(Berlin, 29. März 2022, npla).- Im Interview spricht Caroline Kim über die Auswirkungen der Pandemie auf Frauen, die dahinterliegenden Ursachen und Möglichkeiten der kollektiven Organisierung gegen sich verstärkende Ungleichheiten. Caroline Kim ist Mitglied im Redaktionskollektiv der Lateinamerika Nachrichten sowie Referentin und Projektmanagerin des Lateinamerika-Referats der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
In dem Buch „Corona in Lateinamerika“ hast du einen Artikel zum Thema „Sorge im Zentrum: Die Folgen der Corona-Krise in Lateinamerika aus Geschlechterperspektive“ geschrieben. Wie kam es dazu?
Entstanden ist das Buch nach einer Tagung der Uni Kassel zusammen mit der evangelischen Akademie Hofgeismar, die 2021 stattgefunden hat. Bei der Tagung haben viele Referent*innen aus verschiedenen Perspektiven über Corona in Lateinamerika gesprochen. Daraus ist dieses Projekt entstanden, das jetzt gerade veröffentlicht wurde. Es geht vor allem um die Folgen der Pandemie auf dem lateinamerikanischen Kontinent, wo es sehr viele Infizierte und auch sehr viele Tote gab. Die einzelnen Beiträge gehen auf verschiedene Themen ein, zum Beispiel auf das Bildungssystem oder auf die Folgen am Arbeitsmarkt oder – wie in meinem Beitrag – auf die Geschlechterperspektive. Dabei ist klar, dass dieses Virus nicht alle gleich betrifft: Für viele ist die Pandemie eine soziale Katastrophe gewesen, andere waren weniger hart betroffen. Das zeigt, wie soziale Ungleichheiten auf verschiedene Art und Weise durch die Pandemie verstärkt wurden.
In deinem Text beschreibst du prekäre Beschäftigungsverhältnisse: Sorgearbeit, unbezahlte Arbeit, die häufig von Frauen geleistet wird. Die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt ist während der Pandemie auf ein Niveau von vor zehn Jahren gefallen. Warum sind Frauen so besonders stark betroffen?
Einerseits stellen Frauen die Mehrheit der prekär Beschäftigten: Sehr viele Frauen haben kein formelles Arbeitsverhältnis, keine soziale Absicherung, sie arbeiten zum Beispiel in Privathaushalten oder im Verkauf auf der Straße, also in Jobs, die in der Pandemie weggefallen sind, und die nicht im Home-Office erledigt werden können. Viele dieser prekär Beschäftigten hat die Pandemie daher besonders hart getroffen, weil es keine Sicherungssysteme gab. Gleichzeitig ist überall auf der Welt, auch in Lateinamerika, die Sorgearbeit – also die unbezahlte Arbeit, die erledigt werden muss – wie die Pflege älterer Personen oder die Betreuung von Kindern oder der Haushalt sehr stark familiarisiert und feminisiert. Das bedeutet, dass diese Arbeiten vor allem von Familienmitgliedern, meist Frauen, ausgeführt werden und dass diese Überbelastung auf den Schultern der Frauen ausgetragen wurde.
Die Zahlen zur Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt kommen von der CEPAL, der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik bei der UNO. Es gab schon sehr viele Anstrengungen und Regierungsprogramme, um die Beteiligung von Frauen im formellen Arbeitsmarkt zu fördern und da hat es in den vergangenen Jahren einige Fortschritte gegeben. Aber jetzt stellt die CEPAL fest, dass diese Fortschritte wieder zunichte gemacht wurden. Wenn Frauen einmal ihr Beschäftigungsverhältnis verloren haben, ist es sehr schwierig, sich wieder einzugliedern. Das liegt auch daran, dass es oft neoliberale Programme sind, mit denen mehr Frauen in Berufe hinein gebracht werden sollen, gleichzeitig aber die zusätzlichen unbezahlten Aufgaben wie die Sorgearbeit nicht anders verteilt wurden.
Das führt dazu, dass sehr viele Frauen doppelte Arbeitstage haben, schafft aber eben keine Angebote, dass diese Betreuungs- und Sorgeverpflichtungen anderweitig übernommen werden oder dass auch Unternehmen dafür in die Verantwortung genommen werden oder dass gesellschaftliche Sorgesysteme entwickelt werden.
Damit diese Lasten nicht so individualisiert oder in Kleinfamilien verbleiben, braucht es kollektive Systeme und öffentliche Strukturen, die allen Menschen Zugang zu professioneller Betreuung oder Unterstützung ermöglichen. Denn sonst können manche Familien es sich leisten, die Sorgearbeit auszulagern, oft eben wiederum an prekär beschäftigte, schlecht bezahlte Frauen und oftmals Migrantinnen. Viele andere können sich das aber eben nicht leisten.
Auch die steigende Privatverschuldung ist in deinem Artikel Thema. Viele Menschen haben sich während der Pandemie nur deshalb privat verschuldet, um zu überleben und ihre Reproduktion zu sichern. Warum ist das so? Gab es das vorher auch schon?
Verschiedene feministische Bewegungen Lateinamerikas greifen dieses wichtige Thema der Verschuldung auf. Einerseits haben viele lateinamerikanische Länder eine hohe Auslandsverschuldung, die dazu führt, dass öffentliche Infrastruktur abgebaut oder privatisiert wird und es zu Sparmaßnahmen kommt, die wiederum zu einer höheren Verschuldung der Privathaushalte führen. Das war auch schon vor der Pandemie so, hat aber durch den Verlust der Einkommensquellen und die Unmöglichkeit, in der Anfangszeit der Pandemie arbeiten zu gehen, nochmal zugenommen. Wir sehen eine Wirtschaftskrise, hohe Inflation und steigende Gas- und Strompreise. Es geht nicht mehr nur darum, Schulden aufzunehmen, wenn man sich mal was besonderes leisten oder etwas neu anschaffen will. Mittlerweile ist es so, dass der Lohn oder die Ersatzleistung nicht mehr für die ganz alltäglichen Bedürfnisse und das Überleben ausreicht: Miete, Essen, Medikamente, Telefonrechnungen, Fleisch oder der Einkauf im Supermarkt – all das wird mittlerweile in Raten bezahlt. So häufen sich Schuldenberge an.
Aufgrund ihrer Zahlungsmoral und ihren Beziehungsnetzwerken gelten Frauen als besonders kreditwürdig und werden gezielt angesprochen, um Schulden aufzunehmen. Dazu gibt es viele Arbeiten, vor allem von der argentinischen Theoretikerin und Aktivistin Verónica Gago. Sie spricht von finanziellem Extraktivismus und beschreibt, dass Verschuldung zu einem neuen Mechanismus der Ausbeutung von prekarisierten Menschen wird.
Gago stellt heraus, dass diese Verschuldung von privaten Haushalten zu einer Disziplinierung und Kontrolle von Frauen führt, weil es eine Art Gehorsamsversprechen in die Zukunft ist, diese Schulden abzubezahlen. Dafür müssen dann immer prekärere Jobs angenommen werden, weil man in so einer Schuldenspirale festhängt.
Aber es gibt auch Lichtblicke: kollektive Organisationsformen, Nachbarschaftsinitiativen wie Gemeinschaftsküchen. Welche Perspektive eröffnen solche kollektiven Organisationsformen deiner Meinung nach?
Die gab es natürlich auch schon vorher. Aber in der Krise sind sehr viele neue Initiativen ins Leben gerufen worden – aus der Not geboren, weil es keine Antwort vom Staat oder keine Unterstützung gab. Die Leute mussten sich miteinander organisieren, um ihre Grundbedürfnisse zu decken oder füreinander einkaufen zu gehen. Es ist wie eine Infrastruktur von unten, die gemeinsam, kollektiv aufgebaut wurde, weil der Staat keine Antwort auf die Krise hatte.
Andererseits entstanden oft Räume, die zu mehr da waren als dazu, das reine Überleben zu organisieren oder die Krise zu managen. Gemeinschaft entsteht ja auch erst, wenn man seine Nachbar*innen kennt, wenn man zusammenkommt und gemeinsam an Dingen arbeitet oder sich austauscht und gemeinsam Dinge problematisiert. Darin liegt ein Potenzial. Wenn Dinge wie Kochen, Essen, Einkaufen oder die Betreuung älterer Menschen auf die Straße getragen werden, verlagern sie sich von diesem sehr individuellen Zuhause in einen öffentlichen Raum. Das kann einfach auch sehr kreativ sein oder so kann ein solidarisches Miteinander wieder neu gelernt werden. Ich will nicht sagen, dass das alle staatlichen Strukturen ersetzen sollte. Aber ich glaube, wenn erstmal so eine Organisierung stattfindet, dann können auch wieder andere Forderungen an den Staat gestellt werden.
Vielen Dank für deine Einblicke!
ihr könnt das Interview auch anhören
„Sorge im Zentrum: Die Folgen der Corona-Krise in Lateinamerika aus Geschlechterperspektive“ im Sammelband „Corona in Lateinamerika“, herausgegeben von Kristina Dietz, Stefan Peters und Christina Schnepel, ist 2022 im Nomos Verlag erschienen und kann umsonst als PDF heruntergeladen werden.
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