Scheinbarer Erfolg der Regierung

(Bogotá, 23./24. Oktober 2021, verdadabierta/contagio radio).- Am Samstag, 23. Oktober wurde in der nordwestkolumbianischen Provinz Antioquia der Paramilitär und Bandenchef Dairo Antonio Úsuga alias „Otoniel“ verhaftet. Zuvor war über sechs Jahre lang nach ihm gefahndet worden. Seine Festnahme wurde mit erheblichen logistischen Aufwand betrieben, über 3000 Sicherheitskräfte waren daran beteiligt. „Otoniel“ gilt als Anführer der paramilitärischen Gaitanistischen Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens AGC (Autodefensas Gaitanistas de Colombia). „Otoniel“, der zugleich einer der meist gesuchten Drogenhändler Kolumbiens ist, wurde offiziellen Angaben zufolge in der Gemeinde El Totumi nahe der nordkolumbianischen Küstenstadt Necoclí verhaftet. Mit der Region ist Úsuga bestens vertraut, er stammt aus der benachbarten Stadt Turbo und war seit über 30 Jahren aktiv am hybriden Krieg in Kolumbien beteiligt.

Am 2. Februar 2015 wurde die Militäroperation Agamenón gestartet, um um die AGC aufzulösen, die von der kolumbianischen Regierung und Armee auch als Golf-Clan (Clan del Golfo) bezeichnet werden, da sie hauptsächlich in der Subregion Urabá in der Provinz Antioquia, sowie in Córdoba, Sucre und Norte de Santander operieren.

Den Militäraktionen, seit Juni 2017 unter dem Namen Agamenón II, sind in den folgenden Jahren mehrere seiner Vertrauensleute und Familienangehörige zum Opfer gefallen. Nun verkündete Präsident Duque die Festnahme des „meist gefürchteten Drogenhändlers der Welt“ – eine Behauptung, die mehrere Analyst*innen für übertrieben halten.

Auf den bislang veröffentlichten Fotos und Videos ist ein ruhiger Mann zu sehen, ohne Spuren eines vorangegangenen Kampfes oder einer erschöpfenden Verfolgung – sehr im Gegensatz zu Bildern von Festnahmen anderer Chefs oder Mitglieder krimineller Strukturen. Einige von Contagio Radio befragte Analyst*innen gehen daher davon aus, dass es sich möglicherweise nicht um eine Festnahme handelt, sondern dass sich Úsuga selbst gestellt haben könnte.

Befürchtungen und Möglichkeiten nach der Festnahme von „Otoniel“

Die AGC sind über die Jahre zu einer kriminellen Struktur mit großer wirtschaftlicher und militärischer Macht geworden, sie sind in Kolumbien in den wichtigsten Zonen für Produktion und Export von Kokain präsent, vor allem im Norden des Landes. Nach der Festnahme ihres Bosses stellt sich die Frage nach der Zukunft der AGC. Einige Expert*innen rechnen damit, dass sich eine militärisch strukturierte Organisation wie die AGC nicht einfach auflösen werde. Wahrscheinlicher sei ein Wechsel an der Führungsspitze oder ein Zerfall in mehrere Fraktionen, was die humanitäre Situation in den Regionen, in denen die AGC aktiv sind, weiter verschärfen würde.

Auf der anderen Seite könnte diese Festnahme auch die Stunde der Wahrheit für die Communities und Gebiete bedeuten, die in den vergangenen Jahren unter den Aktivitäten der AGC zu leiden hatten, zumal an vielen dieser Orte immer wieder auf eine Komplizenschaft oder zumindest Untätigkeit seitens der dort anwesenden Sicherheitskräfte hingewiesen wurde.

Daher ist es möglich, dass „Otoniels“ Verhandlungen vor Gericht dazu führen könnten, die Wahrheit hinter den Operationen der AGC herauszufinden. Diese konnten Drogenhandel und die Kontrolle über weite Ländereien ausüben, ohne dass die Streitkräfte offensiv darauf reagiert hätten. Allerdings ist eine Auslieferung Úsugas wegen Drogenhandels in die USA geplant, was es für Opfer erschweren würde, die Wahrheit zu erfahren.

Für die betroffenen Gemeinden hat sich mit der Festnahme von „Otoniel“ noch nichts geändert. Es hat keine massenhaften Desertionen von AGC-Mitgliedern gegeben und man wartet zu erfahren, wer der neue Kommandant wird. Die Gemeinden versuchen weiterhin, Zwangsrekrutierungen und Zwangsanordnungen zu verhindern. Die Festnahme eines Anführers bedeute nicht, dass damit auch die von ihm befehligte Struktur aufgelöst wird, erklärte eine Aktivistin gegenüber Contagio Radio. Im Gegenteil, sie fürchtet interne Verwerfungen bei den AGC, deren Folgen wieder die Zivilbevölkerung tragen müsste. „Für uns Opfer gibt es keine Gerechtigkeit von Seiten der Justiz. Deshalb verlangen wir Garantien, dass er nicht ausgeliefert wird und wir außergerichtlich die Situationen aufklären können, denen wir seit 2008 ausgeliefert sind“, so die Aktivistin.

Während die Nachricht von der Verhaftung „Otoniels“ durch Kolumbien und um die Welt ging, ändert sich an der Situation der schwarzen, indigenen und bäuerlichen Gemeinden nichts. Sie müssen befürchten, dass Splittergruppen der AGC ihre Situation weiter verschlechtern, was Gruppen von Polizei, Militär und Unternehmer*innen für ihre Interessen an den Ländereien ausnutzen könnten.

Die Geschichte von „Otoniel“

Dairo Antonio Úsuga hatte sich zunächst der nicht mehr existierenden Guerilla EPL angeschlossen. Nach deren Entwaffnung 1991 schloss er sich den berüchtigten paramilitärischen Selbstverteidigungskräften Kolumbiens AUC (Autodefensas Unidas de Colombia) an. Deren Kommandant Carlos Castaño verfolgte eine Anti-Guerilla-Strategie und nutzte dafür die Erfahrung ehemaliger Guerilla-Kämpfer*innen aus EPL und FARC. Nachdem „Otoniel“ aus der Region Urabá in die östlichen Ebenen (Llanos Orientales) verlegt wurde, um unter anderem im Department Meta am berüchtigten „Massaker von Mapiripán“ teilzunehmen, stand er weiter unter Befehl des paramilitärischen Führers Daniel Rendón Herrera alias Don Mario. Dieser wurde übrigens 2009 in demselben Gebiet verhaftet wie nun Ùsuga.

Der Plan des AUC-Befehlshabers Vicente Castaño (der Bruder von Carlos Castaño), sich in den östlichen Ebenen festzusetzen, ging bis zum Jahr 2006 auf. Doch im selben Jahr wurde die Entwaffnung der AUC mit der Regierung Uribe nach dem Gesetz 975 ausgehandelt. Gemeinsam mit Rendón Herrera gab schließlich auch „Otoniel“ als Paramilitär des Bloque Vencedores der AUC zunächst die Waffen ab.

In den folgenden Monaten kam es allerdings zu einer Reihe von Drohungen und Morden an mittleren Rängen der AUC. Einige fielen internen Streitigkeiten zum Opfer, andere sollten zum Schweigen gebracht werden. Schätzungen zufolge wurden 2000 AUC-Mitglieder nach deren Entwaffnung umgebracht. Úsuga, Daniel Rendón, Vicente Castaño und andere nahmen schließlich die Waffen wieder auf und bezeichneten sich in Anspielung auf den 1948 ermordeten populären Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán als Autodefensas Gaitanistas de Colombia oder „Los Urabeños“. Sie fühlten sich vom damaligen Präsidenten Uribe verraten, mit dem einige von ihnen Straflosigkeit, keine Ermordungen und den Erhalt ihrer Güter vereinbart hatten, wollten sich gegen die Morde an ihren Mitgliedern verteidigen und versprachen, den Schutz und die Integrität der unter ihrer Kontrolle lebenden Bewohner*innen zu garantieren sowie soziale Entwicklung und Investitionen vorantreiben. Einige ihrer Wirtschaftszweige sind der Drogenhandel und andere landwirtschaftliche Geschäftsfelder in der Region Urabá.

Angesichts des im Jahr 2017 bevorstehenden Papstbesuchs und des sich abzeichnenden Friedensvertrages mit der FARC-Guerilla wurde bekannt, dass sich „Otoniel“ bereit zeigte, an einer juristischen Aufarbeitung mitzuwirken. Über sieben Monate lang wurde während der Regierung Santos verschiedene Möglichkeiten diskutiert, die jedoch schließlich am Unwillen des Generalstaatsanwalts Néstor Humberto Martínez scheiterten. So wurde die Gelegenheit versäumt, 2500 Männer zu entwaffnen und vor Gericht zu bringen, ihre Gebiete unter Kontrolle der Armee zu bringen und einen Prozess für Wahrheit und Gerechtigkeit mit den Opfergruppen der AGC einzuleiten.

Trotz der Festnahme hunderter AGC-Mitglieder und der Tötung einige Befehlshaber im Rahmen der Operation „Agamenón“ gelang es den AGC nach dem Friedensvertrag mit den FARC im November 2016, ihren Einfluss und die soziale Kontrolle in mehreren kolumbianischen Regionen und Provinzen zu festigen: im Norden und Süden des Chocó, im niederen und mittleren Atrato, im Urabá in den Provinzen Antioquia und Cordoba, Sucre, Bolívar und in Regionen der Atlantikküste, Magdalena, Guajira, Meta und Valle del Cauca.

Operation Agamenón

Seit Jahren haben die Sicherheitskräfte mit groß angelegten Operationen nach Úsuga gesucht. Durch die Operation Agamenón konnte der Bandenchef schließlich lokalisiert werden. Auch die US-Regierung hat nach „Otoniel“ gesucht und ein Kopfgeld von fünf Millionen US-Dollar ausgesetzt für Hinweise, die zu seiner Ergreifung führen. Auch die kolumbianische Regierung hat eine Belohnung von drei Milliarden Pesos (700.000 Euro) ausgesetzt. Gegen den Chef des Golf-Clans laufen über 120 Ermittlungsverfahren, er wurde zudem von Interpol über eine Rote Ausschreibung (Red Flag) gesucht.

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