Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 320 vom 18. Dezember 1997
Inhalt
PERU
BOLIVIEN
BRASILIEN
CHILE
MEXIKO
GUATEMALA
LATEINAMERIKA
INTERVIEW
ARGENTINIEN
ECUADOR
PARAGUAY
KUBA
COSTA RICA
PERU
Ein Jahr nach der Botschaftsbesetzung – Fujimoris Fassade bröckelt
Von Alvaro Alfonso
(Lima, 12. Dezember 1997, npl).- Das Haus ähnelt dem des Films „Vom Winde verweht“. In rustikalem Stil gebaut, fehlt ihm jedoch das Dach im zweiten Stock, Spuren von Explosionen sind zu sehen, und es steht im Hinterhof einer kleinen Militärkaserne in Lima. Niemand wohnt in dem Haus. Niemand lebte dort zuvor noch wird es jemals bewohnt sein. Bis zum 12. Dezember war auch seine Existenz ein Staatsgeheimnis, bis ein stolzer Präsident Alberto Fujimori das Gebäude der Presse vorführte.
In diesem unwirklichen Haus haben sich 142 peruanische Soldaten wochenlang auf ihren Einsatz vorbereitet. Seine leblose Fassade verweist auf ein anderes, herrschaftliches Haus, das am 17. Dezember des vergangenen Jahres von Guerilleros der MRTA (Revolutionäre Bewegung Tupac Amaru) gewaltsam besetzt wurde. In ihm feierten über 500 peruanische und ausländische Gäste den Namenstag des fernen japanischen Kaisers. Die Residenz des japanischen Botschafters, im vornehmen Villenviertel San Isidro gelegen, ist vom Erdboden verschwunden. Sie wurde zerstört, und heute ist nur noch ein brachliegendes Gelände zu sehen, auf dem die Geister der Vergangenheit spazieren.
In der Woche vor dem ersten Jahrestag der Besetzung wird der harten Antwort des Staates gehuldigt. In allen Einzelheiten wird dem Publikum die Operation „Chavin de Huantar“ vor Augen geführt, die am 22. April die längste Geiselnahme in der Geschichte des amerikanischen Kontinents beendete – mit 17 Toten, darunter die 14 Besetzer. Erneut ehrte Fujimori die Helden der Befreiung, in erster Linie seinen Geheimdienstberater Vladimiro Montesino, dessen Rolle als Hardliner und starker Mann im Staat vielen Peruanern ein Dorn im Auge ist.
„Diese Ruhmesfeiern sind fehl am Platz,“ meint der bekannte Fernsehjournalist Cesar Hildebrant. „Es ist nicht der Jahrestag der Befreiung, sondern der Besetzung. Eher sollte heute über die Verantwortlichkeit beispielsweise des Geheimdienstes (von Montesino), der die MRTA-Pläne nicht aufdeckte, diskutiert werden“, so Hildebrant, einer der schärfsten Kritiker der Regierung Fujimori. Kritiker wie Hildebrant hinterfragen die Art und Weise, in der Fujimori das Geiseldrama für seine Politik nutzte. Damals waren die Sympathien für seine Politik stark gesunken. Die Besetzung, die in Peru weitgehend auf Unverständnis stieß, gab Fujimori seine frühere Popularität zurück, da alle dafür eintraten, das Leben der Geiseln zu retten. Später, als sich das Land daran gewöhnt hatte, mit einer besetzten Botschaft in Herzen der Hauptstadt zu leben und Fujimoris Beliebtheit wieder sank, kam der Befreiungsschlag und ein neues Stimmungshoch für den Präsidenten.
Die Aktion der Guerilleros bestimmte das politische Leben in den ersten Monaten dieses Jahres und führte zu einem Waffenstillstand zwischen Regierung und Opposition. Alles begann um 20 Uhr an jenem 17. Dezember, als eine vom Polizeichef noch wenige Tage zuvor totgesagte Gruppe die Residenz des japanischen Botschafters erstürmte. Die MRTA-Guerilleros kamen aus dem Nachbarhaus, wo sie sich mehrere Wochen lang versteckt gehalten hatten. Lima geriet ins Auge der Weltöffentlichkeit. Tausende Journalisten kamen in die Hauptstadt des südamerikanischen Landes und jede kleine Bewegung in der Residenz wurde weltweit berichtet. Unter den Geiseln hätte Fujimori selbst sein können, lediglich aus Termingründen kam er zur Ehrung des Kaisers seiner Eltern zu spät.
Von den ursprünglich über 500 Geiseln blieben 72 bis zum Schluß im Haus gefangen. Minister, Botschafter, hohe Militärs, sogar ein Priester und ein Bruder des Präsidenten waren darunter. Die Verzweiflung und die Angst werden sie nicht mehr vergessen. „Es war unerträglich,“ erinnert sich ein Polizeihauptmann. „Oft habe ich Alpträume. Ich habe mich verändert, führe ein bewußteres Leben und achte mehr auf meine Familie. Manchmal bin ich auch sehr angespannt und wundere mich darüber, daß ich plötzlich viel zu schnell Auto fahre.“
Der Starrsinn der MRTA war zugleich ihr Ende. Sie forderte die Freilassung all ihrer Gesinnungsgenossen aus dem Gefängnis, vermutlich über 300. Für die im Kampf gegen die Terroristen des „Leuchtenden Pfads“ einst so erfolgreiche Regierung war dies undenkbar. Spekulationen besagten damals, die Regierung überlege, zumindest einen Teil der Häftlinge auszutauschen. Andere sprachen davon, Nestor Cerpa, Chef des Kommandos, habe einlenken wollen, aber seine Mitstreiter hätten dies verhindert. Der Erzbischof Cipriani und Kanadas Botschafter suchten vergeblich nach einer friedlichen Lösung, sogar ein Exil für die Besetzer in Kuba war im Gespräch. Von allen Gerüchten und geheimer Taktik bleibt heute – auch mangels überlebender auf Seiten der Besetzer – nur die offizielle Version: Schuld war die Unnachgiebigkeit Cerpas.
So kam der gewaltsame Sturm auf die besetzte Residenz. Die Besetzer waren im Laufe der Zeit unvorsichtig geworden. Sie spielten im Erdgeschoß Fußball, während weiter oben die Flucht vorbereitet wurde. Nicht einmal die Funkgeräte waren entdeckt worden, mit denen die Geiseln die Lage im Haus nach draußen übermittelten. Am 22. April, kurz nach drei Uhr Nachmittags, ertönten die ersten Explosionen, minutenlanges Gewehrfeuer der eindringenden Soldaten, ein totales Chaos. Die Fußballspieler sahen nicht, wer sie erschoß. Außer den 14 Guerilleros starben zwei Soldaten und eine Geisel, der Richter Carlos Giusti – einer der wenigen aufrechten Repräsentanten der peruanischen Justiz. Die Zeugenaussagen, die von standrechtlicher Erschießung einiger Geiselnehmer, die sich bereits ergeben hatten, sprachen, konnten die Euphorie über die gelungene Befreiung nicht trüben: Was im Ausland noch Tage später kritische Medienberichte beschäftigte, war im Peru des erstarkten Fujimori kein Thema.
Durch ein Tunnelsystem, ähnlich dem der archäologischen Ruinen von Chavin de Huantar – gegraben von Bergarbeitern, den heute vergessenen Helden der Befreiung -, gelangten die Soldaten von ihrer Kaserne in die MRTA-Festung, die als uneinnehmbar galt. Kurioserweise wußte Cerpa aufgrund der Geräusche von dem Tunnelbau, klagte aber nur die Doppelzüngigkeit der Regierung an und traf keine Vorsichtsmaßnahmen. Inzwischen ist der Feldherrenruhm Fujimoris verflogen und Meinungsumfragen zeichnen kein gutes Bild von ihm. Sein Vorhaben, im Jahr 2000 entgegen dem Wortlaut der peruanischen Verfassung erneut zu kandidieren, und sein sozial kaum verträgliches Wirtschaftsprogramm haben den Präsidenten geschwächt. Seine Regierung gleicht dem Bild des nachgebauten Hauses: Eine Projektion aus guten Zeiten, eine intakte Fassade, aber ohne Dach und ohne die alten Fundamente. Doch wie dieses Bild auf Fujimori zutrifft, so gleicht die MRTA heute dem brachliegenden Grundstück der ehemaligen Residenz. Der Schlag gegen die Guerilleros war vernichtend, auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, das die MRTA sich eines Tages davonerholt.
BOLIVIEN
Indígenas vertreiben pöbelnden Vizegouverneur
(Cochabamba, 9. Dezember 1997, comcosur-Poonal).- Indígenas der Landgemeinde Arque in der Provinz Cochabamba verwiesen den Vizegouverneur Alberto Vergara aus ihrer Region. Dieser hatte sie während einer Versammlung, auf der der jährliche Verwaltungsplan für die Region ausgearbeitet werden sollte, „lausige Indios“ genannt. Gemeindeführer Vidal Nuñez sprach von einer „Beleidigung und Herabsetzung“. Er erklärte: „Wir sind weder Indios noch haben wir Läuse. Wir sind mit viel Stolz Quechuas, Aymarás und Guaraníes.“ Die Gemeindemitglieder gaben dem Gouverneur ein Frist von 15 Tagen, um eine andere Person für Vergara einzusetzen. „In diesem Land werden wir die Rückkehr der Herren oder der Großgrundbesitzer nicht mehr zulassen. Wenn die Regierung nichts tut, um die Gerechtigkeit in unserer Gemeinde durchzusetzen, dann sind wir bereits, dafür zu sorgen“, so heißt es in einer Erklärung der Gemeindemitglieder.
BRASILIEN
Unternehmer wegen Mord an Umweltschützer verurteilt
(Guaraparí, 9. Dezember 1997, comcosur-Poonal).- Ein Gericht in der Stadt Guaraparí im südöstlichen Bundesstaat Espírito Santo verurteilte den Unternehmer Ailton José Barbosa de Queiroz zu 16 Jahren Gefängnis. Barbosa de Queiroz hatte am 28. Juli dieses Jahres einen Umweltaktivisten umgebracht. Das Opfer war Paulo Vinha, der eine Kampagne über die illegale Ausbeutung eines Naturschutzgebietes anführte, mit der der Unternehmer Geschäfte machte. Das Schutzgebiet trägt nun den Namen Vinhas.
Weniger Land für Indígenas
(Brasilia, 15. Dezember 1997, alc-Poonal).- Der Indígena- Missionsrat (CIMI) hat die Straffreiheit bei Aggressionen gegen die brasilianischen Indígena-Völker angeklagt. Bei 138.000 eingereichten Beschwerden im Jahr 1996 hätten die Behörden in nur 26 Fällen Maßnahmen ergriffen. In seiner „Denkschrift zur Gewalt gegen die Indígena-Völker“ wies der mit der Katholischen Kirche verbundene Rat besonders auf die Situation der Yanomani im Bundesstaat Roraima hin. Die Yanomani hatten unter den meisten Attacken im vergangenen Jahr zu leiden. In seiner Bilanz für 1996 verzeichnet der CIMI einen Anstieg der Gewalttaten gegen die Indígenas auf fast 60.000 Fälle. Das ist ein Anstieg um mehr als 90 Prozent gegenüber 1995. Dabei gab es 500 Tote.
Die Besetzungen von Land der Indígenas nahmen fast 100 Prozent zu. Der Missionsrat macht dafür das Gesetzesdekret 1775/96 verantwortlich, das abgeschlossene Grenzziehungen für Indígena- Territorien wieder in Frage stellte. Dies ermutigte Invasoren zu weiteren Besetzungen und regte Staat und Kommunen an, sich gegen laufende Grenzziehungen zu wehren. Das Dokument erwähnt 17 Invasionen in den Indígena-Gebieten der Bundesstaaten Amazonas, Mato Grosso, Para, Parana und Rondonia. Die Ava-Canoeiro im Bundesstaat Goias verloren 10 Prozent ihres Landes durch den Bau des Wasserkraftwerkes Serra da Mesa, für das viele Hektar Boden überflutet wurden. Andere von Landeindringlingen geschädigte Ethnien sind die Coros Vermelha und die Pataxos in Bahia sowie die Raposa Serra do Sol, Macuri, Wapixana, Taurepang und Ingariko im Bundesstaat Roraima. Der CIMI bemerkt das Präsident Fernando Henrique Cardoso der einzige brasilianische Staatschef in den 90er Jahren ist, der den Landbesitz der Indígenas reduzierte.
Piraterie der internationalen Pharmaindustrie
(Porto Alegre, 13. Dezember 1997, alc-Poonal).- Der Raub der genetischen Reichtümer des Amazonasgebietes hat den multinationalen Pharmakonzernen in vielen Fällen die Entwicklungszeit für neue Medikamente erheblich verkürzt und Einsparungen in Millionenhöhe beschert. Aber von den fabelhaften Gewinnen werde kein Centavo an Brasilien zurückgegeben. Dies erklärt die Abgeordnete Socorro Gomes. Sie ist die Vorsitzende einer Parlamentskommission, die Beschwerden über die genetische Piraterie in der Amazonasregion untersuchte. Gomes kommt zu dem Ergebnis, daß multinationale Unternehmeen eine „verbrecherische Plünderung der genetischen Reichtümer, der Artenvielfalt der Zone und des von den Indígenas, Mestizen und Siedler*innen angehäuften traditionellen Wissens vornehmen“. Vor der Kommission gab es ZeugInnenaussagen über als Tourist*innen verkleidete Wissenschaftler*innen und sich als Umweltschutzorganisationen ausgebende Institutionen, die Exemplare von Flora und Fauna ins Ausland schmuggeln. Die verantwortlichen Parlamentarier*innen haben empfohlen, Forschungsabkommen zu modifizieren und das Gesetz über den Zugang zur Artenvielfalt im brasilianischen Kongreß zum Abschluß zu bringen. Außerdem wird eine „genetische Bank“ vorgeschlagen, die von Brasilianer*innen geleitet werden soll. Die Abgeordnete Gomes erwähnte die Absicht der US-Weltraumbehörde NASA, im kommenden Jahr 300 Wissenschaftler*innen in die Amazonasregion zu entsenden. Sie kritisierte die eigene Regierung wegen Kürzungen im Forschungsbereich, während für Propagandazwecke 410 Millionen Dollar ausgegeben würden. Socorro Gomes bezeichnete das Amazonasgebiet als die größte genetische Bank auf der Erde.
Die einflußreiche Landlosenbewegung MST will mit Lulas
Arbeiterpartei die Wiederwahl von Präsident Cardoso verhindern
Von Flavio Lenz
(Rio de Janeiro, 17. Dezember 1997, npl).- Die brasilianische Landlosenbewegung (MST – Movimento Sem Terra) hat sich für das kommende Jahr viel vorgenommen. Sie will verhindern, daß der sozialdemokratische Präsident Henrique Cardoso im Oktober wiedergewählt wird.
Vergangene Woche kündigte der MST an, Hunderttausende Semterras (Landlose) würden den Kandidaten der oppositionellen Arbeiterpartei PT, Ignacio Lula da Silva, unterstützen. Schon bei seinen beiden ersten – erfolglosen – Anläufen 1989 und 1994 konnte Lula auf die Sympathien der Landarbeiter zählen, doch hatte der MST damals kaum Präsenz in den Massenmedien. MST-Sprecher Pedro Stedile: „Wir werden das ganze Land in Aufruhr bringen, denn nur Lula kann dem neoliberalen Modell eine realistische Alternative entgegensetzen.“
Seit einigen Jahren sind die Semterras die mit Abstand einflußreichste Bewegung in Brasilien. Ihre Forderung nach einer zügigen Landreform im fünftgrößten Land der Welt, in dem weniger als ein Prozent der Grundbesitzer 55 Prozent des fruchtbaren Bodens ihr eigen nennen und zumeist nur extensiv bewirtschaften, unterstützen Umfragen zufolge neun von zehn Brasilianer. In allen Bundesstaaten haben die Semterras brachliegendes Land besetzt. So entstanden bislang 5.507 Siedlungen, von denen viele nach langem Ringen inzwischen legalisiert sind. Die oft in den Slums der Großstädte rekrutierten Besetzer ernähren sich auf dem Land durch den Anbau von Lebensmitteln und erwirtschaften Überschüsse, mit denen Schulen und andere soziale Einrichtungen finanziert werden.
Wenn es dem MST gelingen sollte, sein erstaunliches Mobilisierungsgeschick im Wahlkampf zur Geltung zu bringen, könnte der bislang erfolgreich regierende Cardoso Schwierigkeiten bekommen. Durch seine neoliberale Wirtschaftspolitik war es dem Intellektuellen, der in den 70er Jahren noch linksradikaler Gegner der Militärdiktatur war, gelungen, eine stabile Währung zu schaffen. Doch immer mehr Menschen, die Cardoso die wiedergewonnene Kaufkraft ihres wenigen Geldes danken, klagen über den Verlust von Arbeitsplätzen und soziale Leistungen.
Schon dieses Jahr haben die Aktionen des MST, der Anfang der 80er Jahre aus katholischen Basisgemeinden hervorging, großes Aufsehen erregt. Die Semterras organisierten einen zweimonatigen Marsch auf die Hauptstadt Brasilia, der mit einer landesweit übertragenen Demonstration zum Jahrestag eines Massakers, bei dem am 17. April 1996 19 Landlose im nördlichen Bundesstaat Para von der Polizei erschossen wurden, endete. Drei Monate später demonstrierten sie in 13 Landeshauptstädten, und immer die gleiche Forderung: Eine gerechte Agrarreform.
Auch die Justiz bescherte dem MST Schlagzeilen. Ein Gericht in Espirito Santo verurteilte den MST-Koordinator Jose Rainha wegen angeblichen Mordes zu 26 Jahren Haft. Diesen Ausgang des als politisch bezeichneten Prozesses bedauerte sogar Präsident Cardoso: „Die Geschworenen haben sich möglicherweise geirrt“. Nicht auszuschließen, da diese zumeist Angehörige und Freunde des getöteten Grundbesitzers waren. Die Revision findet 1998 statt.
Doch warum solch solidarische Haltung gegenüber dem Motor der Opposition? Zum einen, weil eine Agrarreform auch zum Regierungsprogramm gehört und ihre Durchführung längst nationaler Konsens ist. Die Kriminalisierung besetzender Landloser ist dadurch für die Regierung schwierig geworden. Andererseits ist es den Semterras gelungen, andere soziale Bewegungen und Unzufriedene zu integrieren. Gemeinsam mit Arbeitslosen kritisieren sie die Privatisierungspolitik, unterstützen Obdachlose bei der Besetzung leerstehender Gebäude und sogar Teile der Polizei, die im Juli für höhere Löhne streikten, konnte auf verbale Unterstützung seitens des MST rechnen.
Das Vorgehen der Semterras, friedlich und unermüdlich auf ihre Rechte zu pochen, ist überzeugend. 1997 organisierten sie 180 neue Besetzungen, durch die 60.000 Familien eine neue Bleibe und ein Auskommen fanden. Vor jeder Besetzung wird genau geprüft, ob das betreffende Land wirklich unzureichend genutzt wird und wie die Besitzverhältnisse sind. Das dauert bisweilen Jahre. Sind die mit schwarzem Plastikplanen gedeckten Hütten erst einmal errichtet, wird der Alltag organisiert. Jeweils zehn Familien wählen einen Vertreter, so daß Gremien entstehen, die das Lager basisdemokratisch leiten. Es werden Kommissionen gebildet, die sich um gemeinsames Kochen, den Bau der Siedlung sowie die Aufteilung des Landes, die Öffentlichkeitsarbeit und den Schutz des Geländes organisieren. Es gelten strenge Regeln: Wer betrunken in das Lager kommt, wird ermahnt, wer die Frau eines anderen belästigt, muß gehen.
Nicht immer bleibt es friedfertig. In einigen Landesteilen haben Grundbesitzer bewaffnete Banden angeheuert, die Besetzungen verhindern sollen und Semterras verfolgen. Mehrere Hundert Landlose sind bereits bei Auseinandersetzungen getötet worden. Eingekeilt zwischen den Forderungen beider Seiten, siedelt die Regierung im Rahmen ihres Reformvorhabens Landlose auf enteigneten Ländereien an. 82.000 Familien sollen es dieses Jahr gewesen sein, der MST meint jedoch, es waren nur 58.000. Haarspalterei, vergleicht man die Zahlen mit den Zielen der Semterras: 4,5 Millionen Familien sollen möglichst bald angesiedelt werden, während die Regierung bis Ende kommenden Jahres 280.000 Familien Land in Aussicht stellt.
Das im November von der Regierung geschnürte Wirtschaftspaket – im Zuge der Börsenschwankungen war die brasilianische Währung Real stark unter Druck geraten – spielt der Opposition in die Hände. , Dadurch werde die soziale Krise weiter verschärft, glaubt Jose Stedile. Zwar konnten die erhöhten Zinsen die Kapitalflucht ins Ausland bremsen, andererseits wurden Kredite für Kleinproduzenten unerschwinglich, wodurch Rezension und noch mehr Arbeitslosigkeit droht.
Diese pessimistische Einschätzung hat die MST-Führung bewogen, sich Lulas Arbeiterpartei anzunähern. Dieser hat im Gegenzug eine schnelle Durchführung der Agrarreform und Verhandlungen mit der Landlosenbewegung über die Wirtschaftspolitik im Falle eines Wahlsieges zugesagt .
CHILE
Der StudentInnenverband hat eine Präsidentin – Erfolg der
kommunistischen StudentInnen
(Santiago de Chile, Dezember 1997, fempress/comcosur-Poonal).- Zum ersten Mal in in der 91jährigen Geschichte des StudentInnenverbandes der staatlichen Universität in Santiago de Chile hat eine Frau die Präsidentschaft inne. „Das historische Ereignis macht uns alle glücklich. Es ist wichtig, daß eine Frau anfängt, die Verantwortung für Führung und Vorsitz wahrzunehmen. Potenziert führt das zu einer Entwicklung von Frauen in anderen Bereichen“, sagt Marisol Prado. Die Medizinstudentin, aktives Mitglied der Kommunistischen Jugend, will als neue Präsidentin Protagonistin der Zukunft sein und intensiv an der Restrukturierung eines neuartigen Systems für die höhere Bildung teilnehmen.
Nach allgemeiner Einschätzung hat sich durch die Wahl von Prado nicht nur die Position der Frauen gestärkt, sondern auch der Einfluß der Jugendorganisation der oppositionellen Kommunistischen Partei an der Universität ist gefestigt. Überraschender noch war ihr Triumpf an der Katholischen Universität, die als traditionelle Festung der rechten und stark konservativen Kräfte gilt. An dieser Universität kandierten Kommunist*innen und andere linke studentische Organisationen auf einer gemeinsamen Liste.
Enttäuschung und Spannungen bei Regierungskoalition
(Mexiko-Stadt/Santiago de Chile, 17. Dezember 1997, pulsar- Poonal).- Obwohl die Parteien der chilenischen Regierungskoalition bei den Wahlen am 11. Dezember als Sieger hervorgingen, hat das Ergebnis bei ihnen für einen Stimmungsdämpfer gesorgt. Dafür gibt es gleich mehrere Gründe. Im Abgeordnetenhaus haben sie zwar immer noch eine deutliche absolute Mehrheit, verloren jedoch gegenüber dem Ergebnis von 55 Prozent der vorherigen Wahl über vier Prozentpunkte. Die Rechte kam auf 36 Prozent der Stimmen, drei mehr als zuvor. Schwerwiegend ist das Resultat bei den Senatsteilwahlen. Statt wie im Stillen auf Regierungsseite gehofft, die dort wegen verschiedener Sonderregelungen (vgl. Poonal 319) bestehende Dominanz der Rechten brechen zu können, konnte diese sogar noch einen Sitz dazu gewinnen. Innerhalb der Rechten schaffte die Unabhängige Demokratische Union, in der die besonders treue Anhängerschaft des Ex-Diktators General Augusto Pinochet versammelt ist, einen Neuaufschwung. Dabei ist es für die Regierung nur ein schwacher Trost, daß die Rechte wenig Stimmen dazu gewann, sondern von der mit 18 Prozent ungewöhnlich hohen Zahl von Protestwähler*innen profitierte, die nicht angekreuzte oder anderweitig ungültig gemachte Wahlzettel abgaben. Wichtige Verfassungsänderungen, die das Land weiter demokratisieren könnten, sind gegen die alten politischen Kräfte im kommenden Jahr nicht durchsetzbar.
Innerhalb der Regierungskoalition aus Christdemokraten, Sozialisten, den Radikalen Sozialdemokraten und der Partei für Demokratie hat es ebenfalls Verschiebungen gegeben. Die Christdemokraten sackten von 28 auf knapp unter 23 Prozent der Stimmen ab, während sich die Sozialisten mit ihren Verbündeten von der Partei für Demokratie bei gut 23 Prozent halten konnten. Damit stellt sich die Frage der KandidatInnenkür für die Präsidentschaftswahlen von 1999 neu. Die Christdemokraten waren sich bisher sicher gewesen, zum dritten Mal in Folge eine Person aus ihren Reihen für die Koalition aufzustellen, obwohl der sozialistische Bauminister Ricardo Lagos der weitaus populärste Politiker in der Bevölkerung ist. Nachdem sie zuerst einen kaum konsensfähigen Kandidaten vom rechten Parteiflügel im Blick hatten, reagierten die Christdemokraten nach den Wahlen schnell. Die Senatorin Carmen Frei, Schwester des chilenischen Präsidenten, schlug ihren Senatskollegen Gabriel Valdés vor, der auch bei den Regierungspartnern Ansehen genießt. Valdés lehnte eine Nominierung aber vorerst ab.
MEXIKO
Neue Kongreß-Kommission für Gerechtigkeit zwischen den
Geschlechtern
(Mexiko-Stadt, Dezember 1997, fempress-poonal).- Erstmalig in der Geschichte des Mexikanischen Kongresses wurde eine Kommission für die Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern mit folgenden Zielen konstituiert: Überprüfung, Modifizierung und Vorschlag von Gesetzen, die die Realität der Frauen des Landes verbessern. Die Kommission setzt sich aus Abgeordneten der fünf Parteien zusammen, welche die Legislative bilden: Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI), Partei der Demokratischen Revolution (PRD), Partei der Nationalen Aktion (PAN), Grüne Ökologische Partei Mexikos (PVEM) und Partei der Arbeit (PT).
Die PRD-Abgeordnete Alma Angélica Vucovich wird der Kommission die ersten sechs Monate vorsitzen. Während der formellen Eröffnungsitzung erklärte sie: „Wenn auch laut Verfassung die Frauen und Männer vor dem Gesetz gleich sind, so genügt das nicht, um eine schnelle Transformation der Mechanismen von Diskriminierung und Ungleichheit zu fördern, unter denen wir Frauen leiden.“ Die Kommission sollte ihrer Meinung nach eine Verbindungsbrücke zur Gesellschaft sein, ein Netzwerk angesichts der Gewalt gegen Frauen gründen, sowie eine Reform in Bewegung setzen, die den Zugang der Mexikanerinnen zu Krediten und Wohnraum erlaubt und gewährleisten, daß der Staatshaushalt Mittel für Projekte bestimmt, die das Leben der Mexikanerinnen verbessern.
GUATEMALA
Rücktritt in der staatlichen Landinstitution
(Guatemala-Stadt, 5. Dezember 1997, cerigua-Poonal).- Das umstrittene präsidentielle Büro für die Lösung von Landkonflikten ist vor eine weitere Belastungsprobe gestellt. Der Leiter Alvaro Colom trat nach nur fünf Monaten Amtszeit zurück. Grund ist offenbar Überdruß angesichts des geringen Handlungsspielraum des Büros gegenüber den Problemen, die zu seiner Entstehung führten. „Die Einrichtung sollte mehr in den ländlichen Gegenden präsent sein, aber sie wurde in der Personalausstattung eingeschränkt“, erklärte Colom. Er begründete seinen Schritt ebenfalls mit fehlender Unterstützung und mangelnden Vorgaben durch die Regierung. „Die Exekutive hat nie klar über die Dinge gesprochen. Es gab immer nur Gerüchte, die sie nie aufgeklärt hat.“ Von den 120 bei ihr eingereichten Fällen, löste die Einrichtung nur ganze vier. Die Regierung nannte für den Rücktritt Differenzen zwischen Colom und dem übrigen Vorstand des Büros als maßgeblich. Diese Version stritten die Beteiligten jedoch ab.
Mehrere Campesinogruppen fürchten nun, mit dem scheidenden Leiter ausgehandelte Abkommen könnten ihre Gültigkeit verlieren. „Die angefangenen Vorgänge sollten weitergeführt werden, denn für die Bevölkerung sind sofortige Antworten wichtig“, so Leocadio Juracan von der Nationalen Koalition kleiner und mittlerer Produzent*innen (CONAMPRO). Auch in Chajul, Provinz Quiche, wurde der Abgang Coloms beklagt. In Chajul sind sechs Landkonflikte anhängig, die das Büro lösen soll. Bürgermeister Manuel Asicona bezeichnet die Landstreitereien als Zeitbombe. Er bedauerte den Entschluß von Colom mit dem Hinweis, die wenigen gemachten Fortschritte seien unter seiner Leitung zustande gekommen. Das präsidentielle Büro für die Lösung von Landkonflikten entstand infolge der Friedensabkommen von 1996. Es sollte Verhandlungslösungen fördern und Landarbeiter*innen, die die Verletzung ihrer Arbeitsrechte berichteten, Rechtshilfe geben. Doch die mehrere Dutzend zählenden Landbesetzungen fallen nicht in seinen Zuständigkeitbereich.
Widerstandsdörfer: Ende einer langen Reise
(Guatemala-Stadt, 9. Dezember 1997, cerigua-Poonal).- Nach mehr als einem Jahrzehnt, in dem sie als Flüchtlinge im eigenen Land lebten, werden die Bewohner*innen der sogenannten Widerstandsdörfer (CPR) des Hochlandes bald ein ständiges Zuhause haben. Obwohl das Datum für die endgültige Wiederansiedlung von mehr als 8.000 Menschen noch nicht feststeht, schloß die Regierung den Kauf von vier Grundstücken ab, wo sie leben werden. Nach den Angaben der CPR ist ihre Bevölkerung schon in vier Gruppen aufgeteilt. Der größte Block soll sich an der Südküste ansiedeln, eine zweite Gruppe in der Region des Ixcán (Provinz Quiche). Die dritte Gruppe wird auf ihre alten Landstücke in den Quiche-Dörfern Nebaj und Cotzal zurückkehren, während der vierte Block in Chajul (ebenfalls Quiche) auf den derzeit bewohnten Grundstücken bleiben soll.
In Erwartung ihrer Neuansiedlung haben die Gemeinden nicht mehr für die Ernten im kommenden Jahr ausgesät. „Wir sind gespannt auf den Zeitplan. In unseren Gemeinden haben wir mit Veränderungen begonnen und uns besser organisiert, da wir von unseren sofortigen Ortswechsel ausgegangen sind“, heißt es in einer Stellungnahme der CPR. „Wir sind Zeug*innen des Schlußkapitels eines Kampfes… und dem Beginn eines anderen Lebensabschnittes.“ Die Verhandlungen über den Landkauf durch die Regierung dauerten zwei Jahre. In den frühen 80er Jahren, flohen die Campesinos, die später die Widerstandsdörfer formten, vor der Politik der verbrannten Erde, die von den Streitkräften durchgeführt wurde. Doch statt wie tausende anderer Guatemaltek*innen die Grenze nach Mexiko zu überqueren, blieben sie im Land und versteckten sich im Dschungel. Dabei waren sie ständig der Verfolgung und Bombardierung durch die Militärs ausgesetzt. Erst 1991 gingen sie mit ihrer Sache an die Öffentlichkeit.
Maquila-Unternehmen verliert Steuervorteile
(Guatemala-Stadt, 11. Dezember 1997, cerigua-Poonal).- Das guatemaltekische Wirtschaftsministerium hat eine Steuerbefreiung für das Unternehmen Sun Sil widerrufen. Die Teilfertigungsfirma mißachtet den Informationen nach die Rechte von ihr in Korea beschäftigten guatemaltekischen Arbeiter*innen. Laut einer von der Tageszeitung „Siglo Veintiuno“ zitierten ministeriellen Entscheidung, wird Sun Sil nun Einkommensteuer, Mehrwertsteuer und Zölle zahen müssen, weil es auf die Warnungen des Ministeriums bezüglich der Arbeitsverletzungen nicht eingegangen sei (vgl. Poonal 318). Vertreter*innen der Maquila-Arbeiter*innen begrüßten das Engagement, im Ausland beschäftigte Arbeiter*innen zu schützen. Sie wiesen jedoch darauf hin, Gleiches müsse bei den Teilfertigungsfabriken im eigenen Land geschehen. „Jede neue Sensibilität für den Respekt gegenüber den Arbeiter*innen ist willkommen“, erklärt Teresa Casertano von der Amerikanischen Vereinigung „Labor Solidarity Center“. Aber ich denke, es ist eine Fehlleitung von Energien und Anstrengungen vonseiten der guatemaltekischen Regierung, nach den Bedingungen einiger hundert guatemaltekischer Arbeiter*innen in Korea zu sehen, wenn hier Abertausende vor dem Arbeitsministerium Hilfe und Unterstützung fordern und mit leeren Händen weggehen.“ Die Regierung gibt an, derzeit 133 – von insgesamt etwa 650 – Maquila-Unternehmen im Land wegen Mißbräuchen überprüft zu haben. 99 seien ihrer Steuerprivilegien enthoben worden, weitere 34 gezwungen worden, ihren arbeitsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen.
LATEINAMERIKA
Bessere Gesundheit für Jugendliche durch Aufklärung
Von Thaís Aguilar
(San José, 3. Dezember 1997, sem-Poonal).- „Wir sind nicht das Problem, sondern Teil der Lösung. Wir wollen gehört werden.“ So die Forderung einer Gruppe lateinamerikanischer Jugendlicher auf dem „Ersten Regionaltreffen über Sexual- und Reproduktionsgesundheit im Heranwachsendenalter“. Das Treffen fand Anfang dieses Monats in Costa Ricas Hauptstadt San José statt. Dazu eingeladen hatten das regionale Büro des Bevölkerungsfonds der UNO (UNFPA) und die staatliche Sozialversicherung Costa Ricas. Expert*innen und Jugendliche kamen zum ersten Mal in dieser Form zusammen, um Leitlinien für den Bevölkerungsfonds festzulegen.
Die Vertreter*innen von UNO-Einrichtungen, der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (OPS), Regierungen und Nicht- Regierungsinstitutionen stimmten darin überein, daß die Jugendlichen die Zukunft der Länder sind und daß die „Erwachsenenpositionen“ beiseite gelassen werden müssen, wenn die Anliegen und Forderungen der Heranwachsenden Berücksichtigung finden sollen. Die Jugendlichen verlangten Respekt vor ihren Ideen und ihren Verhaltensweisen, Verständnis für ihre Lebenssituation und bessere sowie offenere Information über ihre Sexualität. Die Teilnehmer*innen kamen zu dem Ergebnis, daß Sexualerziehung nicht in der kritischen Phase des Heranwachsens, sondern so früh wie möglich anfangen muß. Dabei solle Nachdruck auf die Vermeidung von Geschlechtskrankheiten und frühzeitiger Schwangerschaften gelegt werden.
In dem Bewußtsein über die Existenz konservativer Gruppen und Diskurse gegenüber dem Thema Sexual- und Reproduktionsgesundheit bei Heranwachsenden sprachen sich die Expert*innen für den allgemeinen Dialog aus, der klar macht, daß offen über die Probleme der Jugendlichen gesprochen werden muß. Angesprochen wurde auch die Notwendigkeit, den jugendlichen Gruppen der Indígenas, der Schwarzen sowie in den städtischen Randgebieten und in den Landregionen eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Zu den Vorschlägen gehörte ein formelles lateinamerikanisches Netz, das den Austausch von Menschen und technischen Ressourcen erlauben soll. Der Bevölkerungsfonds soll dieses Programm initiieren. Konkrete Projekte zur Sexual- und Reproduktionsgesundheit wurden unter anderem aus Kolumbien, Chile, El Salvador und Costa Rica vorgestellt.
Die 143 Millionen Heranwachsenden in Lateinamerika stellen etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung des Kontinents. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern sind dabei beträchtlich. Während Peru genau im Durchschnitt liegt, machen die Heranwachsenden in Chile nur 10 Prozent der Bevölkerung aus. In den Ländern Bolivien, El Salvador, Guatemala, Nicaragua, Honduras, Ecuador, Haiti, Mexico, Paraguay und der Dominikanischen Republik ist ungefähr die Hälfte der Bevölkerung jünger als 20 Jahre. Dies macht die Bedeutung von wirksamen Programmen im Bereich der Sexual- und Reproduktionsgesundheit deutlich. Geschlechtskrankeiten sowie die HIV-Infektion sind eine ernsthafte Bedrohung für diese Alterschicht. Vorsorgekampagnen sind nach den geschilderten Erfahrugen auf dem Treffen in Costa Rica oft an der Wirklichkeit vorbeigegangen.
INTERVIEW
„Sexual- und Reprodruktionsgesundheit fördern“ – Gespräch mit
Marisela Padrón, Leiterin des Bevölkerungsfonds der Vereinten
Nationen (UNFPA) für Lateinamerika und die Karibik
Frage: Welches sind die Strategien und kurzfristigen Vorschläge des Bevölkerungsfonds für Sexual- und Reproduktionsgesundheit?
Padrón: Die Länder waren in ihren konkreten Forderungen, auf die der UNFPA eingehen kann, sehr deutlich. Sie verlangen eine bessere Koordination über das Thema zwischen den Institutionen. Ich spreche von UNICEF, der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (OPS), dem Bevölkerungsfonds, der Internationalen Arbeitsorganisation (OIT) und dem Welternährungsfonds (FAO). Die Reproduktionsgesundheit ist in erster Linie im Zuständigkeitsbereich des UNFPA. Wir müssen die Abstimmung zwischen den Einrichtungen besonders in diesem Moment fördern, in dem die Zusammenarbeit von Geberländern mit Lateinamerika abnimmt. Darum müssen wir die wenigen vorhandenen Ressourcen potenzieren. Von uns wird verlangt, eine effektivere Brücke zwischen Regierungen und den Nicht-Regierungsorganisationen im Bereich der Sexual- und Reproduktionsgesundheit zu sein. Diese Verpflichtung verstärkte sich ab der Konferenz in Kairo (Weltbevölkerungskonferenz von 1994).
Einige Länder und Regierungen arbeiten aus sehr verschiedenen Gründen immer noch widerwillig mit den NGOs zusammen. Ich glaube, weil sie deren Potential und angesammelte Erfahrung nicht kennen. Die NGOs haben mit ihren Untersuchungen eine genauere Kenntnis der Probleme der Jugendlichen ermöglicht. Gleichzeitig haben einige von ihnen Dienstleistungen eingeführt, die nur wegen fehlender Mittel nicht für die breite Masse zugänglich waren, obwohl das wichtig wäre. Die NGOs waren auch in der Ausbildung erfolgreich. Die Klarheit, die (bei ihnen) im Bereich der Sexual- und Reproduktionsrechte besteht, ist heute höchst wichtig, denn es gibt viel Verwirrung und den Widerstand konservativer Gruppe, über das Thema zu diskutieren. Die NGOs haben viele dieser Hindernisse überwunden und geholfen, Konzepte zugunsten dieser Themen zu entwickeln.
Ein wichtiges Ergebnis dieses Treffens ist die Verpflichtung, uns mit den Regierungen zusammenzusetzen, damit wir ihnen bei einer besseren Koordination helfen und mit den engstirnigen Visionen brechen, die die Programme für die Heranwachsenden haben. Regierungen und die Gesellschaft allgemein müssen die Jugendlichen als eine Bevölkerung mit Rechten anerkennen, die sich in einer Phase der Definition, Identität und der Strukturierung von Lebensprojekten befindet. Wir werden weiterhin die Beteiligung der Heranwachsenden unterstützen. Denn die erfolgreichsten Programme sind zweifellos die, die die Jugendlichen einbeziehen und auf dem Gespräch mit ihnen aufbauen.
Frage: Was ist der Plan der UNFPA, um mit den konservativsten Kreisen der Gesellschaft zurechtzukommen, die sich einer offeneren Erziehung und Information widersetzen?
Padrón: Die wesentliche Arbeit müssen die Menschen in den jeweiligen Ländern selbst machen. In diesem Sinne hat die Frauenbewegung meiner Auffassung nach eine sehr wichtige Mission. Auch die Bewegungen der Jugendlichen können den Erwachsenen die Notwendigkeit deutlich machen, über diese Themen zu sprechen. Wir müssen uns dem Thema der Sexualerziehung stellen und es ist ein wichtiges Thema. Ich glaube, darüber gibt es ein wachsendes Bewußtsein. Die Forschung fördern und informieren ist sehr wichtig. Denn mit den Daten in der Hand, verstehen (auch) die konservativen Gruppen die Bedeutung dieser Arbeit.
Frage: Der UNFPA stellt stark das Problem der Schwangerschaft in den Vordergrund. Wird er auf diesem Weg weitermachen?
Padrón: Nein. Der Fonds ist sich der Probleme in diesem Bereich bewußt: die Ausbreitung von AIDS unter Jugendlichen, die Geschlechtskrankheiten, die Abtreibung, die Suizide. Aber dies sind Probleme, die einen kleinen Teil der Erwachsenen betreffen. Der größere Teil ist mehr oder weniger gesund. Wir müssen zu einer besseren Information beitragen, damit die Sexualität auf eine gesunde, vollständige Art (forma sana) angenommen wird und mit verantwortlichem Verhalten verbunden ist. Unsere Aufgabe ist es, die Sexual- und Reproduktionsgesundheit zu fördern. Dabei ist der Hinweis vonnöten, daß viele der Probleme mit der Armut verknüpft sind. Die Armen werden am meisten davon betroffen. Deswegen müssen diese Probleme mit doppeltem Vorrang angegangen werden.
ARGENTINIEN
Widerstand gegen die Todesstrafe
(Bünos Aires, 13. Dezember 1997, alc-Poonal).- Die angekündigte
Möglichkeit, die Regierung könne versuchen, die Todesstrafe in Argentinien wieder einzuführen, ist von breiten Kirchenkreisen entschieden zurückgewiesen worden. Die ökumenische Bewegung für die Menschenrechte (MEDH) spricht sich in einer Erklärung für die „bedingungslose Verteidigung dieses geerbten Schatzes, des Lebens“ aus. Hingewiesen wird ebenfalls auf den Widerspruch zur Verfassung, von Argentinien unterschriebenen internationalen Abkommen und zum „geschichtlichen und humanistischen Verständnis des argentinischen Volkes“. Die im Land bestehende Unsicherheit müsse durch eine Politik gelöst werden, die für alle Bewohner*innen ein würdiges Leben garantiere. Der Methodistenbischof Aldo Etchegoyen und sein emeritierter katholischer Kollege Miguel Hesayne gaben eine gemeinsame Pressemitteilung heraus, in der die Todesstrafe als „anti-christlich, ungerecht, unnötig und nutzlos“ bezeichnet wird. Ihr Rachecharakter setze die Gesellschaft, die die Strafe anwende, selbst herab. Die Bischöfe erklären, die Kriminalität sei ein Abfallprodukt der Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Strukturen.
Kritik an schleppenden Ermittlungen zum Attentat auf jüdisches
Gemeindezentrum in Buenos Aires.
Von Victor Sukup
(Buenos Aires, 18. Dezember 1997, npl).- Fast dreieinhalb Jahre nach dem verheerenden Bombenanschlag auf das jüdische Gemeindezentrum AMIA in Buenos Aires geraten Teile der argentinischen Polizei in das Visier der Ermittler. Die Täter sind von den Behörden noch immer nicht ausfindig gemacht, geschweige denn verurteilt worden. Im Gegenteil, viele jüdische Organisationen haben wiederholt darauf hingewiesen, daß die Ermittlungen zu dem Anschlag durch Nachlässigkeit und scheinbares Desinteresse der argentinischen Polizei verschleppt würden.
Bei dem Anschlag am 18 Juli 1994 wurden durch eine Autobombe 86 Menschen getötet und über 300 zum Teil schwer verletzt. Bereits 1992 waren bei einem Anschlag auf die israelische Botschaft in der argentinischen Hauptstadt 30 Menschen getötet worden.
Seit dem Besuch des US-Präsidenten im Oktober ist jedoch Bewegung in den Fall gekommen. Clinton, der sich mit Angehörigen der Opfer des Bombenattentats traf, sprach sich gegenüber dem argentinischen Präsidenten Carlos Menem für eine energischere Verfolgungen der Schuldigen aus. Das hatte scheinbar seine Wirkung: Ende November wurde die bereits bestehende Untersuchungskommission durch eine auf Terrorismus spezialisierte Polizeieinheit verstärkt.
Seit dem Attentat, das ein sechstöckiges Gebäude vollkommen zerstörte, sprechen die Ermittler von einer Spur, die auf eine Mittäterschaft der iranischen Botschaft schließen lasse. Beweise hierfür gibt es bis heute allerdings keine. Jetzt geraten ehemals hohe argentinische Polizeibeamte und Abgeordnete ins Zwielicht, an erster Stelle der Ex-Polizeikommissar Juan Josi Ribelli. Er hat, wie inzwischen bekannt wurde, kurz nach dem Anschlag auf das AMIA- Gebäude 2,5 Millonen US-Dollar bisher unbekannten Ursprungs erhalten und wird außerdem verdächtigt, das Auto beorgt zu haben, das bei dem Anschlag verwendet wurde.
Ribelli wurde schon seit längerem argwöhnisch von Staatsanwälten und Finanzbeamten beobachtet, bis er im Sommer 1996 verhaftet wurde. In seiner Position als Polizeikommissar der Provinz Buenos Aires gelang es ihm, auf zweifellos illegale Art und Weise in den Besitz von Supermärkten, Grundstücken und eines nicht unbeträchtlichen Geldvermögen zu kommen. Korruption ist in diesem Zusammenhang noch das kleinste Delikt, dessen er verdächtigt wird.
Zusätzliche Brisanz erhalten diese Enthüllungen vor dem Hintergrund, daß Ribelli ein Zögling des damaligen Polizeichefs der Provinz Buenos Aires, Pedro Klodzyk, war. Klodzyk selbst mußte letztes Jahr seinen Chefsessel räumen, weil man ihn der Geldwäsche und Korruption verdächtigt. Nun erscheinen die engen Beziehungen zwischen ihm und Ribelli angesichts dessen Verwicklung in den Autobombenanschlag in einem neuen Licht.
Unter den mit dem Fall betrauten Anwälten und Richtern setzt sich die Ansicht durch, daß bei dem Anschlag Polizisten eine wichtige Rolle gespielt haben. Allerdings scheinen die unheilvollen Verstrickungen bis in die höchsten Institutionen des südamerikanischen Landes zu reichen. Der zuständige Richter, Juan Jose Galeano, verdächtigt den Abgeordneten Emilio Morello, Kontaktperson zwischen den Terroristen und der Polizei gewesen zu sein und hat dafür Beweise. Morello zog es vor, sich auf seine parlamentarische Immunität zu berufen und jegliche Aussage zu verweigern. Ein Verhalten, das nicht dazu veranlaßt, ihn als Opfer von ungerechtfertigten Denunziationen zu halten.
Die verschleppten Ermittlungen und Enthüllungen werfen ein bezeichnendes Licht auf die Zuverlässigkeit so zentraler Institutionen wie der Polizei. Die argentinische Öffentlichkeit ist laut einer Umfrage ohnehin davon überzeugt, daß große Teile des Polizeiapparates sowie der regierenden Politikerkaste der Korruption anheim gefallen sind. Es werden Spekulationen laut, daß die weiteren Ermittlungen im Falle AMIA noch einige prominente Politiker zu Fall bringen werden.
ECUADOR
Verfahren gegen Alarcón
(Quito, 17. Dezember 1997, pulsar-Poonal).- Präsident Fabián Alarcón mußte sich vor dem Obersten Gerichtshof seines Landes zu verschiedenen Anschuldigungen äußern. Er wird angeklagt, während seiner Zeit als Parlamentsvorsitzender (1995 bis Anfang 1997) massiv die Einstellung von Freunden und Parteifreunden als Parlamentsbeschäftigte gefördert zu haben. Es handelt sich um mehr als tausend Personen, die hohe Löhne bezogen und offenbar keinee speziellen Aufgaben hatten. In der fast zweistündigen Anhörung stritt der Präsident der Republik alle Vorwürfe ab. Es sei falsch, daß er 1.100 Verbündete unter Vertrag genommen habe. Alle seien nach den Vorschriften des Parlaments verpflichtet worden. Fabián Alarcón gab zu, selbst einige von diesen Personen angestellt zu haben, nannte aber keine genaue Zahl. Er verneinte die Anklage der illegalen Benutzung öffentlicher Mittel. Das Verfahren gegen ihn sei ein politischer Racheakt. Der Präsident beschuldigte seinerseits den vorherigen Vorsitzenden des Obersten Gerichtes (unter dessen Verantwortung das Verfahren aufgenommen wurde), böswillig gegen ihn gehandelt zu haben. Jetzt konzentrieren sich die Erwartungen auf den Bericht der staatlichen Rechnungsprüfungsbehörde, der in wenigen Tagen vorgestellt werden muß.
PARAGUAY
Oviedo sorgt weiter für Wirbel
(Mexiko-Stadt/Asunción, 17. Dezember 1997, pulsar-Poonal).- Jetzt beschäftigt General Lino Oviedo Paraguays Politik vom Gefängnis auf. Nach wochenlangem Versteckspiel hatte er sich am 12. Dezember den Behörden gestellt, um eine 30tägige Haftstrafe anzutreten, die Präsident Juan Wasmosy gegen ihn erwirkt hatte. Wegen eingeschränkter Besuchsmöglichkeiten hat die Frau des verhinderten Putschisten den Fall vor die Menschenrechtskommission des Parlaments gebracht. Nach wie vor besteht Oviedo zudem darauf, im Mai 1998 als Präsidentschaftskandidat für die regierende Colorado Partei anzutreten. Die Flügelkämpfe in der Partei zu diesem Thema sind längst nicht abgeschlossen. Einen Teilerfolg erzielte Oviedo im Ausland. Die in Montevideo versammelten Staatchefs der Länder des Gemeinsamen Marktes des Südens (MERCOSUR; Teilnehmer sind Uruguay, Paraguay, Argentinien und Brasilien) sahen sich nach Diskussionen untereinander genötigt, eine Erklärung zum Streit um den General abzugeben. Falls die paraguayische Bevölkerung Oviedo wähle, werde man dies respektieren, verkündeten Carlos Menem, Julio María Sanguinetti und Fernando Henrique Cardoso zum Leidwesen von Juan Carlos Wamsmosy.
KUBA
Weihnachten in Kuba wieder offizieller Feiertag.
Von Claude Hackin
(Havanna, 16. Dezember 1997;, npl).- Erstmals seit 29 Jahren können die Kubaner den 25. Dezember als arbeitsfreien Feiertag begehen. 1969 waren die wichtigsten christlichen Feiertage abgeschafft worden, da, so die Meinung der Regierung, im Monat Dezember jeder Arbeitstag für die Ernte des wichtigsten Exportproduktes Zucker genutzt werden müsse.
Staatschef Fidel Castro gab diese Entscheidung am Sonntag, gut einen Monat vor dem Besuch des Papstes in Kuba bekannt. Zudem sollen die von der Kommunistischen Partei kontrollierten Medien die Weihnachtsbotschaft von Johannes Paul II. veröffentlichen, das Fernsehen wird sie live übertragen. Allerdings gilt diese Regelung vorerst nur für dieses Jahr.
Die nicht ganz überraschende Weisung ist Teil der Annäherung zwischen Vatikan und kubanischer Regierung, die mit dem Empfang Castros durch den Papst im November vergangenen Jahres begann. Seitdem wird hinter den Kulissen intensiv verhandelt: Der Vatikan möchte den Einfluß der katholischen Kirche auf der Karibikinsel stärken, Kuba hingegen setzt auf die offizielle Anerkennung durch eben diese Institution, um der von Washington betriebenen ökonomischen und diplomatischen Isolierung entgegenzuwirken.
So Gott will, wird Johannes Paul am 21. Januar für fünf Tage auf Kuba weilen. Bis dahin haben die Verhandlungsdelegationen noch viel Arbeit. Der Vatikan will eine Rundreise zu religiösen Einrichtungen in ganz Kuba durchsetzen. Außerdem möchte sie freien Zugang zu den Massenmedien und offizielle Unterstützung beim Transport von Gläubigen zu den Veranstaltungen. Im Gegenzug soll der Vatikan zugesagt haben, daß der polnische Papst Sünden seiner Vorfahren wie die Inquisition und die Rolle der Kirche bei der Kolonisierung Lateinamerikas ansprechen werde.
Sorge bereiten beiden Seiten Drohungen von radikalen Exilkubanern in Miami, denen der offizielle Besuch höchst ungelegen kommt. Versuche, den Besuchsablauf gewaltsam zu stören, können nicht ausgeschlossen werden. Vehement protestieren sie in den USA dagegen, daß ein Kreuzfahrtschiff mit 1.000 gläubigen Gästen aus dem Ausland im Hafen Havannas anlegen soll, um die zentrale Messe mitzuerleben. Ein solcher Staatsakt sei eine Würdigung der kommunistischen Regierung, so die Befürchtung der Anticastristen.
In Kuba sehen nicht nur Katholiken, deren Religionsausübung erst seit 1991 wieder uneingeschränkt möglich ist, dem Papstbesuch optimistisch entgegen. Auf diplomatischer Ebene jedoch verfolgen beide Seiten eindeutige, nicht gerade identische Ziele: Johannes Paul wird das letzte lateinamerikanische Land, dessen Boden er noch nicht küßte, besuchen. Dies wird der katholischen Kirche und nicht zuletzt einer oppositionellen Basisgruppen Auftrieb geben. Zudem ist Kuba das einzige Land der Region, das in der Erforschung der Parkinsonschen Krankheit, an der der höchste katholische Würdenträger leidet, große Fortschritte vorzuweisen hat.
Fidel Castro wiederum hofft auf ein – von den Medien weltweit ausgestrahltes – Signal gegen die Isolationspolitik seitens der USA. „Der Besuch ist eine Form zu sagen, der Papst unterstütze die Blockadepolitik der USA nicht,“ glaubt Caridad Diego, Sprecher für religiöse Angelegenheiten der Kommunistischen Partei.
COSTA RICA
Söhne ersetzen ihre Väter – Kinderarbeit sichert den Unterhalt
vieler Familien
Von Ana Victoria Amenabar
(San Jose, 10. Dezember 1997, SEM-Poonal).- Jeder Tag beginnt für Pilo um fünf Uhr morgens. Der Zehnjährige steht auf und hilft seiner Mutter, die drei kleineren Geschwister anzuziehen und das karge Frühstück zu bereiten. Gegen sechs Uhr geht er die steile Gasse nahe dem Zentrum hinauf zur Kirche, die Arbeit beginnt.
Roberto Segura, den seine Freunde Pilo nennen, bewacht die Autos der wenigen Kirchgänger, die vor der Arbeit die Frühmesse besuchen. Er erinnert sich nicht, wann er diesen Job auf eigene Rechnung begonnen hat. Mit einem geübten Lächeln auf den Lippen fragt er die Gläubigen, ob er ihre Autos bewachen soll. Die meisten kennen ihn schon, erwidern den Blick und nehmen das Angebot an. Nach der Messe geben sie ihm zwischen 50 und 100 Colones, umgerechnet in Schnitt 60 Pfennig.
Schnell zählt Pilo das Geld und rennt zur Schule, wo erst einmal die morgendlichen Abenteuer mit den Klassenkameraden ausgetauscht werden. Manchmal kommt er zu spät, was ihm einen Rüffel der Lehrerin einbringt. Er will nicht, daß sie von seiner Arbeit erfährt, von niemandem möchte er bemitleidet werden.
Trotz seines Alters trägt das Schulkind einen Gutteil der Verantwortung für das Wohlergehen seiner Familie. An seinen Vater erinnert sich Pilo nicht, aber manchmal träumt er von Leben der Kinder, die im Auto mit ihren Eltern zur Messe kommen. Seine Mutter, eine junge Frau Anfang dreißig, hat jetzt vier Kinder. Allen hat sie beigebracht, sich in einem Leben durchzuschlagen, das, wie sie meint, nicht sonderlich gerecht ist.
Pilo ist es gewohnt, an seinem Arbeitsplatz belästigt zu werden. Einige Autofahrer haben Angst vor ihm, sie halten Straßenkinder für kriminell, „die nehmen doch alle Drogen“. Andere beschimpfen Pilo, er solle hier nicht jeden Tag herumlungern. Solange diese schlechten Kunden nicht gewalttätig werden, überhört Pilo die Anwürfe. An Selbstvertrauen mangelt es ihm nicht: „Ich bin zuverlässig und mache meine Arbeit wie jeder andere auch.“
Mehr Schwierigkeiten bereitet ihm die Konkurrenz auf seinem Arbeitsmarkt. Schon einige Male ist es vorgekommen, das andere Jugendliche ihm sein Geld abgenommen haben. Oder Freunde bieten ihm Drogen an, zuerst immer umsonst. Schon oft nahm er das Angebot an, nur bezahlen will er dafür nichts – der Teil des Geldes, den er für sich behält, ist ihm dafür zu schade.
Tausende Kinder und Jugendliche in San Jose, der Hauptstadt des mittelamerikanischen Costa Rica, haben einen solchen Alltag. In den Einkaufsstraßen des Zentrums verkaufen sie Blumen oder Kugelschreiber, führen Kunststücke auf, wenn die Ampel auf rot steht oder waschen die Windschutzscheibe. Wie Pilo arbeitet ein Viertel der Costaricaner zwischen 10 und 17 Jahren, um den Unterhalt der Familie zu sichern. Die jüngste Studie von UNICEF besagt, daß 41 Prozent von ihnen im Bereich Handel und Verkauf tätig sind, das sind gut 50.000 Minderjährige. An zweiter Stelle kommt mit 19 Prozent die Herstellung von Kunstwerk und industrielle Fertigung. Im Durchschnitt verdienen Autobewacher und -wäscher jeden Monat umgerechnet rund 130 Mark.
Für den Wissenschaftler Mario Viquez ist diese Entwicklung nicht nur wirtschaftlicher Not geschuldet. Soziokulturelle Faktoren seien oftmals wichtiger: „Wenn der Vater die Familie finanziell nicht unterstützt, fühlen sich viele Söhne veranlaßt, zu arbeiten und die klassische Männerrolle in der Familie einzunehmen.“ Auch die Konsumorientierung der Gesellschaft spiele eine Rolle. Viele Jugendliche wollen der Mode und den Vorgaben der Werbung entsprechen. Um Produkte bestimmter Marken kaufen zu können, müssen sie irgendwie an Geld kommen.
Die Regierung plant jetzt, Kinder- und Jugendarbeit gesetzlich einzuschränken. Ein Gesetzesentwurf sieht vor, das Mindestalter für Beschäftigte von 12 auf 15 zu erhöhen. Eine sehr zweischneidige Maßnahme, meinen diejenigen, die das Phänomen Kinderarbeit nicht nur unsichtbar machen wollen: Verbote schaden nur den Betroffenen, da sie dann illegal arbeiten müssen und noch weniger gegen Ausbeutung geschützt sind. Da die meisten Kinder und Jugendlichen sehr genau wüßten, warum sie arbeiten gehen, sei ihnen mit Arbeitsschutzgesetzen und Mindestlöhnen besser geholfen, meint ein Sprecher von organisierten Straßenkindern im Nachbarland Nicaragua.
Poonal Nr. 320 von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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