Frauen nehmen sich das Recht

von Alfonso Gumucio Dagron

(La Paz, 17. Januar 2011, bolpress).- In der bolivianischen Stadt El Alto habe ich einige Frauen kennengelernt, die ein ausgeprägter Drang nach Gerechtigkeit antreibt; sie besitzen alle nötigen Voraussetzungen um dem, was recht ist, gebührenden Raum zu geben: Intelligenz, Ehrlichkeit, Enthusiasmus, Entscheidungsstärke und Engagement.

El Alto liegt nah bei La Paz, und doch erscheint es in vieler Hinsicht wie das Ende der Welt. El Alto ist schneller gewachsen als jede andere bolivianische Stadt; die explosionsartige Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte hat jedoch auch zahlreiche Probleme hervorgerufen. Das heutige El Alto erinnert an einen schlaksigen Jugendlichen, der sich in seinem viel zu schnell gewachsenen Körper nicht zurechtfinden kann. Die Straßen sind dreckig und voll mit Abfällen, es gibt keine Bäume. Im erschreckend hässlichen Stadtbild wechseln schrille Farben, unverputzte Fassaden und kahle Stahlgerüste der im Bau befindlichen Gebäude einander übergangslos ab. Eine hohe Kriminalitätsrate, Prostitution sowie die Fabrikation und der Handel mit Drogen bestimmen den Alltag. Die Nachlässigkeit der Behörden und die Apathie der Bevölkerung begünstigen die Ausbreitung der sozialen Brennpunkte und die Entstehung einer informellen Parallelgesellschaft.

Die Arbeit der Initiativen CECOPI und Radio Atipiri

Und doch teilen sich die hässlichen Auswüchse urbanen Lebens den Raum mit einer ganzen Reihe interessanter Projekte, Nichtregierungsorganisationen und kultureller Verbände, die trotz oder gerade wegen der bestehenden gesellschaftlichen Probleme der Stadt wertvolle soziale Arbeit leisten.

Eine dieser Einrichtungen ist das Zentrum für Bildung und Kommunikation indigener Völker und Gemeinschaften CECOPI (Centro de Educación y Comunicación para Comunidades y Pueblo Indígenas), das 1997 von Donato Ayma, Aymara-Sprecher und ehemaliger Bildungsminister, gegründet wurde. Heute ist seine Tocher Tania Ayma Leiterin des Zentrums. Die Initiativen CECOPI und Radio Atipiri lernte ich durch eine Untersuchung kennen, die ich im Rahmen der Programme der WACC (Weltvereinigung für christliche Kommunikation) in Bolivien, Peru und Ecuador durchführte. Die Erkenntnisse, die ich im Zuge dieser Arbeit gewann, haben mich außerordentlich erstaunt und begeistert, insbesondere die überraschenden, unerwarteten Nebenresultate, wobei diese zweifellos immer auch eine Folge der beabsichtigten und vorhersehbaren Resultate sind.

Ich sprach mit Frauen aus El Alto, Tiwanaku und Santiago de Callapa, die an den vom CECOPI initiierten und von Tania Ayma selbst geleiteten Trainingsprogrammen teilgenommen hatten. Alle waren sich einig, dass die Teilnahme an diesen Kursen ihr Leben verändert hatte. Der Wirkungskreis der Frauen hatte sich bis dahin ausschließlich auf die Wohnviertel und den Haushalt beschränkt: Sie alle hatten unter dem in Aymara-Gemeinden sehr ausgeprägten Machismo gelitten, der ihnen jegliche politische Betätigung versagte.

Neue Horizonte

Für Porfiria Quispe Pérez, Lidia Apaza Queso, Juana Quispe Choque, Sonia Alejo Ramos und Marthina Cruz Osco öffneten sich mit der Teilnahme an den Kursen neue Horizonte. Mit diesen fünf Frauen sprach ich über die Geschichte ihres Lebens. „Ich bin früher nie aus dem Haus gegangen und habe mich nie um etwas anderes gekümmert als um den Haushalt und die Feldarbeit. Aber seit ich angefangen habe, beim Radio zu arbeiten, hat sich mein Leben total verändert. Ich habe angefangen, mich in Frauenorganisationen zu engagieren, und heute leite ich innerhalb der Frauenorganisation Bartolina Sisa die Sektion der Provinz Pacajes“, erzählt Lidia.

„Ich war sehr schüchtern“, gesteht Marthina. „Ich hatte Angst, vor mehreren Leuten den Mund aufzumachen oder in einer Behörde vorzusprechen. Der Kurs hat mir sehr geholfen, diese Angst zu überwinden. Jetzt sage ich: ‚Ich möchte was sagen‘ und dann rede ich.“ Das bestätigt auch Sonia: „Mein Leben hat sich in mehrfacher Hinsicht verändert: Heute fällt es mir leichter zu reden. Ich habe die Angst verloren, deshalb schweige ich nicht mehr.“

Die Lebenswege von Lidia, Marthina und Sonia laufen parallel. Gemeinsam ziehen sie von einer Gemeinde in die nächste, von einer Versammlung zur nächsten. Nachdem sie den Kurs absolviert hatten, wurden sie erst zu leitenden Vertreterinnen ihrer Gemeinden ernannt und dann in verschiedene politische und gewerkschaftliche Ämter gewählt.

„Wir haben ein Anrecht auf unsere Erde, wir haben ein Recht, uns an der Politik zu beteiligen und eigene Entscheidungen zu treffen. Im Moment konzentrieren wir uns darauf, die Frauen zu stärken. Wir ziehen durch die Gemeinden, um den Frauen zu erklären, welche Rechte sie haben“, erzählt Sonia. Ich frage sie: „Und was wirst du in zehn Jahren machen?“ Ihre Antwort kommt prompt und ohne Zögern: „In zehn Jahren? Da bin ich Justizministerin.“

(El Alto. Foto: Flickr/Prometeo Lucero)

 

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