Lulas neuer Umgang mit den Verbrechern der Militärdiktatur

von Daniel Gatti

(Montevideo, 17. August 2008, comcosur-poonal).- Der brasilianische Präsident Luís Ignácio „Lula“ da Silva hat eine eigentümliche Methode gefunden, jedes Verlangen nach der Verfolgung der Schuldigen, die in seinem Land die Menschenrechte verletzt haben, zu entkräften. So drängt er die politische Linke und Menschenrechtsorganisationen dazu, eine Erinnerungskultur an die Opfer zu fördern, statt die Priorität darauf zu legen, jene zu bestrafen, die für die Ermordung und das Verschwinden von Menschen verantwortlich sind.

Wir müssten unsere Opfer in unsere Helden verwandeln, bevor wir darauf bestünden, diejenigen ins Gefängnis zu werfen, die sie ermordet hätten, so Lula am Dienstag (12.8.). „Immer, wenn wir von den Studenten reden, die gestorben sind oder von den Arbeitern, die starben, greifen wir diejenigen an, die sie getötet haben. Doch dieses Märtyrium wird niemals zu Ende sein, wenn wir nicht lernen, unsere Toten in unsere Helden zu verwandeln und nicht in Opfer“ so Lula in seiner Rede in Rio de Janeiro.

Betrachtet man sie nicht im Kontext, scheinen die Worte des brasilianischen Präsidenten sogar begrüßenswert. Doch im realen politischen Kontext Brasiliens scheinen sie wie die Suche nach einem Ausweg aus einem Thema, das der Regierung unter der Führung des Chefs der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) seit langem unangenehm ist. Just während der letzten Tage hat sich mal wieder gezeigt, dass in der Regierung die das Übergewicht haben, die nicht die geringste Absicht haben, etwas daran zu ändern, dass Brasilien das lateinamerikanische Paradies der Straflosigkeit ist.

Lula selbst machte diese Haltung deutlich, als er seinen Justizminister Tarso Genro und seinen Sekretär für Menschenrechtsfragen Paulo Vannuchi vor kurzem „verwarnte“. Das berichteten einige Printmedien und Sprecher*innen von Menschenrechtsorganisation. Genro und Vannuchi hatten vor kurzem in einem Seminar erklärt, dass es dem Amnestiegesetz von 1979, noch erlassen in Zeiten der Diktatur, an Gültigkeit fehle, da Folter, erzwungenes Verschwinden von Personen und politische Morde Delikte seien, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellten und daher nicht verjähren könnten. Sie vertraten zudem die These, dass das erzwungene Verschwinden von Personen so lange ein Delikt darstelle, bis der Körper des Verschwundenen wieder aufgetaucht sei. Diese Meinung wird auch von vielen Jurist*innen und internationalen Organisationen vertreten.

Doch die brasilianische Regierung scheint das anders zu sehen. Kaum dass sie die Erklärungen von Genro und Vannucchi vernommen hatten, ging ein Aufschrei durch die Reihen hochrangiger Militärs, einige davon zum Teil schon im Ruhestand. Sie forderten von der Regierung, die Amnestiegesetze zu respektieren. Der Verteidigungsminister Nelson Jobim beeilte sich, sie zu beruhigen: das Gesetz sei rechtskräftig, und niemand würde daran etwas ändern, versicherte er.

Ohne explizit etwas zu sagen, scheint auch Lula ähnlicher Meinung zu sein. Das konnte man daran erkennen, dass er kurz nach den Äußerungen von Genro und Vannuchi zusammen mit Jobim zwei hochrangige Offiziere der Marine, die kürzlich befördert worden sind, empfing. Hier verkündete der Verteidigungsminister, dass das Gesetz von 1979 nicht angetastet werde. Zudem beorderte der Präsident Genro in den Präsidentenpalast, und das nicht gerade, um ihm den Rücken zu stärken, wie durchsickerte.

„Es ist sicherlich wünschenswert, eine Erinnerungskultur für die Opfer einzufordern, doch das ist nicht unvereinbar mit der Verantwortung, Gerechtigkeit walten zu lassen, ganz im Gegenteil“, so Sprecher*innen brasilianischer Menschenrechtsorganisationen nach Lulas Äußerungen.

Klar ist, dass es für Menschenrechtsorganisationen jetzt noch schwieriger wird. Schon in der Vergangenheit befanden sie sich mit ihrem Anliegen fast allein auf weiter Flur. So stellte vor kurzem Sirel Jair Krischke, von der Bewegung für Gerechtigkeit und Menschenrechte aus Porto Alegre, fest: „Das ist ein Kampf, in dem sich sehr wenige engagieren, die brasilianische Gesellschaft hat das Vergessen erfasst.“ Nun stehen die Organisationen auf einem schwierigen Terrain in einer neuen Auseinandersetzung mit der Regierung.

Lulas Darstellungen präsentieren sich, was die von ihm gewählte Szenerie und die Rhetorik anbelangt, als vermeintlich „links“. So hielt er seine Rede über die neue Erinnerungskultur vor Student*innen und studentischen Aktivist*innen und gab vor ihnen die Verantwortung des Staates für dessen kriminellen Akt zu, 1964 den Sitz der Studentenvereinigung Unión Nacional de Estudiantes zerstört zu haben. Rhetorisch begleitete Lula seinen Appell, die „Klagen“ hinter sich zu lassen mit Sätzen wie diesen: „Stellen sie sich vor, die Frente Sandinista (Sandinistische Befreiungsfront, linke Befreiungsbewegung Nicaraguas, die in den 1970er Jahren gegen die Diktatur Somozas kämpfte) wäre dabei stehen geblieben, all die Toten, die Somoza zu verantworten hatte, zu beklagen. Stellen sie sich vor, Fidel wäre dabei stehen geblieben, all die Toten zu beklagen, die Batista umgebracht hat …“

Abgesehen vom zweifelhaften historischen Vergleich (der Sandinismo, 1979 an die Macht gelangt, steckte viele der Somoza-Anhänger*innen ins Gefängnis und Castro ging mit seinen politischen Gegner*innen nach dem Sturz Batistas auch nicht nachsichtig um), gibt es eine klare Botschaft: die Jugendlichen sind dazu aufgerufen „in die Zukunft zu schauen“ und sich – als Inspirationsquelle – die fernen Helden der siebziger Jahre in Erinnerung zu rufen. Dafür aber sollen heute die „Rachegelüste“ beseite gelassen werden, die es verhinderten, eine „nationale Aussöhnung“ zu verwirklichen.

„Mit dieser Einstellung der Regierung wird es sehr schwierig sein, zu ändern, dass Brasilien eines der südamerikanischen Länder ist, in denen die Straflosigkeit für Verbrechen gegen die Menschlichkeit am ausgeprägtesten ist“, so Krischke.

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