Colonia Dignidad – Was ist aus der Aufarbeitung geworden?

Colonia Dignidad
Angehörige haben an einem Grab Fotos von in der Colonia Dignidad Verschwundenen niedergelegt / Foto: Jorge Soto

(Berlin, 2. Mai 2021, taz/npla).- Vor fünf Jahren hielt Bundespräsident Frank Walter Steinmeier – damals als deutscher Außenminister – eine selbstkritische Rede über den Umgang des Auswärtigen Amtes mit der Colonia Dignidad. Nun drängen Opfer, Expert*innen und Abgeordnete, bald eine Gedenk- und Dokumentationstätte auf dem Gelände der früheren deutschen Sektensiedlung einzurichten. Betroffene fordern außerdem die Untersuchung der Besitzverhältnisse in der heutigen Villa Baviera.

Der Umgang mit der Colonia Dignidad sei „kein Ruhmesblatt“ in der Geschichte des Auswärtigen Amtes gewesen, sagte Steinmeier am 26. April 2016 in feierlicher Atmosphäre vor großem Publikum im Auswärtigen Amt. An jenem Abend wurde auch der Spielfilm Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück von Florian Gallenberger präsentiert, der damals die Debatte auch in eine breitere Medienöffentlichkeit beförderte. Anknüpfend an diesen kulturellen Impuls erklärte Steinmeier: „Von den sechziger bis in die achtziger Jahre haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut – jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan“. Damit räumte er eine moralische Mitverantwortung der Bundesregierung dafür ein, dass in der Colonia Dignidad jahrzehntelang schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen werden konnten.

Freiheitsberaubung, Zwangsarbeit, Adoption unter Zwang, sexualisierte Gewalt

Denn in der 1961 in Chile gegründeten deutschen Sektensiedlung waren die meisten Bewohner*innen bis Mitte der 2000er Jahre ihrer Freiheit beraubt und unbezahlter Zwangsarbeit unterworfen. Zwar ging es nicht nur um „Landsleute“, also deutsche Staatsangehörige. Denn so wie deutsche Bewohner*innen waren auch chilenische Kinder aus oftmals armen Familien aus der Umgebung der Colonia Dignidad der sexualisierten Gewalt des Sektenchefs Paul Schäfer ausgesetzt und wurden teils unter Zwang adoptiert.

Spätestens, seit zwei Bewohner*innen 1966 die Flucht aus dem streng bewachten Gelände gelang und sie von den Zuständen in der deutschen Siedlung auch der Presse berichteten, waren diese bekannt. Dennoch schritt die Bundesregierung nicht dagegen ein, im Gegenteil: Die deutsche Botschaft in Santiago de Chile kooperierte mit der Sektenführung, überließ ihr sogar Menschen, die aus der Siedlung fliehen und bis zur Botschaft gelangen konnten.

Kooperation mit der Pinochet-Diktatur

Die Sektenführung um Paul Schäfer war auch in Waffenhandel und -produktion involviert. Schon Anfang der siebziger Jahre trainierten rechtsextreme Gruppen wie „Patria y Libertad“ auf dem Gelände den Umgang mit Schusswaffen und Sprengstoff und bereiteten den Putsch gegen die Allende-Regierung mit vor. Ab 1973 kooperierte die Colonia Dignidad eng mit der Pinochet-Diktatur.

Deren Geheimdienst DINA errichtete ein Folterlager auf dem Gelände der Siedlung und misshandelte – mit Unterstützung von Sektenangehörigen – Hunderte Oppositionelle. Dutzende wurden ermordet, ihre Leichen sind bis heute nicht gefunden. Ab 1976 veröffentlichten die UNO und Amnesty International Berichte von Überlebenden dieser Folter. Doch die deutsche Botschaft in Chile stellte sich schützend vor die Colonia Dignidad und beschrieb sie als „ordentlich und sauber – bis zu den Schweineställen“.

Colonia Dignidad
Im ‚Kartoffelkeller‘ der Colonia Dignidad wurden in den
1970er Jahren Oppositionelle gefoltert / Foto: Ute Löhning

Auswärtiges Amt und Botschaft hätten „die Orientierung verloren“ beim Abwägen des Interesses an „guten Beziehungen zum Gastland“ Chile und an der Wahrung von Menschenrechten, sagte Steinmeier 2016 und tat mit seiner Rede jedenfalls verbal einen großer Schritt. Initiativen von Abgeordneten folgten und gut ein Jahr später forderte der Deutsche Bundestag einstimmig die Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad.

Mit über einer Million Euro finanziert die Bundesregierung seit 2019 ein an der Freien Universität Berlin angesiedeltes digitales Oral History-Archiv, das zur Aufarbeitung der Geschichte beitragen soll. Bisher wurden 35 lebensgeschichtliche Interviews mit Zeitzeug*innen auf Video aufgezeichnet, 25 weitere sollen folgen. Diese sollen anschließend zur pädagogischen Nutzung aufbereitet werden und somit zur Aufarbeitung der Geschichte beigetragen.

Der lange Weg zu einer Gedenkstätte

Angehörige der Verschwundenen fordern Aufklärung und einen Gedenkort. Auch frühere Bewohner*innen der Colonia Dignidad, wie Doris Gert, die heute außerhalb der Siedlung lebt, drängen darauf, dass Deutschland und Chile sich endlich „überwinden“ sollten, eine Gedenkstätte zu errichten.

Ein vierköpfiges deutsch-chilenischen Expert*innenteam hat im Auftrag einer „Gemischten Kommission“ mit Vertreter*innen beider Regierungen ein Konzept zur Errichtung der Gedenkstätte entwickelt. Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes erklärte, aktuell stünden darüber Beratungen mit der chilenischen Seite an. Diesem Entwurf zufolge soll auf dem Gelände der Villa Baviera – wie sich die Siedlung seit 1988 offiziell nennt – die Geschichte der verschiedenen Opfergruppen an jeweils spezifischen Orten aufgezeigt werden.

Konzept für Gedenkstätte bereits vorgestellt

Am 19. April stellten die Leiterin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Elke Gryglewski, und der Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner, dieses Konzept vor einer „Gemeinsamen Kommission“ von Bundestag und Regierung vor.

Friedrich Straetmanns, rechtspolitischer Sprecher der Linken im Bundestag, steht dem Konzept positiv gegenüber und sagt, er erlebe eine „große Einigkeit über Fraktionsgrenzen hinweg (…), dass eine solche Gedenkstätte auf dem Gelände der Colonia Dignidad entstehen soll.“ „Das richtige Signal an die Opfer wäre, wenn noch in diesem Herbst der Spatenstich für die Gedenkstätte erfolgt“ erklärt Straetmanns, der „das Thema in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen“ möchte.

„Ohne Druck geht da gar nichts“

Dazu solle die deutsche Regierung auch durch Auftreten des Außenministers gegenüber der chilenischen Seite auf die Bedeutung des Themas hinweisen. So könnte die Bundesregierung den Druck auf die chilenische Regierung erhöhen. Denn deren Minister für Justiz und Menschenrechte, Hernán Larraín, war ein ausgesprochener Unterstützer der Colonia Dignidad.

Die Grünen-Abgeordnete Renate Künast betont, die Opfer hätten das Recht darauf, dass es endlich weitergehe. Es seien jetzt eine Vielzahl von juristischen und finanziellen Fragen zu klären. Die Regierungen und Parlamente beider Staaten müssten signalisieren, dass sie diesen Weg gehen wollen: „Diese Willensbekundung braucht es.“

Außerdem fordert sie, die „Gemeinsame Kommission“ aus Abgeordneten und Regierungsvertreter*innen in der kommenden Legislaturperiode sofort wieder einzusetzen. „So wir denn Koalitionsverhandlungen führen“, sagt sie, „gehört das auch da rein“. Denn vieles sei noch lange nicht aufgearbeitet und ergänzt mit Blick auf das Auswärtige Amt: „Ohne Druck geht da gar nichts“.

Juristische Aufarbeitung

In Chile drängt die Suche nach den mutmaßlich in der Colonia Dignidad ermordeten Oppositionellen. Solange das Schicksal und der Verbleib der Verschwundenen nicht bekannt sind, tragen deren Angehörige die Last der Ungewissheit und können – oft bis an ihr Lebensende – keine Ruhe finden. Myrna Troncoso, die Vorsitzende des Angehörigenverbandes von Verschwundenen aus der süd-chilenischen Region des Maule-Flusses, beklagte bei einer Kundgebung in der Ex-Colonia Dignidad im Dezember 2020: „Wir wissen, dass hier Massengräber sind, in denen sich vielleicht heute noch Reste unserer geliebten Angehörigen finden lassen“. Sie forderte, dass „diejenigen Deutschen, die beteiligt waren, als die Leichen verscharrt und später wieder ausgegraben wurden, aussagen, wo sie sind“. Die zuständige Ermittlungsrichterin Paola Plaza vernahm ab 21. bis 23. April zwölf Personen in diesem Zusammenhang.

Colonia Dignidad
Gedenkveranstaltung der Angehörigen von Verschwundenen / Foto: Jorge Soto

In Deutschland blieb die juristische Aufarbeitung ohne jedes Ergebnis: keine Anklage, kein Urteil. Im prominenten Fall des in Chile rechtskräftig verurteilten Ex-Sektenarztes Hartmut Hopp waren die Ermittlungen wegen Beihilfe zu Mord an politischen Gefangenen und zu sexuellem Missbrauch sowie wegen zwangsweiser Verabreichung von Psychopharmaka ohne medizinische Indikation bereits 2019 eingestellt worden. Ein „hinreichender Tatverdacht“ sei nicht gegeben, so die Generalstaatsanwaltschaft. Dabei war Hopp enger Vertrauter des Sektenchefs Paul Schäfer und galt als Verbindungsmann zum Geheimdienst DINA. Anfang April lehnte das Oberlandesgericht Düsseldorf auch einen Antrag auf Klageerzwingung gegen den seit zehn Jahren in Krefeld lebenden Hopp ab.

Opferanwältin Petra Schlagenhauf kritisiert , die Ermittlungen seien „nie mit der notwendigen Tiefe und Energie geführt worden, dass sie überhaupt eine Entscheidung ermöglichen, ob am Schluss eine Anklage gerechtfertigt ist“. Insgesamt habe die deutsche Justiz vor den Verbrechen der Colonia Dignidad versagt und „nicht begriffen, in welcher Dimension diese stattgefunden haben“. Deren Aufklärung „hätte erfordert, dass man sehr tief und sehr aufwändig und aus eigener Initiative sehr viel recherchieren und ermitteln muss. Diese Bereitschaft habe ich nicht gesehen“, so Schlagenhauf.

Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) reichte im Januar Aufsichtsbeschwerden beim nordrhein-westfälischen Justizministerium ein und fordert, dieses solle erneute Ermittlungen anordnen. Eine Antwort des Justizministers steht noch aus. Auf Antrag der Grünen Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag berichtete das Justizministerium am 21. April im Rechtsausschuss über die Ermittlungen gegen Hartmut Hopp. Da die Diskussion im nicht-öffentlichen Teil  geführt wurde, sind weitere Informationen dazu nicht bekannt.

Hilfen für Opfer

Im Rahmen eines Hilfskonzept leistet die Bundesregierung seit 2020 individuelle Hilfszahlungen an Opfer der Colonia Dignidad. Konkret geht es um Summen von 7.000 bis zu 10.000 Euro, die nach Angaben von Betroffenen bisher an gut 90 Personen gezahlt wurden bzw. noch zur Auszahlung ausstehen.

Nach Angaben einer Sprecherin des Auswärtigen Amtes finanziert die Bundesregierung auch „psychosoziale Maßnahmen und Fachpersonal der Alten- und Pflegestation“ in der Villa Baviera. Ein beschlossener Fonds „Pflege und Alter“ zur Unterstützung der Personen, die heute außerhalb der Siedlung leben, ist bisher allerdings nicht umgesetzt.

Viele derjenigen, die jahrzehntelang weder Lohn noch Sozialabsicherung erhielten, sorgen sich noch immer um ihr Auskommen im Alter. Sie fordern die Untersuchung der Besitzverteilung in der Villa Baviera, die heute in Form einer Firmenholding aus Tourismus-, Landwirtschafts- und Immobilienunternehmen organisiert ist. Denn alle Vermögenswerte der Siedlung konzentrierten sich bei der heutigen Führungsgruppe. Laut Bundestagsbeschluss von 2017 sollen diese Besitzverhältnisse geklärt werden, „auch mit dem Ziel, dass Mittel aus dem Vermögen konkret den Opfern zugutekommen“. Doch auf dieser Ebene tut sich bisher wenig.

Dabei hatte Frank Walter Steinmeier auch eine gewisse Trägheit deutscher Außenpolitik kritisiert: „Auch später – als die Colonia Dignidad aufgelöst war und die Menschen den täglichen Quälereien nicht mehr ausgesetzt waren – hat das Amt die notwendige Entschlossenheit und Transparenz vermissen lassen, seine Verantwortung zu identifizieren und daraus Lehren zu ziehen“, sagte er an jenem 26. April 2016. Wenn das Auswärtige Amt die Worte des damaligen Außenministers wirklich ernst nähme, müsste es endlich auch die Aufklärung der Besitzverhältnisse in der heutigen Villa Baviera vorantreiben.

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