von Andreas Behn
(Berlin, 13. Oktober 2014, taz).- Die Stimmung in Brasilien ist gespannt. Viele reden von einem Umbruch, der notwendig ist und endlich bevorsteht. Andere sind verunsichert, sie haben Angst, etwas Wichtiges könnte verloren gehen. Es herrscht Wahlkampf, in knapp zwei Wochen wird eine Stichwahl über die zukünftige Präsidentschaft entscheiden.
Die Reichen, die privaten Medien, Unternehmer und die politische Rechte frohlocken. Erstmals sieht es so aus, als könnte die konservative PSDB wieder an die Macht kommen. Ihr Kandidat Aécio Neves liegt in Umfragen knapp in Führung, der Wahlkampf rollt, neue Allianzen werden geschmiedet. Amtsinhaberin Dilma Rousseff hingegen ist in der Defensive, ein neuer Korruptionsskandal beim staatlichen Ölkonzern Petrobras macht ihr zu schaffen. Seit zwölf Jahren regiert ihre gemäßigt linke Arbeiterpartei PT. Ihr wichtigstes Argument: Brasilien geht es so gut wie nie zuvor, das dürfe nicht verloren gehen.
Am 12.10. sind die Chancen des Herausforderers noch ein wenig besser geworden: Marina Silva, mit gut 21 Prozent Stimmanteil Drittplatzierte in ersten Wahlgang, sicherte ihm und seiner Partei Unterstützung zu. Zuvor hatte Neves in einem offenen Brief zugesagt, einige der zentralen Forderungen der populären ehemaligen Umweltministerin in sein Regierungsprogramm aufzunehmen. Er werde einer Agrarreform Priorität einräumen, die Sozialpolitik ausbauen, eine aktive Umwelt- und Klimapolitik betreiben, mehr Geld in Bildung und Gesundheit investieren und sogar die Indígenas vor Verfolgung seitens der Landbesitzer schützen.
PSB vor der Spaltung?
Silva, die gemeinsam mit ihrer Partei PSB einen Dritten Weg zwischen PT und PSDB gehen wollte, hat sich damit auf die Seite der Rechten geschlagen. Dies hatten ihr zuvor schon zahlreiche Vertreter*innen aus sozialen Bewegungen vorgeworfen. Sie selbst begründet ihren Schritt hingegen mit den „glaubhaften Versprechen“ von Neves und „weil ein Machtwechsel gut für das Land“ sei. Rousseff zeigte sich „wenig überrascht, da Marina genau wie Neves ein liberales Wirtschaftsprogramm“ vertrete.
Viele Brasilianer*innen verstehen die Welt nicht mehr. Um die Wiederwahl der PT zu verhindern, bringt Marina Silva die PSDB dazu, eine Politik zu versprechen, die bisher nur – wenn auch mit vielen Einschränkung – von der PT umgesetzt wurde. Silvas Weg von einer einst linken Alternative hin zu einer rechten Königsmacherin hat schon jetzt einige Brüche verursacht. Roberto Amaral, Präsident von Silvas PSB, bezeichnete die Wahlhilfe für Neves als „Verrat an dem politischen Vermächtnis der Parteigründer“ und sprach sich für die Wahl von Rousseff aus. Die PSB war erst im vergangenen Jahr aus der Regierungskoalition mit der PT ausgeschieden und hatte bereits vor einigen Tagen zur Wahl von Neves aufgerufen. Die Partei steht vor einer Spaltung, da mehrere Spitzenpolitiker*innen, darunter ein neu gewählter Gouverneur, der Rechtsschwenk nicht mitmachen wollen.
Rechtsruck im Parlament
Doch nicht nur die PSB gibt linke Positionen auf. Das Parlament, das am 5. Oktober ebenfalls neu gewählt wurde, hat einen deutlichen Rechtsruck erlitten. Vor allem konservative parteiübergreifende Interessenvertretungen haben zugelegt: Die Fraktion der Evangelikalen stiegt von 70 auf 80 Abgeordnete, viele von ihnen sind Pastoren oder Kirchensänger. Die Unterstützer*innen des Agro-Business wuchsen um 60 Sitze auf jetzt 257, über die Hälfte der 513 Sitze. Die Verfechter*innen einer offen repressiven Sicherheitspolitik, zu denen viele ehemalige Polizisten gehören, legten von 18 auf 55 Abgeordnete zu. Besonders viele Stimmen bekamen einige rechte Scharfmacher*innen, die öffentlich gegen Schwule hetzen, rassistische Sprüche schwingen oder die Militärdiktatur verteidigen. Auch wenn die PT trotz Verlusten noch die größte Fraktion stellt ist jetzt schon klar, dass dieser Kongress unabhängig vom Präsidenten ein Rollback einleiten wird.
Dilma Rousseff hat jetzt nicht nur eine vereinte Opposition gegen sich. Sie muss sich auch gegen den Diskurs erwehren, der einen schlichten Machtwechsel als Gebot der Stunde propagiert. Die Rede ist von grenzenloser Korruption in Staatsunternehmen und einer dramatischen Wirtschaftskrise. Auch die Massendemonstrationen vom Juni 2013 werden in den Medien gern als Kronzeuge für den Wechselwillen zitiert. Übersehen wird dabei, dass sich die Forderungen nach besseren Verkehrsmitteln, Bildung und Gesundheit weniger an Rousseff als an die unmittelbar Verantwortlichen, also die Gouverneure vor allem in São Paulo und Rio de Janeiro richteten. Dort hielt sich der Veränderungswunsch in Grenzen: Ersterer wurde bereits wiedergewählt, letzterer ist Favorit in der Stichwahl.
Rousseff in der Defensive von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Schreibe einen Kommentar