(Quito, 16. Februar 2023, npla).- Aktuell verlassen so viele Ecuadorianer*innen das Land wie seit der Jahrtausendwende nicht mehr. Manche sprechen schon von einem Exodus. Einige versuchen mit den Auswirkungen, dem Gefühl des Verlassenwerdens kreativ umzugehen. Alles ist besser als Resignation angesichts einer wirtschaftlichen Misere, in der die Menschen buchstäblich verhungern.
Dass Leute aus Quisapincha in die USA migrieren, ist nicht neu
Hugo erzählt: „Ich saß verzweifelt zu Hause, so wie alle Leute. Und als wir so zu Hause eingesperrt waren, kam mir der Gedanke: Sobald sich das mit der Pandemie ein bisschen beruhigt, werden alle in die USA auswandern. Hier gibt es ja nichts, es gibt kaum Arbeit so direkt nach der Pandemie.“ Hugo Chaumana ist 24 Jahre alt und lebt in der Gemeinde Quisapincha in den zentralen Anden Ecuadors. Dass Leute aus Quisapincha in die USA migrieren, ist nicht neu. Im Gegenteil, die meisten Menschen in den ecuadorianischen Anden haben mindestens einen Familienangehörigen oder eine Freundin in den USA. Trotzdem hatte Hugo mit seiner Vorahnung Recht. Hugo selbst hat eine Schwester und einen Bruder, die seit knapp zehn Jahren in den USA leben, und eine Nichte, die sich erst vor wenigen Wochen auf den Weg gemacht hat. Als wir mit ihm sprachen, war sie grade an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze: „Ich dachte also darüber nach, dass mehr und mehr Ecuadorianer in die USA migrieren werden, und da kam mir eine Idee: Ich wollte mit meiner Band ein Musikvideo drehen, in dem wir Lieder über Migration spielen, darüber, was die Migranten auf dem Weg erleiden. Eine Hommage an die Migranten.“
„Kinder sterben buchstäblich vor Hunger“
Marcelo Manotoa, einer der Gemeindevorsteher, erzählt uns, dass in Quisapincha etwa 17000 Menschen leben. Unten im Dorf arbeiten viele Leute im Handel, und oben im Hochland widmen sich die meisten der Landwirtschaft. Marcelo Manotoa erzählt, dass es vor allem die Leute aus dem Hochland sind, die auswandern, denn in den letzten Jahren ist es immer schwieriger geworden, landwirtschaftliche Produkte zu Preisen zu verkaufen, von denen man leben kann. Deswegen bezeichnet Cristina Burneo, Aktivistin und Autorin aus Quito, die aktuellen Migrationsbewegungen als Flucht vor dem Hunger. Ihr macht vor allem die Andenprovinz Chimborazo Sorgen: „In Chimborazo leben heute die meisten Kinder mit chronischer Unterernährung“, erzählt sie. „Kinder sterben buchstäblich vor Hunger, und niemand bringt das mit Migration in Verbindung. Die Provinz leert sich immer mehr, und der Grund heißt Hunger: Die Leute haben keine drei Mahlzeiten am Tag. Es ist ein Exodus ums Überleben.“ In Quisapincha ist die Situation ähnlich, erzählt uns die 74-jährige María Carmen Casicama: „Wir haben nichts. Wir verkaufen unser Heu und unsere Kartoffeln viel zu billig. Und die Sachen wachsen nicht gut, wir haben wenig zum Verkaufen. Deswegen gehen die Leute, alle gehen, aus allen Dörfern.“ María Carmen hat sechs Kinder: drei in Quisapincha und drei in Brooklyn, New York. Alle drei sind mit einem Coyoten in die USA gelangt. Coyoten werden Menschen genannt, die Migrant*innen über die Grenze schmuggeln, oft gegen horrende Summen von 10- 15.000 Dollar, für die sich Menschen hoch verschulden. María Carmen wusste zeitweise nicht, wo ihre Kinder sind, und hat darunter sehr gelitten. Damals, als ihre Kinder Ecuador verließen, war eine der gängigsten Routen direkt per Flugzeug nach Mexiko und von dort in die USA. Im September 2021 haben die USA Mexiko eindringlich empfohlen, Visaregelungen für ecuadorianische Staatsbürger*innen zu erlassen.
Der Druck auf die Migrant*innen bringt immer gefährlichere Fluchtrouten hervor
Seitdem ist dieser Weg schwieriger geworden. Aber wo Not ist, sind Menschen schon immer kreativ geworden, haben neue Wege gefunden, auch wenn sie unbequem sind – oder tödlich. Niemand weiß das besser als Jorge Lucena. Der Musiklehrer aus Venezuela ist vor sechs Jahren nach Ecuador migriert. Seitdem sammelt er Geschichten: von Menschen, die kommen, gehen, bleiben und zurückkehren. „Im September 2022 haben sich etwa 21.000 Ecuadorianer auf den Weg in die USA gemacht“, erinnert sich Jorge. „Es gab ein interessantes Phänomen zu beobachten: Die Menschen sind in Karawanen losgezogen. Venezolaner, Kolumbianer und Ecuadorianer. Erst ging es nach Kolumbien: Wer Geld hatte, mit dem Bus, wer keins hatte, zu Fuß. Es waren Tausende. Im Oktober wurde ich selbst auch zu so einer Karawane eingeladen.“ Erst führte Mexiko Visapflicht für Ecuadorianer*innen ein, dann Guatemala. Jorge sagt, die USA verlagern damit ihre Grenze immer weiter nach Süden. Viele machen sich heute auf den gefährlichen Weg durch die Darién-Enge. Das bedeutet bis zu sechs Tage zu Fuß durch den Dschungel zwischen Kolumbien und Panama, ohne Schutz vor kriminellen Banden und gefährlichen Tieren, ohne Zugang zu grundlegender Infrastruktur. Jorge weiß, wie besorgniserregend diese Entwicklung ist: „Tag für Tag hört man: Der Nachbar ist weggegangen, das Kind von dem und dem ist verschwunden. Jeden Tag eine Tragödie.“
Existenzsicherung im eigenen Land wäre ein Ausweg aus dem Dilemma
Was fehlt, sind politische Maßnahmen, um mit der Situation umzugehen. Cristina Burneo meint, es bräuchte eigentlich wirtschaftliche Maßnahmen, um den Menschen ein existenzsicherndes Leben in Ecuador zu ermöglichen. Aktuell aber spielen die Rücküberweisungen der Ecuadorianer*innen im Ausland eine wichtige Rolle für die krisenhafte ecuadorianische Wirtschaft. Über vier Milliarden Dollar waren es laut Weltbank allein im Jahr 2021, eine Rekordsumme. Es gibt auch keine Programme für die tausende Rückkehrer*innen. Unter US-Präsident Biden ist der Diskurs vielleicht weniger offen rassistisch als während der Trump-Ära, aber das heißt nicht, dass sich die US-amerikanische Politik grundlegend geändert hätte. Im Gegenteil, letzten Dezember gab es Rekordzahlen von festgenommenen und abgeschobenen Migrant*innen. Über 200.000 sind es nach Zahlen der US-Einwanderungsbehörden gewesen. Wenn Menschen unfreiwillig zurückkehren, ist das nicht nur ein finanzielles Desaster, erklärt Cristina Burneo: „Es ist eine Schande. Deine Familie hat vielleicht 10.000 Dollar für den Coyoten bezahlt, und vor allem junge Männer werden sanktioniert, wenn sie es nicht schaffen. Es ist ja so: Du trainierst, gehst ins Fitnessstudio, joggst, stärkst deinen Körper, um die Grenze zu passieren. Du bist jung, du bist ein Mann, du musst stark sein. Es ist demütigend, es nicht über die Grenze zu schaffen.“
Was tun gegen die Stigmatisierung, die Abschiede, die Verzweiflung, wenn die Politik untätig bleibt? Manche machen Musik, andere schreiben. So wie Jorge Lucena, der Geschichtensammler:
Du bist kein Einwohner mehr
Und bald nicht einmal mehr Staatsbürger
Es ist Zeit zu gehen
Du musst los
Auch wenn du nicht willst
Alles zurücklassen, und noch ein wenig mehr
So viel in einen Rucksack passt
Ohne Geld, ohne Kompass
Du nimmst mit, was geht
Alles, was in deinen Kopf passt
Alles, was dein Herz schafft
Alles, was deine Seele umfasst.
Einen spannenden Audiobeitrag findest du hier (deutsch) und hier (spanisch).
Hunger und Perspektivlosigkeit – Migration nimmt immer weiter zu von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Es ist euch wohl ein kleiner Fehler unterlaufen. Der Darién verbindet Kolumbien mit Panamá und nicht mit Perú.
Hallo Juan Carlos, vielen Dank für den Hinweis – ist geändert.
Liebe Grüße