Der Befreiungsphilosoph Enrique Dussel ist gestorben

Befreiungsphilosophie
Enrique Dussel im Oktober 2013. Foto: Octavio Navaa via flickr, CC BY-SA 2.0 DEED.

(Mexiko-Stadt., 5. November 2023, la jornada).- Der Philosoph Enrique Domingo Dussel Ambrosini ist im Alter von 88 Jahren verstorben. Sein Sohn, Enrique Dussel Peters, teilte die Nachricht über seinen Tod in den sozialen Netzwerken.

„Wir sind alle sehr traurig. Heute, am 5. November 2023 um 20:50 Uhr ist Enrique Domingo Dussel Ambrosini, Ehemann, Vater, Großvater, Lehrer, Theologe, Philosoph, Historiker, Professor und kritischer Denker, verstorben. Möge er in Frieden ruhen“, sagte er am Abend des 5. Novembers.

Die Rektorin der Universidad Autónoma de la Ciudad de México (UACM), Tania Rodríguez Mora, beklagte den Tod auf ihrem Twitter-Account: „Enrique Dussel, unser geliebter und hochgeschätzter Rektor, ist gestorben. Er war klug und hochherzig. Die @UACM wird ihm immer dankbar sein: Danke, danke, danke“.

Vordenker der Befreiungsphilosophie

Enrique Dussel wurde am 24. Dezember 1934 in Mendoza, Argentinien, geboren. 1975 kam er im Exil nach Mexiko, nachdem er in den Jahren vor der Militärdiktatur zunehmend zum Ziel gewalttätiger Übergriffe wurde. In Mexiko erhielt er später die Staatsbürgerschaft. Enrique Dussel ist international bekannt für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Ethik, der politischen Philosophie und des lateinamerikanischen Denkens im Allgemeinen. Er gilt außerdem als einer der Begründer der Befreiungsphilosophie, einer Denkströmung, deren Vordenker er bis heute ist.

Er diskutierte mit Philosophen wie Karl-Otto Apel, Gianni Vattimo, Jürgen Habermas, Richard Rorty und Emmanuel Lévinas. Sein umfangreiches Wissen schrieb er in mehr als 70 Büchern und 400 Artikeln nieder – von denen viele in mehr als sechs Sprachen übersetzt wurden. Sein Werk macht ihn zu einem der bedeutendsten philosophischen Denker*innen des 20. Jahrhunderts.

Akademische Laufbahn

Enrique Dussel erwarb 1957 ein Diplom in Philosophie an der Universidad Nacional del Cuyo in Mendoza, Argentinien, und 1965 ein Diplom in Religionswissenschaften am Institut Catholique de Paris. Anschließend promovierte er 1959 im Fach Philosophie an der Universität Complutense in Madrid, Spanien. 1967 promovierte er im Fach Geschichte an der Universität Sorbonne, Paris.

Einen großen Teil seiner beruflichen Laufbahn verbrachte Dussel in Mexiko, wo er unter anderem als Professor für Ethik und politische Philosophie an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) und als Professor und Forscher am Fachbereich Philosophie der Universidad Autónoma Metropolitana (UAM) Iztapalapa tätig war. Außerdem war er Interimrektor der UACM.

Dussel war Mitbegründer der Befreiungsphilosophie in Lateinamerika und erhielt mindestens sechs Ehrendoktortitel, darunter von der Universität Freiburg (Schweiz, 1981) und der Universidad Mayor de San Andrés (La Paz, Bolivien, 1995). Er war auch einer der Gründer der „Revista de Filosofía Latinoamericana“ und während des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts Mitglied der Gruppe Modernidad/Colonialidad, dem wichtigsten Kollektiv für postkoloniales Denken in Lateinamerika.

Neue philosophische Perspektiven auf die Weltgeschichte

Entsprechend seiner eigenen Lebensgeschichte war Enrique Dussels grundlegende These die Befreiungsphilosophie, ein Denken, das von einem locus enuntiationis (Ort der Verkündigung) ausgeht. Dieser Ort ist situiert in der Peripherie, in der geopolitischen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen, militärischen und geopolitischen Randlage des globalen Südens, und geht mit einer aktiven Stellung im Leben in einer abhängigen neokolonialen Welt einher.

Als Akt der Rebellion gegen die Kolonialisierung sah die von Dussel vorgeschlagene Befreiungsphilosophie in den unterdrückten Völkern, welche von der modernen Zivilisation – und damit auch von deren Denkweise – ausgeschlossen sind, die Möglichkeit, einen breiteren Horizont als den des bloßen Eurozentrismus zu entfalten.

Ausgehend vom Verlauf der Weltgeschichte verortete Dussel dieses philosophische Denken in der Andersartigkeit des Anderen, des Nichts, des Nicht-Seins, „der Witwe, des Waisen, des Fremden“ und des Armen. Eine Andersartigkeit, von der aus die Kritik an jedem System (wirtschaftlich, politisch, erkenntnistheoretisch, philosophisch, geschlechtlich, kulturell, rassisch usw.), das sich in sich selbst verschließt, erfolgen kann.

Dussel ließ sich von seinen Lieblingsautoren (lateinamerikanischen und europäischen, von Salazar Bondy oder Freire bis Sartre oder Heidegger, über Hinkelammert, Levinas, Ricoeur oder Benjamin) inspirieren und integrierte sie in einen neuen antikolonialen und kritischen Diskurs.

Das Resultat war nicht nur eine neue Perspektive auf die Weltgeschichte, sondern auch neue philosophische Kategorien, die sich im Laufe der Diskussionen, der Jahre und der verschiedenen philosophischen Orte, an welchen gedacht wurde, immer weiter verfeinert haben. Seine interkulturelle Beschäftigung mit indigenen Volksgruppen bestätigte die Grundthesen seiner Befreiungsphilosophie.

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