Von Andreas Behn, Rio de Janeiro
(Rio de Janeiro, 26. Oktober 2017, npl).- „Nein, die Mehrheit der Menschen in Rio de Janeiro will diese Ausstellung hier nicht haben!“ Bürgermeister Marcelo Crivella scheint genau zu wissen, was die rund sechs Millionen Bewohner*innen seiner Stadt denken. Zensur sei es nicht, behauptet Crivella, der vor seiner Wahl ins Rathaus als Bischof der evangelikalen Universal-Kirche predigte. Anfang Oktober legte er einen Werbespot auf, in dem er sein Veto gegen eine Kunstausstellung begründete, die demnächst am Rande des Olympia-Boulevards im Hafenviertel gezeigt werden sollte: „Pädophilie, Zoophilie, all das wollen wir hier nicht haben…“
Sturm der Entrüstung gegen die Ausstellung „Queermuseu“
Die über 270 Bilder und Plastiken von 90 brasilianischen Künstler*innen werden – vorerst – in Rio nicht zu sehen sein. Vierzig von 70 Stadtverordneten unterschrieben einen Aufruf, in dem die Verwendung öffentlicher Gelder für einen „Angriff auf die Moral, die guten Sitten und Familienwerte“ verurteilt wird. Auch der konservative Regent der Metropole São Paulo, João Doria, der gleich nach Amtsantritt unzählige farbenfrohe Graffiti grau übertünchen ließ, macht bereits gegen die Ausstellung namens „Queermuseu“ mobil.
Der Streit um Kunst und Zensur, jüngstes Kapitel der Moralkehrtwende in Brasilien, begann in Porto Alegre. Nach Protesten und Drohungen in sozialen Netzwerken schloss das Kulturzentrum der Bank Santander das Queermuseu nur wenige Wochen nach Eröffnung der Ausstellung. Stein des Anstoßes war die Darstellung nackter Körper und die Verwendung religiöser Symbole. Kunstschaffende und Intellektuelle sprachen von Missachtung der Meinungsfreiheit und verteidigten die Ausstellung als „Dialog über Diversität“. „Kaum spürten sie, wie es der LGBT-Gemeinde tagtäglich ergeht, da schließen sie schon das Queermuseu“, empört sich der Aktivist Gabriel Galli über den Rückzieher der Bank.
Hass auf afrobrasilianische Religionen
Andere Videos über die Zustände in Rio de Janeiro sind weit schockierender als der autoritäre Crivella-Spot. Eine ältere Frau in weißem Kleid mit Handtasche wird von hinten gefilmt, wie sie heilige Gegenstände und einen improvisierten Altar in einem kleinen Zimmer zertrümmert. Eine Stimme befiehlt: “Schlag alles in Stücke … im Namen von Jesus Christus … reiß diese Dämonen zu Boden …“. Sie ist Predigerin der afrobrasilianischen Religion Cambomblé, die von Rechten und Evangelikalen immer wieder verteufelt wird.
Ein anderes Video zeigt einen Cambomblé-Priester, der mit einem Baseball-Schläger zum Zerstören seiner Kultstätte gezwungen wird. „Beim nächsten Mal bringe ich euch um“, droht eine Stimme, und schließt mit „Jesus zuerst!“ Die Polizei verdächtigt Drogenhändler*innen, die unter dem Einfluss radikaler evangelikaler Kirchen stehen. Oft sind diese dubiosen Kirchen die einzigen, die sich in verarmten Favelas und in Gefängnissen als Ausweg anbieten. Der Hass auf afrobrasilianische Religionen und oft generell die schwarze Kultur ist täglich im Fernsehen zu sehen, wenn evangelikale Pastoren in den beliebten TV-Predigten zum Kreuzzug für Jesus aufrufen. Im größten katholischen Land der Welt machen die Evangelikalen inzwischen rund 30 Prozent der Bevölkerung aus, und der Ruf nach Intoleranz beginnt zu fruchten.
Bibel, Bulle und Blei
Im Bundesparlament stellen evangelikale Politiker*innen die größte parteiübergreifende Fraktion. Inzwischen bestimmt die BBB-Koalition – Biblia, Boi e Bala, zu Deutsch: Bibel, Bulle (Großagrarier) und Blei (Waffenlobby) – die Geschicke des Landes. Es ist der reaktionärste Kongress seit Ende der Militärdiktatur 1985, der vor gut einem Jahr die Mitte-Links-Präsidentin Dilma Rousseff wegen angeblicher Haushaltstricks aus dem Amt vertrieb und jetzt dem konservativen Michel Temer die Stange hält. Um ein Korruptionsverfahren gegen den neuen Machthaber zu stoppen, verhinderte eine große Mehrheit der zumeist selbst korruptionsverdächtigten Abgeordneten die Aufhebung seiner Immunität.
Der jüngste Coup der Volksvertreter*innen richtet sich gegen Kritik im Internet. Am 6. Oktober verabschiedeten sie ein Gesetz, das Politiker*innen ohne das Einschalten der Justiz dazu ermächtigt, die Löschung kritischer Kommentare in sozialen Netzwerken zu verlangen. Weniger Aufsehen erregt bislang die geplante Verschärfung des ohnehin restriktiven Abtreibungsrechts, die derzeit in Parlamentskommissionen debattiert wird. Ziel der Initiative ist ein grundsätzliches Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen unter allen Bedingungen.
„Cura Gay“ wieder erlaubt
Bei jeder neuen Moralkeule gibt es einen Aufschrei unter Intellektuellen, doch breiter Protest regt sich kaum. Die Schriftstellerin Ana Maria Machado spricht von einem „Rückschritt in die Vergangenheit“. In atemberaubender Geschwindigkeit würden soziale Rechte gekappt und verfassungsmäßige Errungenschaften zurückgeschraubt. Im September erlaubte ein Gericht sogar wieder die seit 1999 verbotene „cura gay“: Psycholog*innen dürfen Schwulen und Lesben jetzt wieder anbieten, sie von ihrer sexuellen Orientierung zu heilen.
Abtreibungsverbot, Schwulenheilung, Kunstzensur – Rechtsruck führt Brasilien tief in die Vergangenheit von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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