Menschenrechte und Care – „Ohne uns steht die Welt still“

(Berlin/Madrid, 10. Juli 2020, npla).- In Zeiten einer globalen Pandemie wird plötzlich deutlich, welche Berufe nötig sind, um das wirtschaftliche und gesellschaftliche System aufrecht zu erhalten. Auf einmal wird sichtbar, dass vor allem Care-Arbeiten besondere Relevanz haben. Dieser Beitrag dokumentiert die Umstände von migrierten Care-Arbeiter*innen weltweit. Vier von ihnen schildern Einblicke in ihre Arbeitssituationen als Hausangestellte in deutschen oder spanischen Privathaushalten. Alle vier haben aus individuellen Gründen ihr Heimatland und ihre Angehörigen verlassen, oftmals mit der Vorstellung einer besseren Zukunft.

Die interviewten Frauen arbeiten meist in informalisierten Arbeitsverhältnissen. Ihre Erfahrungen verdeutlichen die globalisierten und menschenunwürdigen Ausmaße der transnationalen Verlagerung von Sorgearbeiten (Care-Arbeit) und skizzieren die schlechte Umsetzung der Agenda 2030 im Bereich der informalisierten Sorgearbeit.

Care-Arbeit? Was ist das? – Systemrelevant!

Zur Care- oder auch Sorgearbeit gehören unter vielen anderen Aufgaben die Betreuung von Kindern, die Kranken- und Altenpflege und die Arbeit im Haushalt. Viele dieser Arbeiten können institutionell oder privat organisiert sein und sowohl entlohnt als auch unbezahlt getätigt werden, was wiederum eine Auswirkung auf ihre gesellschaftliche Sichtbarkeit hat. Die diesen Arbeiten immanente Systemrelevanz ist etwas, auf das Aktivist*innen in feministischen Bewegungen schon seit Jahrzenten aufmerksam machen. Zu den klassischen Orten von Care-Arbeiten gehören Krankenhäuser, Altenheime und Kindertagesstätten. Mit der Möglichkeit, private Sorgearbeit entlang eines globalisierten Machtgefälles zu entsorgen, hat sich jedoch auch der Privathaushalt als wichtiger Arbeitsplatz für die oftmals informalisierte Arbeit von migrierten Arbeiter*innen herausgestellt.

Globalisierte Sorgeketten

Einem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zufolge gab es im Jahr 2015 weltweit schätzungsweise 11,5 Millionen Menschen, die ihr Zuhause und ihre Familien verlassen haben, um zu migrieren und in Privathaushalten zu arbeiten. Die Migration verläuft in der Regel entlang eines internationalen Gefälles sowohl vom Globalen Süden in den Globalen Norden, als auch von Ländern des Ostens in wirtschaftlich dominante Länder des Westens. In der Analyse spricht man hierbei von globalisierten Sorgeketten beziehungsweise von Global Care Chains. Darüber hinaus gibt es viele Arbeiter*innen, die innerhalb eines Landes aus ländlichen Regionen in die Städte ziehen, um dort unter meist informalisierten und prekären Bedingungen zu arbeiten.

Der größte Anteil migrierter Care-Arbeiter*innen, fast 80 Prozent, findet sich in den Ländern mit den höchsten Durchschnittseinkommen, darunter auch Deutschland und Spanien. Mit dem Rückgang der Geburtenraten haben diese alternden Gesellschaften einen steigenden Pflegebedarf. Auch die veränderten Familienstrukturen dieser Länder führen zu einer Sorgelücke, dem sogenannten Care-Gap, da Frauen* zunehmend in der Erwerbsarbeit und weniger in der Hausarbeit tätig sind.

Ausbeutung im Privathaushalt

Viele der migrierten Arbeiter*innen kommen mit Wünschen und Zielen an ihrem neuen Wohn- und Arbeitsort an. Ihre eigenen ökonomischen Lebensbedingungen sowie die vor Ort treiben sie jedoch oft in menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse. In Verbindung mit der zusätzlichen Prekarisierung ihrer Situation durch das Aufenthalts- und Arbeitsrecht der betreffenden EU-Staaten (Deutschland und Spanien) wird ihre Arbeit in die Informalität gedrängt. Arbeiter*innen sehen sich dann mit machtvollen Arbeitgeber*innen konfrontiert – in einem System, das sie und ihre systemrelevante Arbeit illegalisiert. So erzählt Antonia: „Als ich hier ankam, wurde ich nicht bezahlt. Ein Jahr lang musste ich arbeiten – für Nichts! (…) Was ich in Berlin erlebt habe, war wie moderne Sklaverei.“

Das völkerrechtliche Übereinkommen 189 der ILO besagt, dass die internationalen Arbeitsübereinkommen und -empfehlungen für alle Arbeitnehmenden gelten, einschließlich der Hausangestellten. So steht in Artikel 3: „Jedes Mitglied hat Maßnahmen zu ergreifen, um die wirksame Förderung und den wirksamen Schutz der Menschenrechte aller Hausangestellten, wie in diesem Übereinkommen festgelegt, sicherzustellen.“ Und weiterführend in Artikel 6: „Jedes Mitglied hat Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass Hausangestellte wie Arbeitnehmer allgemein, in den Genuss fairer Beschäftigungsbedingungen sowie menschenwürdiger Arbeitsbedingungen und, wenn sie im Haushalt wohnen, menschenwürdiger Lebensbedingungen, die ihre Privatsphäre achten, kommen.“ Spanien hat diese Konvention bis heute nicht ratifiziert.

In der Praxis entstehen so rechtsfreie Räume, in denen die Arbeiter*innen ausgebeutet und in schlimmen Fällen psychisch und physisch misshandelt werden. Auch in Deutschland, wo die Konvention 189 seit 2013 ratifiziert ist, wird der illegalisierte Status von migrierten Arbeiter*innen oft von Arbeitgeber*innen ausgenutzt. Die Bezahlung liegt meist unterhalb des Mindestlohns und die Arbeiter*innen haben oft keinen Zugang zum Gesundheitssystem. Hinzu kommen die Isolation und der tägliche Rassismus – am Arbeitsplatz und außerhalb. Raffaela berichtet: „Sie aßen vor meinen Augen und gaben mir nichts zu essen. (…) Dann haben sie gesagt, dass sie mir nicht das ganze Geld geben wollen.“ Auch Antonia kennt diese Probleme: „Am Ende kannst du nichts anzeigen, wenn du keine Papiere hast.“

„Wir haben keine Papiere – aber wir haben Menschenrechte!“

Die Realität vieler Care-Arbeiter*innen weltweit steht somit im Kontrast zu den Zielsetzungen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen. Ziel 8: Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum sieht beispielsweise vor, „[d]ie Arbeitsrechte [zu] schützen und sichere Arbeitsumgebungen für alle Arbeitnehmer, einschließlich der Wanderarbeitnehmer, insbesondere der Wanderarbeitnehmerinnen, und der Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, [zu] fördern.“

Maria und Antonia haben als Teil der Gruppe Respect Berlin das Ziel, migrierte Hausarbeiter*innen in der bezahlten und meist privaten Hausarbeit zu organisieren und unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus ihre Arbeits- und Menschenrechte zu verteidigen. Sie kämpfen damit für die Anerkennung der gesellschaftlichen Relevanz der Hausarbeit und ihrer Arbeiter*innen. Die Mitglieder der Gruppe meinen: „Wir haben keine Papiere – aber wir haben Menschenrechte!“.

Amalia und Rafaela von Territorio Doméstico aus Madrid berichten von ihren kreativen Protestformen, ihrer Kampagne „Porque sin nosotras no se mueve el mundo“ („Denn ohne uns steht die Welt still“) und ihrer Selbstorganisation als transnationalen Raum des Kampfes, der Begegnung, der Fürsorge und der Selbstermächtigung: „Deshalb braucht es eine andere Form zu Kämpfen! Der Gesang, die Musik und das Zuhören, die Zuneigung, das Vertrauen und die Liebe, die wir füreinander haben. (…) Wir unterstützen einander, hören einander zu und weinen an der Schulter der Anderen.“

Zu diesem Beitrag gibt es auch ein Audio bei Radio onda!

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