von Andreas Behn
(Berlin, 22. September 2010, npl).- Noch nie war die Opposition so ratlos wie heute. Es kündigt sich ein Plebiszit zwischen liberal und sozial an, ein Schaukampf zwischen zwei inhaltslosen Programmen.
Unaufhaltsam steigen derzeit die Umfragewerte der Regierungskandidatin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores). José Serra von der rechts-sozialdemokratischen PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira), der im März noch zehn Prozent Vorsprung hatte, fiel Anfang September auf unter 30 Prozent. Übereinstimmend sehen die Meinungsforscher*innen Rousseff bei über 50 Prozent, seit Ende August wird ihr der Sieg im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl vorausgesagt.
Gewählt werden am 3. Oktober neben dem Staatsoberhaupt auch zwei Drittel der Senator*innen, jeweils für acht Jahre, sowie alle 513 Bundesabgeordnete mit vierjährigem Mandat. In den Bundesstaaten werden alle Gouverneur*innen samt den jeweiligen Parlamenten neu bestimmt.
Verkehrte Etiketten
Es scheint, als ginge die Rechnung von Präsident Inácio Lula da Silva, der nach acht äußerst erfolgreichen Regierungsjahren nicht wieder kandidieren darf, in allen Punkten auf. Zuerst hat er seine Vertraute und Kanzleramtsministerin gegen parteiinternen Widerstand zur Kandidatin gekürt. Dann erteilte er allen anderen Kandidaturwünschen innerhalb des breiten Parteienbündnisses seiner Regierung eine definitive Absage und setzte sich ohne Rücksicht auf Verluste unter altgedienten Weggefährten durch.
Statt Auswahl zwischen mehreren Optionen wollte Lula schon im ersten Durchgang ein Plebiszit zwischen dem von ihm verkörperten Modell Brasiliens und dem der einst sozialdemokratischen PSDB – namentlich seines Amtsvorgängers Fernando Henrique Cardoso. Sozial und gerecht gegen neoliberal und elitär, so die einfache wie trügerische Formel des scheidenden Präsidenten.
Fortsetzung der „Erfolgsstory Lula“
Auch das politische Programm der Kandidatin Dilma Rousseff stand von vornherein fest und ist einfach auf den Punkt zu bringen: „Fortsetzung der Erfolgsstory Lula“. Vergebens sucht mensch nach neuen Akzenten, originellen Vorschlägen oder einem neuen Profil. Ohne Erfolg verweist die PSDB darauf, dass es Cardoso war, der die Inflation in den Griff bekam und dass Lula an dessen neoliberaler Wirtschaftspolitik kaum etwas änderte.
Nicht einmal die geradezu groteske Förderung von Megaprojekten wie Staudämmen und des Agrobusiness hat negativen Einfluss auf die Beliebtheitswerte des Präsidenten. Vor allem die große Mehrheit der armen Bevölkerung steht hinter ihm und damit auch hinter seiner Kandidatin, ohne zu bedenken, dass die versprochene Agrarreform oder eine vernünftige Stadtentwicklung nicht einmal mehr im Diskurs der Arbeiterpartei vorkommen.
Machtfaktor Parteienbündnis
Die machtpolitische Stärke der PT ist aber nicht nur darauf zurückzuführen, dass es Lula gelungen ist, eine optimistische Stimmung bezüglich eines neuen, gerechteren und bedeutenderen Brasiliens fast im ganzen Land zu verankern. Entscheidender Träger dieser Politik ist ein breites Parteienbündnis, das aufgrund seiner Heterogenität großen Anteil an der Inkonsequenz seiner politischen Linie hat.
Dieses Bündnis besteht neben einer Vielzahl kleiner Mitte-Linksparteien sowie evangelikal ausgerichteten Politiker*innen vom allem aus der traditionellen PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro). Diese Partei stellt wiederum die größte Fraktion im Parlament und auch die Präsidenten beider Kammern. Politisch wie programmatisch ist die PMDB allerdings vollkommen willkürlich, ihr geht es unumwunden nur um Pfründe und Machtpositionen. Ein Garant für viele Stimmen und stetige Unruhe beim Streit um Posten und Gefälligkeiten.
Rousseff wenig dialogbereit
Dilma Rousseff gilt als autoritär und im Gegensatz zu Lula wenig dialogbereit. Dies könnte sich im Machtpoker nach der Wahl positiv für die PT auswirken. Zugleich sind es diese Eigenschaften, die viele Linke mit Argwohn betrachten. Die Einflussnahme seitens der sozialen Basis dürfte noch schwieriger werden, die Inhalte der sozialen Bewegungen könnten endgültig dem Gebot der Machbarkeit weichen. Die Rechte wirft der einstigen Militanten, die unter der Diktatur verhaftet und gefoltert wurde, vor, sie wolle in Brasilien den Stalinismus oder zumindest den Politikstil von Chávez in Venezuela einführen.
Solche Verleumdungskampagnen und die steten Verschwörungsvorwürfe in den bürgerlichen Medien stoßen aber nur bei der Teilen der Mittel- und Oberschicht auf Interesse – es besteht Einigkeit darüber, dass nur ein wirklicher, handfester Skandal eine weitere PT-Präsidentschaft aufhalten könnte.
Die Grünen und die Pfingstkirche
Die Kandidatin der Grünenpartei PV (Partido Verde) Marina Silva stagniert in den Umfragen seit Monaten bei neun Prozent. Sie gilt als integer und genießt weltweit den Ruf einer konsequenten Umweltpolitikerin. Als Ministerin war sie zuletzt die direkte Gegenspielerin von Rousseff, die als Koordinatorin des Investitions-Beschleuningungsprogramms PAC Pluspunkte für ihre Kandidatur sammeln sollte und Großprojekte im Amazonas durchsetzte.
Silva warf das Handtuch, verließ die Regierung ihres langjährigen Weggefährten Lula und schließlich nach über 30 Jahren Mitgliedschaft auch die PT. Die Kandidatur Marina Silvas, die jenseits der Plebiszit-Rechnungen für viele engagierte Menschen eine neue Wahloption darstellt, stößt jedoch auf ein Problem: Die ist Mitglied der evangelikalen Pfingstkirche Assembleia de Deus und vertritt beispielsweise bezüglich Homosexualität und Abtreibung Positionen, die weder mit dem Profil der PV noch vieler ihrer Unterstützer*innen zu vereinbaren sind.
Desolates Parteienspektrum
Von den weiteren sieben Präsidentschaftskandidaten macht lediglich Plínio de Arruda Sampaio von der linken PSOL (Partido Socialismo e Liberdade) von sich reden. Der 80-jährige ist langjährigen Aktivist sowohl in sozialen Bewegungen wie im Parteienspektrum. Bei der Gründung der PT 1980 war er ebenso beteiligt wie bei der Überwindung der Militärdiktatur. In Umfragen kommt er gerade mal auf ein Prozent der Stimmen, was vor allem dem desolaten und ideologielastigen Zustand des Parteienspektrums, das sich von der PT losgesagt hat, zuzuschreiben ist.
Der Faktor Lula wird, sofern sich die Vorhersagen bestätigen, auch jenseits der Präsidentschaftswahl das politische Gefüge in Brasilien verändern. Die PMDB wird ihren Einfluss in Parlament und Senat weiter ausbauen, während die DEM (Democratas) – die Nachfolgepartei der rechtskonservativen PFL (Partido da Frente Liberal) und wichtigster Koaltionspartner der PSDB – aufgrund jüngster Korruptionsskandale Einbußen erleiden wird. Auch auf Bundesstaatsebene liegt die Regierungskoalition vorne.
In 14 der 27 Bundesstaaten (einschließlich des Hauptstadtdistrikts Brasilia) liegen ihre Kandidat*innen in Führung, darunter Rio de Janeiro und die meisten der Staaten im verarmten Nordosten. Die Opposition liegt in sieben Staaten in Führung, darunter in São Paulo, dem mit Abstand bevölkerungsreichsten Bundesstaat.
* Tipp: Einen ausführlicheren Artikel von Andreas Behn zu den Wahlen in Brasilien findet ihr in der aktuellen Ausgabe der Lateinamerikanachrichten:
http://www.lateinamerikanachrichten.de/index.php?/artikel/3927.html
Schaukampf zweier inhaltloser Parteiprogramme von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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