(Tegucigalpa, o.D., Radio Progreso) Die vergangenen Tage und der bisherige Weg stehen den Frauen ins Gesicht geschrieben. Sie sind in einer Notunterkunft im Osten von Honduras untergekommen. Wir sprechen mit einigen von ihnen über ihre Erlebnisse. Manche kommen vom südlichen Teil des Kontinents. Ein paar von ihnen sind nach Nicaragua geflogen und von dort nach Honduras gegangen. Andere erinnern sich mit Schrecken an die Durchquerung der äußerst gefährlichen Darién-Region im Grenzgebiet von Kolumbien und Panama zu Fuß. Es ist der einzige Landweg, über den man weiter nach Costa Rica und Nicaragua und schließlich nach Honduras gelangt. Manche haben auf dem Weg mehr als einen ihrer Träume verloren – und doch haben sie noch genug, um weiterzugehen.
In den letzten Monaten haben die schwarzen Metalltüren der katholischen Unterkunft „Jesus Lebt“ in Danlí an der Grenze von Nicaragua und Honduras tausende Frauen, Männer und Kinder kommen und gehen sehen. Bis zu 250 Migrant*innen können hier unterkommen. Die Zahl der Geflüchteten, die auf dem Weg in die USA Honduras durchqueren, hat sich im Vergleich zum Vorjahr verzehnfacht auf über 190.000. In der Unterkunft herrscht ständige Bewegung: Manche Menschen brechen gerade auf. Sie haben hier mehrere Tage oder Wochen verbracht, um Kräfte zu sammeln. Andere haben für den vor sich liegenden Weg etwas Geld verdient. Und wieder andere kommen gerade erst an. Alleinerziehende Mütter mit ihren Babys sind hier, ganze Familien, aber auch Alleinreisende. Ihre Gesichter sind gezeichnet von der Erschöpfung und von der Unsicherheit, wo und ob eine nächste Unterkunft kommt. Doch hier in dieser Bleibe, die von der katholischen Kirche betrieben wird, haben sie die Möglichkeit, Wäsche zu waschen, auf einem Herd zu kochen, oder einfach auf den bunten Matratzen auszuruhen. Während sie sich ausruhen, unterhalten sie sich über ihre individuellen Erfahrungen.
Für Frauen ist es doppelt schwer
Carmen Venecia aus Venezuela kommt gerade von draußen, wo sie versucht hat, ein bisschen Geld zu verdienen für etwas zu essen. Don Rolando, ein robuster Mann in seinen Sechzigern, der für die Unterkunft verantwortlich ist, hat schon von Carmen erzählt, und dass sie ihr Baby verloren hat. „Eine sehr traurige Geschichte“, sagt er.
Carmen ist von schlanker, mittelgroßer Statur. Ihre dunklen Haare trägt sie in zwei perfekten Zöpfen über ihren Schultern. In dem festen Blick ihrer dunklen Augen zeichnen sich die traumatischen Erlebnisse ab. Carmen ist mit ihrem Mann, ihrer 5-jährigen Tochter und dem zwei Jahre jüngeren Sohn unterwegs. Vor einem Monat beschlossen sie, Venezuela zu verlassen, um sich anderswo eine bessere Zukunft aufzubauen. Nachdem sie Kolumbien hinter sich gelassen hatten, mussten sie den Darién-Dschungel durchqueren. Während sie spricht, faltet sie die Hände, an ihrer rechten Hand wird das Tattoo einer Taube sichtbar. Sie atmet tief. Auf die Frage, an was sie sich erinnert von der Durchquerung, sagt sie: „An meinen Verlust. Ich war schwanger. Ich bin gestürzt, als wir den Berg La Bandera hochgestiegen sind. Hätte ich mich nicht an einem Baum festgehalten, wäre ich jetzt tot. Mein Unterleib hat einen Schlag erlitten und tat weh, aber ich bin weiter gegangen. Vor allem, weil meine beiden Kinder krank waren. Ich wollte so schnell es geht aus diesem Wald raus. Es hat zehn Tage gedauert. Unter Schmerzen bin ich nach Panama gekommen, dann nach Costa Rica. Dort haben sie mich in einer Unterkunft untersucht. Man sagte mir, dass Gefahr bestand, das Kind zu verlieren. Sie haben mich behandelt und die Blutungen hörten auf, aber der Schmerz blieb. Ich war im dritten Monat.
Was ist passiert, als Sie nach Honduras kamen?
In Honduras angekommen, habe ich um Hilfe gebeten, weil ich noch immer starke Schmerzen hatte. Man lieferte mich ins Krankenhaus ein und führte einen Ultraschall durch. Das Kind war seit einer Woche tot. In mir trug ich nur noch dessen Überreste und hatte eine schwere Unterleibsinfektion. Es war mein drittes Kind.
Seit wann wussten Sie von der Schwangerschaft?
Seit einer Woche vor Beginn der Reise. Wir sind trotzdem aufgebrochen, wegen der Zukunft meiner Kinder. Ich wusste, dass alles gut werden würde. Das Baby war für uns eine Überraschung. Im Ultraschall sagte man uns, dass es zwischen 10 und 12 Wochen alt sein muss. Wir haben uns sehr gefreut und es dann so plötzlich verloren.
Haben Sie ihren anderen beiden Kindern gesagt, dass sie schwanger waren?
Ja, und meine Tochter fragt mich noch immer, ob ich hier noch ein Brüderchen in mir trage. Sie redet noch immer von ihrem kleinen Bruder, obwohl ich ihr schon gesagt hab, dass er nicht mehr da ist. Aber mit all ihrer Unschuld sagt sie noch immer, dass er in meinem Bauch ist und ich nichts Schweres tragen soll.
Und was hat ihr Mann gesagt?
Mein Ehemann meint, dass wir weitergehen müssen. Wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben, in die USA zu kommen.
Seit wann sind Sie jetzt hier in dieser Unterkunft?
Seit vier Tagen … nein, seit fünf. Es ist vier Tage her, seit sie mir das leblose Baby entnommen haben. Jetzt erhole ich mich. Die Ärzte sagten, dass wir rund 20 Tage hier bleiben sollen, aber das können wir nicht, wir müssen weiter.
Wann glauben Sie, brechen Sie wieder auf?
Wir schauen gerade, ob wir morgen oder Mittwoch wieder losziehen.
Auf der Straße vor der Unterkunft wechselt sich Carmen mit ihrem Mann ab, um Süßigkeiten zu verkaufen. Trotz allem ist ihre Hoffnung ungebrochen. „Ich weiß, dass Gott groß ist. Ich will nicht zurück nach Venezuela. Was ich am meisten will, ist, mein Ziel zu erreichen. Ich möchte arbeiten und mein Leben so ändern, wie ich es wünsche“, erzählt Carmen.
Monsignore José Antonio Canales, Bischof der Diözese in Danlí, bestätigt, dass der Wald von Darién die schwierigste Teilstrecke für Frauen ist und fügt hinzu: „Es sind die Frauen, die die kleinsten Kinder auf dem Arm tragen und gleichzeitig auf ihre anderen Kinder aufpassen. In der lateinamerikanischen Kultur ist es noch immer so, dass sich die Väter nicht um ihre Kinder kümmern. Daher ist es für Frauen doppelt so schwer“. Elvis Sevilla, Beauftragter für Migrationsangelegenheiten in Danlí, sagt, in 2022 hätten sich besonders viele schwangere Frauen auf den Weg gemacht. Einige haben in Honduras entbunden. Andere seien mit Neugeborenen auf den Armen angekommen, die unterwegs in Panama, Nicaragua oder Costa Rica zur Welt gekommen sind.
„Ein Haus für meine Mutter“
Mit staubigen Füßen in Sandalen betritt gegen Mittag eine kleine Frau die Unterkunft. Sie hat dunkle, zurückgesteckte Haare und trägt einen blauen Pullover über einem bunten Kleid. Tibisay Salcedo setzt sich auf eine Holzbank an einem Baum im Innenhof. Auf die Frage, wie ihr Morgen war, antwortet die 34-Jährige lächelnd, dass er gut war. Sie spricht mit kolumbianischem Akzent. Rund 2.100 ihrer Landsleute haben vergangenes Jahr Honduras durchquert, um in die USA zu gelangen – vergleichsweise wenig: Die Mehrheit der Migrant*innen stammt aus Kuba, Venezuela, Ecuador und Haiti. Bis November waren es im ganzen letzten Jahr mehr als 154.000 Personen. In den Bezirken Danlí und Trojes kamen in diesem Zeitraum 41.900 Frauen, 12.800 Mädchen und 15.600 Jungen an.
Tibisay ist damit einverstanden, ihre Geschichte zu erzählen – unter einer Bedingung: Sie möchte in keinem Video zu sehen sein. Sie will nicht, dass ihre Mutter in Kolumbien sie so sieht, mit den Spuren, die der Weg hinterlassen hat.
Tibisay stammt aus Cartagena de Indias an der Karibikküste Kolumbiens. Mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen im Alter von 15 und 17 Jahren versucht sie nun das zweite Mal, in die USA zu kommen. Beim ersten Mal sind sie von Cartagena nach Mexiko geflogen, konnten dann aber nicht in die USA einreisen. „Ohne uns eine Erklärung zu geben, haben sie uns einfach nicht durchgelassen und uns nach Medellín geschickt“, erzählt Tibisay. In diesem Moment wussten sie, dass sie nicht nach Hause zurückkehren konnten. Sie waren entschlossen, es wieder zu versuchen. Von Medellín fuhren sie 550 Kilometer bis nach Necoclí im Nordwesten Kolumbiens, um von hier die Grenze nach Panama zu überqueren. „In Kolumbien haben wir beide gearbeitet, aber nicht einmal mit zwei Gehältern hat das Geld gereicht. Es war gerade genug für die Miete und Essen. Für den Rest hatten wir kein Geld mehr. Also sagte mir mein Mann, ‚lass uns gehen’.“
Mit der ersten Schwangerschaft hatte Tibisay die Schule abgebrochen, das Abitur aber später nachgeholt und dann eine Ausbildung zur Kaufmännischen Assistentin absolviert. „Du bereitest dich vor, damit es dir in deinem Land nicht schlecht geht und damit du deine Familie nicht verlassen musst. Aber das geht heute nicht mehr, man arbeitet sein ganzes Leben lang und kann sich trotzdem nicht einmal ein Haus leisten“, klagt sie.
Vom Darién-Dschungel blieb Tibisay vor allem in Erinnerung, wie sie einmal fast ertrank, als sie einen Fluss durchqueren musste. Völlig erschrocken von der starken Strömung ließ sie das Seil los, aber ein Junge hielt sie fest. „Ich habe gedacht, dass ich dort sterben muss, aber ich habe an meine Kinder gedacht. Die beiden waren schon drüben auf der anderen Seite. Das war das einzige Mal, dass ich mich wirklich in Gefahr gefühlt habe“, versichert sie. Die Familie ist seit etwa 40 Tagen auf dem Weg. Im Honduras versuchen sie nun, Geld zu verdienen. Ihr Mann erledigt einige Maurerarbeiten, sie selbst verkauft Süßigkeiten.
Haben Sie Erfahrungen gemacht mit Aggressionen oder Übergriffen?
Ja, hier in Honduras. Wenn ich auf die Straße gehe, um etwas zu verkaufen, dann kommen Männer und bieten mir Geld an, mit ihnen zu kommen.
Wurden Sie beleidigt?
Nein. Um mich zu schützen, sage ich ihnen, dass mein Mann da vorne ist, und dann gehen sie weg.
Auf was verwenden Sie als Frau ihre Kräfte?
Meine Kräfte liegen in dem Ziel, das ich erreichen will. Jeden Tag bitte ich Gott, er möge mir die Kraft geben, meiner Mutter in Kolumbien eines Tages ein Haus kaufen zu können.
An ihre Familie zu denken, die sie in Kolumbien zurück lassen mussten, macht Tibisay traurig. Der Gedanke treibt ihr Tränen in die Augen. Dann verabschiedet sie sich, denn es ist Mittagszeit und ihre Söhne warten auf sie in der Unterkunft – der zur Zeit einzige sichere Ort.
Denn obwohl der honduranische Kongress auf Druck von Menschenrechtsorganisationen ein Gesetz verlängert hat, das Migrant*innen Amnestie garantiert, ist eine gewisse Unsicherheit allgegenwärtig. Wer illegal nach Honduras einwandert, muss eigentlich eine Strafe von 236 US-Dollar bezahlen. Das neue Gesetz setzt diese Strafe bis einschließlich Mai 2023 aus. So können Migrant*innen das Land durchqueren, ohne Angst zu haben, festgenommen zu werden – theoretisch. In der Praxis gibt es jedoch immer wieder Berichte von Polizist*innen, die die Gebühr trotzdem verlangen.
Die Regierung in Honduras rechnet für 2023 damit, dass die Zahlen der Migrant*innen weiter steigen. In Danlí, wo laut Elvis Sevilla über 70 Prozent der Geflüchteten ankommen, ist daher Mitte Januar ein neues Zentrum für Geflüchtete eingeweiht worden. Damit wurde auch die Unterkunft Jesus Lebt abgelöst. Anfang Januar wurden hier die letzten Besucher*innen empfangen.
Übersetzung: Patricia Hänsel
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