia Dignidad überlebt hatten und sich außer Landes retten konnten. Daraufhin besuchte auch Erich Strätling, der damalige deutsche Botschafter in Chile, am 15. November 1976 die deutsche Siedlung (S. 429). Ihm und seiner Ehefrau sei dabei eine „Art Show mit Lieder- und Musikvorträgen“ präsentiert worden, danach habe ein Rundgang stattgefunden. So zitiert Stehle Strätlings spätere Aussagen bei einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung. Weiter sagte der Botschafter aus: „Ich habe alle Wohn- und Wirtschaftsbauten angesehen, bin in allen Häusern in den Kellern gewesen, habe die Generatorstation und den Fuhrpark besichtigt und habe keine Auffälligkeiten entdeckt“. Nach seiner Rückkehr habe Strätling zudem General Leigh, Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Mitglied der Militärjunta, gebeten, Luftaufnahmen des Geländes anzufertigen. „Diese seien dann vom Bundesverteidigungsministerium ausgewertet worden. Auf den Aufnahmen wurden keine versteckten Gebäude oder Bewachungsmaßnahmen festgestellt“, so fasst Stehle die Aussage Strätlings zusammen. Dem deutschen Botschafter war der Oberbefehlshaber der Luftwaffe der Militärjunta 1976 näher als jedes Menschenrechtsargument. Er lieferte einen Freifahrtschein, so dass die DINA und die Führung der Colonia Dignidad weiterhin ungestört kooperieren konnten. Mehr noch: Als auch Amnesty International 1977 Berichte der Folterüberlebenden veröffentlichte und die Colonia Dignidad als Folterlager bezeichnete, klagte die Führung der deutschen Siedlung mit ausgewählten Anwälten gegen Amnesty auf Unterlassung – und bekam vor dem Landgericht Bonn sogar recht.

Weiterhin belegen Stehles Recherchen unter anderem auch gemeinsame Lehrgänge der Colonia Dignidad mit der DINA in Foltertechniken und Umgang mit Waffen und Sprengstoff, sowie dass Angehörige der Colonia Dignidad die Funktechnik in Haftzentren der DINA installierten. Vieles weise auch „darauf hin, dass die CD [Colonia Dignidad] bei den Vorbereitungen zum Putsch eine wichtige Rolle spielte“, schreibt Stehle. Er zitiert Originalquellen, aus denen hervorgeht, dass schon Anfang der 1970er Jahren ultrarechte Paramilitärs von „Patria y Libertad“ zu militärischen Trainings in die deutsche Siedlung kamen und hochrangige Militärs dort ebenfalls ein- und ausgingen.

Die Freigabe von Akten zur Colonia Dignidad berge „Konfliktpotenzial“, so das Auswärtige Amt noch im Jahr 2010

All das mag dazu beigetragen haben, dass der Autor erst nach einer aufwändigen Klage Zugang zu den Akten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (AA) erhielt, wie er im Buch beschreibt. Demnach sah das AA die Notwendigkeit einer Aufarbeitung der Geschichte zwar als grundsätzlich unstrittig an, argumentierte aber noch im Jahr 2010, eine Freigabe von Akten zur Colonia Dignidad berge insofern „Konfliktpotenzial, als diese Aufarbeitung ihre Zusammenarbeit mit der Militärdiktatur betreffe“. Das „Bekanntwerden deutscher interner Informationen (…) und nicht für die Öffentlichkeit bestimmter Mitteilungen“ (…) schaffe demnach „Anlass für neue Konflikte und Vorwürfe“ zwischen Chile und Deutschland (S. 74).

Die Verwicklung bundesdeutscher Institutionen belegt Stehle anhand vielfältiger Quellen. Ein sehr drastisches Beispiel stellen seine Untersuchungen rund um den Waffenhändler und BND-Informanten Gerhard Mertins dar. „Es gibt eine Reihe von Belegen und Indizien dafür, dass die CD ein wichtiger Umschlagplatz für Waffen war, die für das chilenische Militär bestimmt waren“, schreibt Stehle auf Seite 251. Aussagen von Bewohner*innen bestätigten demnach „die zentrale Rolle, die ‚der berühmteste deutsche Waffenhändler der Nachkriegszeit‘, Gerhard Mertins, dabei spielte“. Der frühere SS-Offizier Mertins, der nach 1945 Kontakte zu neonazistischen Gruppen unterhielt, habe bundesdeutsche Unternehmen im Ausland vertreten und über seine Firma „Merex AG“ hauptsächlich mit ausgesonderten Waffen der Bundeswehr gehandelt, so Stehle. Ab 1956 habe Mertins unter dem Decknamen „Uranus“ für den Bundesnachrichtendienst (BND) gearbeitet.  „Medienbekannt wurde Mertins Mitte der 1970er Jahre. Nach Anschuldigungen, er habe gesetzeswidrig Waffen in Spannungsgebiete geliefert, konnte Mertins vor Gericht belegen, dass der BND über diese Lieferungen Bescheid gewusst hatte“, heißt es bei Stehle. Im Interesse einer umfangreichen Aufklärung fordert der Politikwissenschaftler, alle bei Geheimdiensten unter Verschluss gehaltenen Dokumente offenzulegen, das betreffe insbesondere Akten beim BND.

Umstrukturierung zur „Villa Baviera“

Colonia Dignidad
Die Villa Baviera, Nachfolgeorganisation der Colonia Dignidad / Foto: Ute Löhning

Besonderes Augenmerk legt Stehle auch auf die ab 1988, in der Endphase der Diktatur, eingeleitete Umstrukturierung der Colonia Dignidad zur Nachfolgeorganisation „Villa Baviera“ (Bayerisches Dorf), mit der sie sich vor der Auflösung schützte. Dabei wurden Ländereien und Besitz der Siedlung in eine undurchsichtige Holding mehrerer geschlossener Aktiengesellschaften überführt, die in abgewandelter Form bis heute besteht. Der Politologe und Ökonom listet insgesamt 23 Unternehmen auf, die zu der Holding gehören, darunter Tourismus-, Landwirtschafts- und allein acht Immobilienunternehmen. Er führt auch ihre jeweiligen Repräsentant*innen auf: Das sind insgesamt weniger als zwanzig Personen, meist Nachfahren von Mitgliedern der früheren Führungsgruppe, die Zugriff auf Macht und Vermögen bis heute bei sich konzentrieren (S. 148 & 612).

Als letzte historische Phase beschreibt der Autor den langsamen Öffnungsprozess ab der Verhaftung Paul Schäfers im Jahr 2005. Nachdem chilenische Familien, deren Kinder der Sektenchef in der Villa Baviera vergewaltigt hatte, ab 1996 Anzeigen gegen diesen erstatteten, floh Schäfer mit einer Hand voll Getreuen nach Argentinien. Erst acht Jahre später wurde er dort in einem geheimen Versteck, einem Landsitz unweit der Hauptstadt Buenos Aires, gefasst. Seine Verhaftung markiert den Beginn einer langsamen Öffnungsphase, in der mehrere Bewohner*innen die Siedlung schließlich verließen. Gut hundert Personen leben heute noch in der Villa Baviera, deren Erscheinungsbild stark vom Tourismus geprägt ist.

Verantwortung von Politik und Justiz

Stehle zeigt, dass bundesdeutsche Behörden seit der Übersiedlung der Gruppe nach Chile in allen historischen Phasen „deutliche Hinweise“ auf die Verbrechen hatten, aber „nicht angemessen einschritten“, um diese Taten zu verhindern. „Daher lässt sich kein anderer Schluss ziehen, als dass bundesdeutsche Behörden für diese Verbrechen mitverantwortlich sind. Diese Mitverantwortung betrifft sowohl die Bundesregierung, namentlich das Auswärtige Amt, als auch bundesdeutsche Justizbehörden“, so Stehles Fazit auf Seite 605.

Ausführlich untersucht der Autor auch alle politischen Initiativen und juristischen Ermittlungen. Er beschreibt parlamentarische Untersuchungsausschüsse und einzelne Gerichtsurteile in Chile, Anhörungen beim Deutschen Bundestag und dessen einstimmigen Beschluss von 2017 zur Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad als der bisher weitreichendsten politischen Initiative. Ein Oral-History-Archiv mit lebensgeschichtlichen Interviews von Zeitzeug*innen wurde in der Folge finanziert und an der FU Berlin realisiert. Die Errichtung eines Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes, die Aufklärung der Vermögensverhältnisse der Colonia Dignidad und andere darin definierte Forderungen harren allerdings noch immer der Umsetzung. Bundestag und Bundesregierung werden sich weiterhin mit diesen Fragen beschäftigen müssen.

Niemand übernahm Verantwortung

Stehle beschreibt in seiner Analyse ein Muster staatlichen Handelns, in dem sich Politik und Justiz sowohl in Deutschland als auch Chile gegenseitig die Verantwortung zuschoben. Die „formal doppelte – de facto aber ungeklärte – Zuständigkeit staatlicher Stellen“, war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Colonia Dignidad „ihre Verbrechen über einen so langen Zeitraum perpetuieren konnte“ (S. 607).

In Anbetracht der Tatsache, dass bundesdeutsche Behörden von den in der Siedlung begangenen Verbrechen wussten, hätten sie nicht adäquat reagiert: „Gemessen am Ziel der Wahrung von Menschenrechten haben sie damit versagt. Sie unternahmen keine ausreichenden Maßnahmen, um darauf hinzuwirken, dass die ihnen bekannten Verbrechen nicht weiterhin begangen wurden.“ Vielfach habe stattdessen das „System Colonia Dignidad“ die Agenda bestimmt (S. 605/606).

Einer der größten Justizskandale der Bundesrepublik

Der chilenischen Justiz bescheinigt der Autor, sie habe sich nach 2005 „zumindest in Ansätzen“ für die Aufarbeitung zuständig gefühlt: „Ohne die Urteile der chilenischen Justiz gäbe es bis heute keinerlei offizielle Anerkennung“ der Verbrechen als „bestätigte Tatsachen“. 2016 hatte Chiles Oberster Gerichtshof die Spitzen der Colonia Dignidad und des Geheimdienstes DINA rechtskräftig als „kriminelle Vereinigung“ und einzelne Personen zu Haftstrafen verurteilt. 2013 verhängte er auch mehrjährige Haftstrafen gegen einige Führungspersonen der Colonia Dignidad wegen Beihilfe zu Vergewaltigung und Missbrauch. Darunter findet sich auch der emblematischste Fall: Hartmut Hopp, der frühere Leiter des siedlungseigenen Krankenhauses, Schäfer-Vertraute und Verbindungsmann zur DINA. Doch Hopp hatte sich bereits 2011 nach Deutschland abgesetzt, wo er nichts zu befürchten hat: Keine Auslieferung an Chile aufgrund seiner deutschen Staatsangehörigkeit, kein Absitzen der chilenischen Strafe in einem deutschen Gefängnis, keine Anklage, kein Prozess. Paragraf 170, „kein hinreichender Tatverdacht“, lautete die Begründung zur Einstellung von diesem und über zehn weiteren Ermittlungsverfahren gegen verschiedene Personen allein in Nordrhein-Westfalen, die Stehle analysiert hat. Dabei ging es um Sexualdelikte, Kindesentziehung, Freiheitsberaubung, Verstoß gegen das Waffengesetz, Körperverletzung und Mord.  In der Folge blieben Führungspersonen der Colonia Dignidad, die sich nach Deutschland absetzen konnten, allesamt straflos – selbst diejenigen, gegen die in Chile bereits ermittelt wurde.

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Protestkundgebung vor dem Haus des ehemaligen Sektenarztes der Colonia Dignidad, Hartmut Hopp, in Krefeld, 2018 / Foto: Ute Löhning

Sehr detailreich zeichnet der Autor einen der größten Justizskandale der Bundesrepublik nach und kritisiert, der deutschen Justiz fehle es an der „Anerkennung des systemischen Charakters der Colonia Dignidad als kriminelle Organisation“. Sie habe „zu keiner Zeit aktiv genug“ recherchiert und ermittelt, „um die Zusammenhänge und Hintergründe des Systems CD [Colonia Dignidad] auch nur ansatzweise zu durchleuchten“ (S. 581).

In der Konsequenz blieben in Deutschland alle Verbrechen der Colonia Dignidad straflos, ein fatales Signal der deutschen Justiz. Schon allein dieses Kapitel über juristische Aufarbeitung in Deutschland zu lesen, vermittelt eine Idee davon, warum die Gruppierung so lange bestehen und ungehindert Verbrechen begehen konnte – und welches Bedeutung das für die Gesellschaft hat.

Forderung nach einer opferzentrierten Perspektive

Als „adäquaten Umgang“ fordert Stehle heute, den Fall Colonia Dignidad „grundsätzlich aus Sicht der Opfer (…) zu betrachten, ihre Bedürfnisse anzuerkennen und dementsprechend zu handeln“. Im Sinne einer Aufarbeitung aus einer „opferzentrierten Perspektive“ fordert er eine „Überprüfung des formellen und informellen Vermögens“ der Colonia Dignidad bzw. der heutigen Gesellschaften. „Dieses Vermögen sollte den Opfern zugutekommen“. Eine Forderung, die in ähnlicher Form auch im Beschluss des Deutschen Bundestags zur Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad von 2017 festgehalten ist, doch bisher nicht umgesetzt wurde. Nötig sei auch „ausreichende Entschädigung für die Opfer“, auf die sie aufgrund der (Mit-)Verantwortung bundesdeutscher Behörden auch einen Anspruch hätten, und die es diesen „ermöglichen sollte, ein Leben in Würde zu führen, unabhängig von den Strukturen der Post-Sektengemeinschaft“ (S. 612).

Colonia Dignidad
Foto: Buchcover transcript Verlag

Außerdem müsse ein Gedenk-, Dokumentations- und Lernort auf dem Gelände errichtet werden und es bedürfe weiterer wissenschaftlicher Erforschung und einer „umfassende(n) Aufarbeitung in einem politisch festgelegten Rahmen, etwa als Wahrheitskommission“. Deren Ziel müsse es sein, die Verbrechen und deren Opfer zu benennen. Darüber hinaus müsse aber auch „staatlicherseits festgestellt werden, wer hierfür jeweils die Verantwortung trug. Dies schließt die politische (Mit-)Verantwortung, in diesem Fall auch der Bundesrepublik Deutschland, explizit mit ein“ (S. 612). Die Grundlage dafür hat Jan Stehle mit seiner Forschung gelegt.

 

Das Buch von Jan Stehle, „Der Fall Colonia Dignidad: Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961-2020″, ist im Oktober 2021 im transcript Verlag erschienen. Es ist als paperback für 29 Euro oder als PDF kostenlos über open access erhältlich.

Transparenzhinweis: Die Autorin dieses Artikels hat das Endlektorat für die Buchveröffentlichung gemacht.

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