Denkzettel für Morales

von Gerhard Dilger

(Berlin, 17. Oktober 2011, taz).- Es ist ein wunderbar radikaldemokratischer Ansatz: Das Volk wählt seine Richter, so schreibt es Boliviens neue Verfassung vor. Und tatsächlich stürmten vier Fünftel der Bolivianer*innen an die Urnen – aber weit weniger als die Hälfte von ihnen stimmten für die Kandidaten, die nach einer Vorauswahl durch das Parlament zur Wahl standen.

 

Zudem machten Kritiker*innen aus allen Lagern ihre Wahlzettel durch falsche Beschriftung mit Protestparolen und Zerreißen ungültig oder gaben sie unausgefüllt ab.

Das ist ein Denkzettel für Staatschef Evo Morales, der an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig lässt. Denn dahinter steht nicht nur die Kritik an der Zusammensetzung der Listen, bei der die Regierungspartei „Bewegung zum Sozialismus“ ihre Zweidrittelmehrheit im Parlament rücksichtslos ausgespielt hatte.

Auch Schuldzuweisungen an die konservativen Medien oder gar den US-Imperialismus sind völlig deplatziert. Vielmehr gibt es ein weitverbreitetes Unbehagen am zunehmend autoritären Gehabe des Präsidenten, der noch Ende 2009 mit 64 Prozent wiedergewählt worden war.

Der Protestmarsch der Tieflandindígenas gegen das heftig umstrittene Straßenprojekt durch einen Nationalpark im Amazonasgebiet trifft dieser Tage in La Paz ein. Der Umgang mit diesem Konflikt wird nun zu einer echten Reifeprüfung für Boliviens Führung – und vielleicht entfaltet die Abfuhr vom Sonntag dabei eine heilsame Wirkung. In offenem Gegensatz zum Dickschädel Morales hat Vize Álvaro Garcia Linera bereits angekündigt, die Regierung werde sich dem Votum der direkt Betroffenen bei einer „vorherigen Konsultation“ beugen.

Dabei geht es immerhin um das in der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO festgeschriebene Völkerrecht von Indigenen zur Mitbestimmung bei Großprojekten. Sollte solch ein Verfahren im Fall der bolivianischen Fernstraße tatsächlich sauber über die Bühne gehen, wäre das auch international ein Durchbruch für die indigenen Völker.

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