von Viviana Uriona
(Berlin, 10. Oktober 2010, npl).- In der Nacht des 16. September 1976, wenige Monate nachdem die Militärs in Argentinien die Macht übernommen hatten, werden die sechs Schüler*innen Daniel Alberto Racero alias “calibre”, (18 Jahre alt), Maria Clara Ciocchini (18 Jahre alt), Claudio de Acha (17 Jahre alt), Horacio Úngaro (17 Jahre alt), Franciso López Muntaner alias “panchito” (16 Jahre alt) und Maria Claudia Falcone (16 Jahre alt) in und aus der Stadt La Plata verschleppt. Sie waren, wie viele andere Schüler*innen auch, in der Schülergewerkschaft UES (Union de Estudiantes Secundarios) organisiert. Bis 1975 hatten sie für den Erhalt des Schülertickets für Bus und Bahn demonstriert.
1976: Schüler*innen vom Militär verschleppt
Die Regierung der damaligen Präsidentin Isabel Martinez de Perón ging auf diese Forderung ein. Wenige Monate lang konnten die Schüler*innen und Student*innen diese Entscheidung der Exekutive feiern. Denn „eine der ersten Maßnahmen, die die Diktatur in einer klaren anti-populären Politik durchführte, war die Abschaffung des Schülertickets. Daraufhin mobilisierten sich die Gymnasiasten im ganzen Land. Und ab diesem Moment begannen die Geheimdienste, die beteiligten Studierenden zu registrieren“, erklärt Felipe Pigna.
Doch diese Maßnahme reichte dem Militär noch nicht. Im September 1976 verschleppten Militärs zehn Jugendliche. Der 18-jährige Gustavo Calotti und der neun Tage später verschleppt 17-jährige Emilce Moler, der 18 Jahre alte Pablo Diaz und die 17-jährige Patricia Miranda kamen erst nach mehreren Jahren Gefängnis wieder frei.
Von den erwähnten verschleppten sechs Schüler*innen aus Mar del Plata fehlt bis heute jede Spur. Alle sind „Kinder der Nacht der Bleistifte“. In einem Fernsehinterview erklärt der damalige Polizeichef der Provinz Buenos Aires, General Camps dazu: „Wenn diese Mütter sich in der gleichen Weise um ihre Kinder gekümmert hätten wie sie es heute tun, würden sie jetzt nicht das Verschwinden ihrer Kinder beklagen.“
34 Jahre später: Erneute Demonstrationen
Am vergangenen 16. September, 34 Jahre nach der tragischen Nacht der Bleistifte fanden in vielen Teilen Argentiniens Demonstrationen statt. Einerseits, um die Vergangenheit in Erinnerung zu behalten aber auch, um die Konflikte der Gegenwart öffentlich zu machen.
Viele Stimmen sind an diesem Tag zu hören. Eine davon ist Nora Cortiña von der Organisation Mütter der Plaza der Mayo, Linea Fundadora. Sie erklärt, weshalb sie bei der Demonstration mit dabei ist: „Wir sind hier, um die Erinnerung an das Verschwinden der Gymnasiasten wachzurufen. Sie wurden damals verschleppt, weil sie die öffentliche Bildung verteidigt haben und für das Schülerticket und die Rechte der Studierenden kämpften. Und wir begleiten sie auch heute, wo die öffentliche Bildung den Bach runter geht und sich niemand drum kümmert“.
Auch die Koordinationsstelle gegen Polizeiliche und Institutionelle Repression CORREPI (Coordinadora Contra la Represión Policial e Institucional) ist seit 1991 bei den Demonstrationen zur Nacht der Bleistifte anwesend: „Die erste massive Demo nach 1983 gab es im Jahr 1991, dem Jahr der Verhaftung und Ermordung von Walter Bullacio. Die Demo stand unter den Motto: ‘Verurteilung und Strafe der Mörder von gestern und heute’. Diese wunderschöne, massive Demo zeigt uns heute, wie zunächst der Kampf der Gymnasiasten und später der Kampf der Studierenden das Thema auf den Tisch gebracht hat. Obwohl alles mit materiellen Forderungen begonnen hatte, ging es schnell um die allgemeine Verteidigung der öffentlichen Bildung. Das hat dann die ganze Gesellschaft erschüttert. Wir können sehen, dass hier nicht nur die Organisationen anwesend sind, sondern auch viele Menschen, die schon lange nicht mehr demonstriert hatten und nun heute auf der Straße gehen. Sie folgen dem Beispiel dieser jungen Menschen, die uns mit ihren 14 oder 15 Jahren zeigen, wie man sich organisieren soll und wie ein unabhängiger Kampf möglich ist.“
Kampf um öffentliche Bildung
Mehrere Tausend Schüler*innen, Studierende der Fach- und Hochschulen, Dozent*innen und Professor*innen haben demonstriert. Sie brachten die Erinnerungen der Vergangenheit und die Forderungen der Gegenwart zum Ausdruck. „Es ist ein Zeichen dafür, dass wir alle bereit sind, die öffentliche Bildung zu verteidigen. Die Gymnasiasten und die Studenten, alle mit ihren Forderungen. Auch die Dozenten formulieren ihre Forderungen nach würdigen Arbeitsbedingungen, angemessenem Lohn und einem größeren Budget für die Bildung“, sagt ein Student dazu.
Die Forderungen von heute sind dabei mehr als konkret und werden von der Mehrheit – mit Nuancen – getragen. „Was wir im Allgemeinen wollen, sind Antworten. Wir haben viele Verhandlungen und Gespräche gehabt aber keine konkreten Antworten erhalten. Diese Demonstration ist eine Maßnahme, ein Punkt, den man nach derartigen Verhandlungen erreicht. Wenn wir keine Antwort bekommen, dann bleibt uns nur die Straße als Ausweg. Wir wollen eine Garantie für die Bildung für alle, mit Ressourcen, mit Löhnen, mit Stipendien, und in würdigen Orten. Die Mobilisierung ist eine Antwort auf die fehlenden Antworten seitens der Regierung“, fasst ein Student seine Unzufriedenheit in deutliche Worte.
Die Konflikte betreffen nicht nur jene Schulen, die von der Stadt Buenos Aires geleitet werden, sondern auch solche, die dem nationalen Bildungsministerium unterstehen. Ein anderer Student erklärt: „Wir wissen, dass die Bildungsproblematik nicht nur ein Problem der Stadt Buenos Aires ist, sondern ein nationales Problem, deswegen demonstrieren die Studierenden zusammen mit dem Gymnasiasten aus den Schulen Pellegrini und Nacional Buenos Aires.“
Solidarischer Protest auf den Straßen
Die Demonstrationen wurden von mehreren Sektoren unterstützt. So äußert sich beispielsweise der ASTA der Sozialwissenschaftlichen Fakultät folgendermaßen: „Wir demonstrieren für die sofortige Lösung der Konflikte der Gymnasiasten und der Studierenden, die zur Zeit noch fünf Fakultäten besetzt halten. Wir demonstrieren auch zusammen mit den Arbeiterinnen von Paraná Metal und Sancor, die sich ebenfalls im Kampf befinden, damit deren Konflikte zu ihren Gunsten gelöst werden. Und wir demonstrieren dafür, dass kein Geld mehr für die Zahlung der Auslandsschulden oder die Bezuschussung von Firmen ausgegeben wird, sondern, dass es für Arbeit, Gesundheit und Bildung verwendet wird.“ Die Arbeiter*innen der Fabrik Paraná Metal erklären wiederum, dass sie die Demonstration mit einer Gruppe von Studierenden der technischen Schule unterstützen.
Bleistifte schreiben weiter
„Dass sich heute, im Gedenken an so ein tragisches Datum in der Geschichte der Studentenbewegung tausende Studierende mobilisiert haben, zeigt auch, dass die Studierenden wieder auf die Straße gehen, dass sie ihre Rechte in ihre Hände nehmen um zu kämpfen, um diese Gesellschaft zu verändern“, erklärt eine junge Studentin. „Die Studenten, die an der Spitze vieler Kämpfe stehen, zeigen einen Weg auf. So, dass den Menschen bewusst wird, dass es nötig ist, raus zu gehen, um zu kämpfen und ein Unterdrückungssystem zu verändern.“
Ein anderer Teilnehmer an der Demonstration, der eher aus der Generationen der 70er stammen könnte, erklärt seine Eindrücke und Gefühle so: „Hier befinden sich alle, die schon lange kämpfen und neue junge Menschen die dazu gestoßen sind. Es ist eine gerechte Sache. Es geht um die Menschenrechte, nicht mehr und nicht weniger. Es geht um das Recht auf Bildung. Hinter uns ist ein Banner zu sehen, das lautet ‘Die Bleistifte schreiben weiter’. Das ist ergreifend, sehr ergreifend.“
Das Recht auf Bildung ist ein Menschenrecht gemäß Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948.
Die Aufarbeitung der Gegenwart ist in Argentinien nicht ohne eine Aufarbeitung der Vergangenheit möglich. Und das gilt nicht nur für Argentinien.
*** Vergleiche hierzu auch den Audiobeitrag der Autorin im Rahmen der Kampagne „Menschen. Rechte. Stärken!“, der (hier) kostenlos angehört oder heruntergeladen werden kann.
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