„Die Mafia tötet Sozialaktivisten“

von Wolf-Dieter Vogel

(Berlin, 13. November 2014, taz).- Die Ermittlungen im Fall der 43 mexikanischen Studenten sind unzureichend. Und die Angehörigen sind skeptisch, sagt Menschenrechtsaktivist Abel Barrera.

taz: Herr Barrera, letzte Woche hat die Generalstaatsanwaltschaft im Fall der 43 verschwundenen Studenten drei Geständige präsentiert. Sie gaben an, sie hätten die Studenten getötet, verbrannt und die Asche weggeworfen. Die Angehörigen sind skeptisch. Warum?

Abel Barrera: Die Behörden versuchen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein paar Jugendliche zu lenken, die für die organisierte Kriminalität arbeiten. Indem sie die Geständnisse so hervorheben, wollen sie die Verantwortung staatlicher Behörden vertuschen. Man will an dem Bild festhalten, das Problem sei nur die Mafia. Bislang liegen keine wissenschaftlichen Beweise vor. Warum sollten sich die Angehörigen mit den Aussagen von drei Personen zufriedengeben, wo es viel mehr Zeugen gibt?

Ist es ein Zufall, dass ausgerechnet die Studenten der pädagogischen Fachschule Ayotzinapa so brutal angegriffen wurden?

Nein, das hat damit zu tun, dass Ayotzinapa für ein anderes Bildungskonzept steht. Man will dort Lehrer aus armen Gemeinden ausbilden, die danach in ihren Dörfern sozialen Wandel voranbringen. An diesem Konzept aus der mexikanischen Revolution haben die heutigen Regierungen kein Interesse. Deshalb arbeiten sie darauf hin, die Schulen zu schließen. Dagegen wehren sich die Studenten und haben sich dabei radikalisiert. In der Öffentlichkeit werden sie deshalb stigmatisiert. Der „Ayotzinapo“ ist zum Synonym für einen Krawallmacher geworden. Damit wird die Gewalt gegen die Studenten legitimiert.

In diesem Fall hat aber der Bürgermeister José Luis Abarca von Iguala den Befehl gegeben, gegen die Studenten vorzugehen.

Aber die entsprechende Stimmung war bereits geschaffen. Nur so ist zu erklären, dass Abarca einen solchen Einsatz anordnen kann. Er hat eindeutig signalisiert: „Stoppt sie, unterwerft sie.“ Bei nicht ausgebildeten Polizisten, die für die Mafia arbeiten und nur gewohnt sind, ihre Waffen zu benutzen, kann das alles bedeuten. Der Angriff dauerte zwei Stunden, und Abarca hat nie eingegriffen. Auch die bundesstaatlichen und föderalen Polizisten schauten nur zu.

Wie ist das zu erklären?

Sie gaben später an, sie hätten keinen Befehl bekommen und es stünde ihnen nicht zu, gegen die Lokalpolizei vorzugehen. Ähnlich agierte das Militär. Normalerweise richtet die Armee sofort Kontrollposten ein, wenn schwere Waffen im Spiel sind. Diesmal nicht, obwohl Streitkräfte in der Nähe waren. Im Gegenteil: Die Soldaten durchsuchten einen verletzten Studenten, der dringend ins Krankenhaus musste. Die Armee hätte schon viel früher etwas unternehmen müssen. Sie kannte die Struktur der organisierten Kriminalität in Iguala.

Auch der Geheimdienst Cisen war informiert, dass Abarcas Frau María de los Angeles in die Verbrecherbande Guerreros Unidos eingebunden ist …

Nicht nur das. Sie wussten auch, dass dort viele Menschen hingerichtet wurden. Es war klar, dass es in Iguala viele Massengräber gibt. Außerdem ist Abarca wohl für die Ermordung von drei Oppositionellen im Jahr 2013 verantwortlich. Aber niemand hat ermittelt. Andere, die den Angriff damals überlebten, mussten die Gegend verlassen, weil sie mit dem Tod bedroht wurden.

Warum wurde nicht ermittelt?

Dafür war Gouverneur Angel Aguirre verantwortlich. Aber auch die Bundesregierung hat den Fall einfach hingenommen. Die Witwe eines Ermordeten hat vergeblich bei föderalen Behörden geklagt. Aguirre hat den Bürgermeister auch jetzt in Schutz genommen. Obwohl klar war, dass Abarca Verantwortung trägt, ließ er ihn laufen. Er begründete das damit, dass der Gemeindevorsteher Immunität genieße. In einer solchen Situation gibt es Möglichkeiten, ihn festzuhalten. Aguirre hat sich mindestens zum Komplizen der Politik der Straflosigkeit gemacht.

Wieso diese Ignoranz?

Die organisierte Kriminalität hat die Regierungen unterwandert. Wir haben es mit einer De-facto-Allianz auf allen drei Ebenen zu tun: lokal, bundesstaatlich, föderal. Im Fall Iguala überschneiden sich alle Ebenen: Die Bundesregierung hat nichts dagegen unternommen, dass die Mafia Sozialaktivisten tötet. Der Gouverneur ließ den Bürgermeister frei walten, und dessen Polizeichef übergab die Männer den Kriminellen.

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