Fußballklubs gedenken der Opfer der letzten Militärdiktatur

(Montevideo, 23. März 2021, la diaria).- Die Wege der traditionsreichen argentinischen Fußballvereine Racing und Argentinos Juniors haben sich auf dem Spielfeld bereits 135 Mal gekreuzt, die beiden Clubs verbindet eine lange gemeinsame Geschichte. Doch als sie am vergangenen Montag in der Profiliga aufeinandertrafen, geschah dies mit einer wichtigen neuen Facette, die beide Vereine auf eine noch nie dagewesene Art und Weise verbinden wird: Sowohl Racing als auch Argentinos Juniors haben kürzlich beschlossen, die Vereinsmitgliedschaft derer zu erneuern, die während der letzten Militärdiktatur in Argentinien (1976-1983) verschwunden sind.

Der Tatendrang der Vereine knüpft an eine Vereinbarung an, die die großen Fußballklubs Boca Juniors und River Plate geschlossen haben. Zusammen soll umgesetzt und vermittelt werden, dass unterschiedliche Trikotfarben keine Unterschiede in der Auffassung der Menschenrechte bedeuten. Im Gegenteil: Die beiden bekanntesten Vereine des Landes schalteten eine gemeinsame Anzeige, in der sie Angehörige oder Bekannte von Menschen suchen, die in den grausamsten Jahren der letzten Diktatur Opfer gewaltsamen Verschwindenlassens geworden sind und die Mitglieder des einen oder des anderen Clubs waren. Sie sollen ihren Platz im jeweiligen Verein zurückbekommen, über ihr Leben und ihre Beziehung zum Sport soll mehr bekannt werden.

Die Appelle der Verbände fallen zeitlich mit dem 45. Jahrestag des brutalen Putsches in Argentinien am 24. März 1976 zusammen. Sie sind als Teil der voranschreitenden Verarbeitung der Jahre des Grauens in der Sportbranche verstehen. Banfield war der erste Club, der seine inhaftierten und verschwundenen Mitglieder symbolisch wiederaufnahm und ihren Mitgliedsstatus erneuerte. Der Verein beging dies mit einer Feier, bei der die Mütter der Plaza de Mayo besondere Ehrengäste waren. Kurz darauf tat Ferro ähnliches. Jeden Tag ist das Gedenken des Vereins sichtbar, wenn Tausende von Autos die Avenida Avellaneda in Buenos Aires durchfahren und neben den Eingangstüren der Häuser die Gesichter der Verschwundenen erblicken, denen dort Tribut gezollt wird.

Unterschiedliche Arten des Gedenkens

Jeder Club fand seinen eigenen Weg, um wieder gut zu machen und die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Bei Racing liegt dieser in der Gründung einer fünfköpfigen Gruppe von Anhängern, bestehend aus dem Journalisten Carlos Ulanovsky, dem Schauspieler Osvaldo Santoro, dem Chemiker Miguel Laborde, dem ehemaligen Diktatur-Häftling Jorge Watts und dem Bruder des verschwundenen Racing-Mitglieds Alberto Krug, Carlos Krug. Watts, Gründer der Vereinigung der ehemals Inhaftierten und Verschwundenen, der in seinem schockierenden Buch über die Zeit seiner Gefangenschaft in einem Geheimlager berichtet, konnte das Ergebnis der Initiative, an der er mit ganzer Seele hing, nicht mehr erleben. Am 3.März verstarb Watts an Covid-19.

Das Gedenken von Argentinos rührt von der unermüdlichen Arbeit seines Menschenrechtsausschusses. Unter den sieben verschwundenen Mitgliedern des Clubs, deren Angehörige ihre Vereinsmitgliedskarten nun erhalten werden, ist auch Raymundo Gleyzer, Filmemacher und Chronist, dessen Filme mehrere Generationen bis in die Gegenwart beeinflusst haben. Gleyzer ist Autor einer Bilanz, die ihm und vielen anderen eine Identität gibt: „Wir machen keine Filme, um zu sterben, sondern um zu leben, um besser zu leben. Und wenn wir dabei unser Leben verlieren, werden andere kommen und damit weitermachen“.

Die Diktatur wird im Sport immer mehr zum Thema

Die Bekanntgabe der Vereine sorgte in Medien auf verschiedenen Kontinenten und in den digitalen sozialen Netzwerken für große Aufmerksamkeit. Schon bald gingen die Geschichten von vermissten Mitgliedern ein – und die Vereine sind zuversichtlich, dass diese über die unterschiedlichen Kommunikationskanäle auch weiterhin eintreffen werden.

Julián Schers Buch Die Verschundenen von Racing erzählt vom Leben von elf Fans und Mitgliedern. In den vergangenen Jahren wurden in Argentinien, ganz anders als zuvor, immer mehr Recherchen über die Verbindungen zwischen Sport und Diktatur angestellt. Es gibt eine lange Liste mit verschwundenen Menschen, die Vereinssport betrieben haben. Ihre Namen und Wege sind in dem Buch Sport, Verschwundene und Diktatur des Journalisten Gustavo Veiga zusammengetragen. Eine Forscherin aus der Provinz San Juan, Carola Ochoa, recherchierte hartnäckig und ermittelte so die Zahl von 157 verschwundenen Rugbyspielern. Ihre Arbeit war der Anstoß für ein ihnen gewidmetes Benefiz-Turnier, das nun bereits fünf Mal ausgetragen wurde.

Das Argument, Politik und Sport „seien nicht zu vermischen“, wird immer wieder von den deutlich sichtbaren Zusammenhängen widerlegt. So ist unter den Tausenden von Verschwundenen auch der Dichter und Journalist Roberto Jorge Santoro, der 1971 Literatura de la pelota (Literatur des Balls) veröffentlichte – eine bahnbrechende Zusammenstellung der Beziehungen zwischen Büchern und Sport in Argentinien. Im Gegensatz zu den leugnenden oder ausweichenden Äußerungen schlossen sich in diesem Jahr viele Sportorganisationen dem Vorschlag der Menschenrechtsorganisationen an. Weil große Veranstaltungen angesichts der Pandemie unmöglich sind, riefen diese dazu auf, Bäume zur Erinnerung zu pflanzen.

Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit

In einigen argentinischen Städten wurden außerdem neue Versionen von La Carrera de Miguel aufgeführt. Das sportliche Theaterstück, bei dem auch ein Rundlauf veranstaltet wird, erinnert am Beispiel von Miguel Sánchez an die 30.000 Verschwundenen. Sánchez – Langstreckenläufer, Bankangestellter, Dichter, Fußballer und Aktivist – war am 8. Januar 1978 am Wohnsitz seiner Familie in Berazategui in der Provinz Buenos Aires von einer Gruppe Militärs entführt worden.

Während die Geschichten verschwundener Vereinsmitglieder die Fußballclubs auf elektronischem Wege erreichen, wird ihner auch an anderen Stellen gedacht. Vergangene Woche besuchten die Spielerinnen der Frauenmannschaft von Racing den Ort, an dem die Militärjunta das geheime Gefangenenlager El Infierno hatte errichten lassen. Es lag unweit der Stadien von Racing und Independiente. Zeitzeug*innen erzählten von ihren Erfahrungen, es wurde den Opfern gedacht, Wahrheit und Gerechtigkeit geschaffen. Erinnerung, Wahrheit, Gerechtigkeit – das sind die drei Pfeiler, denen sich auch die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo in ihrem andauernden Kampf verschrieben haben. „Die Erinnerung kommt ans Licht, bis sie schließlich gewinnt“, heißt es in einem bekannten Lied von León Gieco. So lautet auch der Titel des Textes, mit dem Racing seine Entscheidung, die Vereinsmitgliedschaft jener, die Opfer eines unvorstellbaren Terrors geworden sind, wiederherzustellen, verkündete. Kein anderer Titel wäre zutreffender. Sie kommt ans Licht, bis sie gewinnt. Und sie gewinnt.

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