von Lydia Cacho
(Mexiko-Stadt, 28. Juni 2011, cimac).- Die 70-Jährige Frau musste drei Autobusse nehmen und dann noch acht Kilometer auf dem Leidensweg der Kriegsopfer laufen. Ihr 24-jähriger Sohn hatte sie gebeten, nicht Don Sicilia zu besuchen, da sie schon vom Stellvertreter Nr. 23 der Zetas (kriminelle Vereinigung aus Mexiko und Guatemala und Beteiligte am Drogenkrieg in Mexiko, Anm. d. Ü.) empfangen werden sollte, der die Liste mit den Verschwundenen aus Durango, Tamaulipas und Coahuila besitzt. Die Mutter jedoch nahm ihren Rosenkranz und bat den Dichter Don Sicilia, ihren Fall Präsident Calderón zu überbringen.
Drei Jahre lang hatte die Mutter von zwei vermissten Jugendlichen die Staatsanwaltschaft und den Bürgermeister angefleht und auch beim Gouverneur vorgesprochen. Nun hoffte sie, das Glück zu haben, von der großmütigen Hand des Präsidenten auserwählt zu werden, um einen der tausendfachen Vermisstenfälle aufzuklären. Warum denn nicht ein Wunder?
Die Abmachung mit dem Sohn war klar: Wenn der Präsident uns nicht empfängt, dann machen wir mit den anderen weiter, Hauptsache uns hilft irgendjemand, sie zu finden.
40.000 Tote und kein Strategiewechsel
40.000 Ermordete, hunderte gewaltsam Verschwundene (im Auftrag irgendeiner Autorität) und tausende ununtersuchte, unaufgeklärte Entführungen. Und die von Javier Sicilia organisierten Märsche vereinten den Aufschrei eines Landes, das sich der Illusion eines Wunders hingibt, angesichts der Unmöglichkeit, Gerechtigkeit zu erreichen – in der Hoffnung, dass Präsident Calderón aus irgendeinem politisch unerklärlichen Grund Mexiko zerknirscht um Verzeihung bitten würde; dass er, durch die Tränen der Mütter bewegt, den Rückzug seiner Truppen bekannt geben würde und die zuverlässige Untersuchung der Staatsanwaltschaft von tausenden, von den Behörden aufgeschobenen oder ignorierten Fälle der letzten fünf Jahre (um nur von denen des Krieges zu sprechen).
Außer Reporterin zu sein, habe ich zehn Jahre lang einen stark gesicherten Schutzraum für Gewaltopfer geleitet Dabei habe ich gelernt dass, wie sehr ich mich auch für die Verteidigung der Opfer einsetze, nur viereinhalb Prozent der Fälle untersucht werden – und von diesen kommen gerade mal zwei Prozent vor Gericht.
Im Jahr 2004 (vor dem Krieg und den 40.000 Toten) wurden von den 11.900.000 begangenen Vergehen nur eineinhalb Millionen von der Staatsanwaltschaft untersucht.
Millionen hilfesuchende Familien ignoriert
Entschuldigen Sie, dass ich mich wiederhole, von beinahe zwölf Millionen Familien, die zu den Behörden eilen, um „Hilfe“ bei der Aufklärung der Verbrechen zu ersuchen, wird zehn Millionen die Tür vor der Nase zugeschlagen. Und nun kommt auch noch der Krieg dazu.
Aber abgesehen von öffentlichen Handlungen sagt ein Drittel der Kläger*innen, dass nach zwei Jahren nichts mit ihren Fällen passiert ist. Die Staatsanwaltschaft ihrerseits berichtet, dass sie in den nördlichen Staaten 24 Monate im Rückstand ist.
Laut des Bundesamtes für öffentliche Sicherheit SSP (Secretaría de Seguridad Pública) gibt es 426.600 Polizist*innen im Land, doch nur 36.600 davon sind mit Ermittlungen beauftragt. Von diesen arbeiten 10.000 in der Armee und der Marine. So bleiben 20.600 Ermittler*innen für ganz Mexiko. So kann man leicht ausrechnen, was dabei rauskommt.
Zu wenig Ermittler, unfähige Staatsanwälte
Nach Angaben des Nationalen Instituts für Strafrecht INACIPE (Instituto Nacional de Sciencias Penales) werden beinahe zwei Drittel der Fälle vor Gericht verloren, da die Staatsanwält*innen keine Berichte zu schreiben wissen und der Inhalt der Anzeigen für die Richter*innen somit unverständlich ist.
Die Familien wenden sich an die Politiker und den Präsidenten, da die Exekutive laut Gesetz die Kontrolle über die zwei wichtigsten Elemente der Strafverfolgung hat: Die Staatsanwaltschaft und die Verwaltung sind lediglich dem Gouverneur und dem Präsidenten untergeordnet.
Es ist allgemein üblich, dass die Gouverneure sich Opfer aussuchen, die soziale Führungsrollen entwickeln, um sie zu Verbündeten zu machen, zu „Beratern“, um ihre Mobilisierungsfähigkeit und ihre moralische Kraft zu neutralisieren. Es ist kein Zufall, dass Calderón bei seinem Treffen mit Sicilia die Mutter umarmte, die ihn anflehte und nicht diejenige, die von Würde und Gleichheit sprach.
Struktureller Wandel nötig
Es ist wichtig das Gespräch zu suchen und auch um die politische und historische Bedeutung solcher Treffen zu wissen. Aber es wäre schlimm, wenn diese Treffen nur zu Interventionen des Präsidenten von Fall zu Fall führten, und nicht zu einem strukturellem Wandel für die zwölf Millionen Menschen, die von der Justiz abgewiesen werden.
Sicher ist, dass jeder seine Aufgabe hat. Die Mütter und Väter kehren auf ihr verwüstetes Land zurück, wo die parallele Amtsgewalt sie erwartet und ihnen anbietet Probleme zu lösen, wozu das System nicht in der Lage ist.
Genau das muss uns daran erinnern, dass Gespräche über die Rekonstruktion des sozialen Gefüges Hand in Hand mit der Erläuterung neuer staatlicher Strategien gehen müssen, die die Rechtssprechung erleichtern und offen legen. Denn solange sich nicht die ganze Gesellschaft sicher fühlen kann und nicht weiß, dass sie das Gesetz zu beachten hat, da es sie beschützt, wird sie nach anderen Wegen suchen, die das ganze Land weiterhin schwächen werden.
Solange wir nicht in der Lage sind, zusammen mit dem Staat zu fordern, dass Gleichheit umgesetzt und angewendet wird, da sie jedem zu gute kommt; solange wir nicht in der Lage sind zu wissen, dass die Gesellschaft sich erziehen kann und muss um frei zu leben, gesund und ohne Gewalt, werden wir nicht vorankommen.
Deshalb lohnt es sich, ohne Angst über die Folgen des Krieges zu sprechen, aber auch über das was der Krieg verbirgt. Andernfalls werden die Gläubigen fortfahren, für ein Wunder zu beten, das niemals eintreten wird.
Das Wunder von Chapultepec von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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