(Mexiko-Stadt, 3. Oktober 2021, Gaceta UNAM) – „In der Musik, wie in fast allen Künsten, gibt Europa vor, welche Ästhetik zulässig ist, und alles, was davon abweicht, wird im besten Fall als „exotisch“ etikettiert.“ Im Rahmen einer Diskussionsrunde zu Kolonialismus und Dekolonialisierung in der zeitgenössischen Konzertmusik wies Gabriela Ortiz Torres, Professorin für an der Fakultät für Musik der mexikanischen Universität UNAM, auf die Fortsetzung von Machtverhältnissen in der Kunst hin: „Offensichtlich haben wir uns daran gewöhnt, europäische Komponisten zu studieren, während man sich in Europa wenig oder gar nicht dafür interessiert, was in Mexiko oder Lateinamerika passiert.“ Ausgehend davon, dass die europäischen Mächte den Kolonien ihre Weltsicht aufgezwungen hatten, ging die Diskussionsrunde der Frage nach, inwiefern sich Wissenschaftler*innen und Kunstschaffende in Lateinamerika heute mit dem Begriff der Universalität auf eine Denkweise beziehen, die die Weltsicht der „alten Welt“ widerspiegelt und nicht die eigene. Laut Ortiz Torres ist dies der Grund, warum die Aufführung klassischer Kompositionen einer mexikanischen Komponistin in Europa gewöhnlich als „Lateinamerikanische Fiesta“ oder sowas in der Art beworben wird. „Warum nennen sie bei ihrer Ankündigung nicht einfach Mahler oder Beethoven, statt so einen Kontext aufzubauen? Debussy fand es überhaupt nicht gut, als impressionistischer Komponist bezeichnet zu werden, und ich mag es gar nicht, wenn man mich als lateinamerikanische oder postmoderne Komponistin bezeichnet. Natürlich ist es einfacher, zu verallgemeinern, anstatt zu reflektieren. Ich würde mir aber wünschen, dass unsere Arbeiten differenzierter wahrgenommen würden.“
Exotisierung: Die Konstruktion des Fremden
Mit einem Beispiel veranschaulicht Ortiz, wie Exotisierung funktioniert: „1997 komponierte ich ein 30-Minuten-Stück namens Altar de muertos für das Kronos Quartett. Die letzten drei Minuten basieren auf einem Huichol-Thema, das ich mal auf einer Schallplatte gehört hatte. Wegen dieser drei Minuten wurde mein Werk als Folklore bezeichnet, obwohl 90 Prozent der Partitur ganz anders waren. Bei der Beurteilung so oberflächlich zu sein finde ich regelrecht gefährlich.“ Wieso sie die Bezeichnung „lateinamerikanische Komponistin“ nicht mag? „Nun, diese Kategorie ist nicht gerade universell und fokussiert auf die Nicht-Zugehörigkeit zum kulturellen Kanon. Das ist aber auch schon der einzige Grund. Wie könnte ich mich Lateinamerika nicht zugehörig fühlen? Meine Eltern sind die Gründer der Gruppe Los Folkloristas, Inti Illimani und Víctor Jara gingen bei uns ein und aus. Eins meiner Werke habe ich Violeta Parra gewidmet. Ich bin mit ihrer Musik aufgewachsen, und manchmal arbeite ich auch damit. Was ich nicht leiden kann, ist das Schubladendenken“.
Der Klang der Vielfalt
José Luis Castillo Rodríguez, selbst Europäer und Leiter des Ensamble Cepromusic des Nationalen Instituts für Bildende Kunst und Literatur, gibt freimütig zu: „Das Orchester ist einer der kolonialsten Mechanismen der Konzertmusik“. Nur wo die Musik sich der Vielfalt öffne, könne der Dekolonisierungsprozess einsetzen. „Die iberische Halbinsel war 800 Jahre lang von Arabern besetzt. Dadurch wurde sie zur Wiege der Kultur, des Denkens und zum Schmelztiegel verschiedener Klänge. Der Dialog der Kulturen verlieh der Musik der damaligen Zeit ein neues Gesicht. Tunesien übernahm beispielsweise sevillanische Traditionen, Algerien die von Córdoba und Fez die von Valencia. Es war kein globales Phänomen, aber immerhin ein Plurilokales“. Der Bau dieser Klangbrücken ist nach Ansicht Rodríguez‘ unvermeidlich und bedeutet früher oder später das Ende für jeden auferlegten Kanon. „Wenn es etwas gibt, das uns Musiker*innen auszeichnet, viel mehr als die Philosophen, Politiker oder womöglich die Ökonomen, dann ist das unser Hang zum Nomadentum“. Die Geschichte der Musik ist nach Ansicht des Professors voll von Geschichten über Grenzüberschreitungen und die Eroberung von Räumen; unbedingt zu erwähnen seien in diesem Kontext die Komponisten Guillaume de Machaut und Orlando di Lasso. „Wir begehen immer wieder den Fehler zu denken, es gebe nur eine Form von Kolonialismus, und zwar die von vor 500 Jahren. Tatsächlich existiert jedoch eine Vielzahl von Kolonialismen, die darauf ausgerichtet sind, einen Standard durchzusetzen, statt Vielfalt zuzulassen. Deshalb bin ich ein Anhänger des Nomadentums in der Musik: Es ist ein Weg, der uns zur Dekolonisierung führt und hilft, mit monolithischen Festlegungen zu brechen und dem Klang der Vielfalt zu lauschen“.
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