Pinochet befahl Einsatz von Chemiewaffen gegen Oppositionelle

von EL COMERCIO (Lima)

(Concepción, 28. August 2013, medio a medio).- Ingrid Heitmann, ehemalige Vorsitzende des chilenischen Instituts für Gesundheit ISP (Instituto de Salud Pública), erklärte der dpa gegenüber, dass der Diktator Augusto Pinochet in seiner Amtszeit von 1973 bis 1990 über Botulinumtoxin verfügte, dessen Menge für die Ermordung tausender Personen inner- und außerhalb Chiles ausgereicht hätte.

Das aus dem staatlichen Institut Butantan von Sao Paulo stammende Gift war seit den 1980er Jahren im Besitz des Militärregimes – also zu einem Zeitpunkt, als sich dieses nicht nur mit schwierigen Beziehungen zu seinen Nachbarstaaten Argentinien, Peru und Bolivien konfrontiert sah, sondern auch mit sozialen Protesten im eigenen Land, ausgelöst durch die Wirtschaftskrise.

Im Rahmen derzeit laufender Ermittlungen, die die Vergiftung politischer Gefangener und den Tod des demokratischen Ex-Präsidenten Eduardo Frei 1982 während der Militärdiktatur untersuchen, sind Dokumente gefunden worden, die die Einfuhr des Toxins aus Brasilien bestätigen.

Giftige Chemikalien blieben 27 Jahre unentdeckt

Die Chemikalien, welche sich 27 Jahre lang in den Kellerräumen des ISP neben dem chilenischen Nationalstadion in geheimer Aufbewahrung befanden, wurden 2008 entdeckt und vernichtet, ohne die damalige Regierung von Michelle Bachelet (2006-2010) oder die Justiz zu benachrichtigen. Dies gibt Heitmann jetzt zu, welche von 2007 bis 2010 an der Spitze des ISP stand.

„Es waren zwei Kisten randgefüllt mit Botulinumtoxin-Ampullen, genug um die Hälfte der Einwohner Santiagos zu töten“, so die Expertin, die im Nachhinein ihre Aussage relativierte. „Man hätte damit sehr viele Menschen umbringen können, aber ich kann nicht genau sagen, wie viele.“

„Man hätte damit sehr viele Menschen töten können“

Tatsächlich stirbt eine 70 Kg wiegende erwachsene Person bei einer Injektion von nur 0,15 Pikogramm des Giftes. Dabei ist zu bedenken: Ein Pikogramm entspricht einer Menge von lediglich einem Billionstel Gramm. Das Gift kann auch oral zugeführt werden.

Botulinum, welches seit wenigen Jahren auch in der Schönheitschirurgie zum Einsatz kommt, ist ein von dem Bakterium Clostridium botulinum produziertes Nervengift. Es verursacht fortschreitende Muskellähmung und ist als Massenvernichtungswaffe von den Genfer Konventionen und der UN-Konvention über Chemiewaffen verboten.

Bis jetzt war allerdings der Verbleib dieser chemischen Substanzen ungeklärt. „Die Polizei PDI (Policía de Investigaciones de Chile) war mehrfach beim Institut vor Ort, hat die Substanzen aber nie gefunden“, erinnert sich Ingrid Heitmann. „Sie haben nie die Kellerräume durchsucht“.

Giftampullen fehlten

Die Mikrobiologin, die zu Beginn der Diktatur zweimal festgenommen und gefoltert wurde, gab gegenüber dpa an, dass sie vom Fund der Chemiewaffen geschockt war. „Ich erstarrte vor Schreck“, erinnert sie sich. „Ich habe nicht gedacht, dass dieser Fund nochmal für einen Gerichtsprozess wichtig werden könnte. Man wusste noch nichts Genaues über die Todesursache von Frei“, erklärt sie angesichts der Entscheidung, den Fund mitsamt weiterem Material stillschweigend zu vernichten, obwohl einige Ampullen in dem gefundenen Kistenpaar fehlten. Dies nährte den Verdacht, dass das Toxin gegen Oppositionelle der Diktatur zum Einsatz kam.

In diversen Ermittlungsverfahren wegen Verletzung der Menschenrechte sind tatsächlich Zeugenaussagen und Beweismittel zusammengetragen worden die belegen, dass die Foltermannschaften sowohl Botulinumtoxin, als auch Saringas und Thallium-Metall verwendeten.

Beweise für Einsatz chemischer Kampfstoffe

Ein ausführlich dokumentierter und bereits von der Justiz abgeschlossener Fall ist der Mord am spanischen Diplomaten Carmelo Soria, der 1976 gefoltert und anschließend mit Saringas getötet wurde. Ein anderer Fall ist der von den Mitgliedern der Revolutionären Bewegung MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria de Chile), die am 07. Dezember 1981 im Gefängnis von Santiago de Chile eben mit Botulinumtoxin vergiftet wurden.

Dieses letzte Verbrechen geschah genau einen Tag vor dem septischen Schock, den der Ex-Präsident Frei in der Klinik Santa Maria erlitten hatte, nachdem er von einem Team aus Ärzten operiert worden war, welche sich später als Geheimagenten der staatlichen Sicherheitkräfte herausstellten. Derzeit läuft der Gerichtsprozess noch, der diese Erkenntnisse zu Tage förderte.

Frei könnte an Thallium- und Saringas-Vergiftung gestorben sein

In Freis Leichnam wurden zudem Reste von Thallium und Sarin entdeckt. Dies geht aus den histologischen Gutachten hervor, die in dem von Richter Alejandro Madrid geführten Prozess erstellt wurden. Der Prozessverlauf unterliegt derzeit der Geheimhaltung.

Frei starb – so wie der Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda – im vierten Stock der Santa María-Klinik. Die chilenische Justiz untersucht heute deren Ableben anlässlich des Verdachts, dass beide vergiftet worden sein könnten.

Hauptverantwortlicher in Uruguay gestorben

Ein zentrale Figur für die Produktion und Anwendung der Gifte war der Chemiker und Folteragent Eugenio Berríos. „Es gibt in der Tat Zeugenaussagen unter den dienstältesten Beamten, dass Berríos beim ISP ein- und ausspazierte, wie wenn es sein Zuhause gewesen wäre“, bestätigte Ingrid Heitmann.

1991 wurde er von Militärs aus Chile ausgeflogen, als das Land zwar zur Demokratie zurückgekehrt war, Pinochet jedoch weiterhin an der Spitze des Militärs stand. Berríos, in jenen Jahren von der Justiz gesucht, wurde 1995 in Ururguay tot aufgefunden, nachdem er zuvor von uruguayischen Militärs bewacht und entführt worden war, wie die chilenischen Gerichte feststellen konnten.

Die Einfuhr der Chemikalien nach Chile wurde laut dem Verfahren zur Untersuchung der Todesumstände von Frei von dem Arzt Eduardo Arriagada Rehren organisiert, der als Kontaktmann dem ISP gegenüber fungierte. Arriagada, der heute noch lebt, war laut Kenntnisstand derzeitiger Ermittlungen Leiter des damals geheimen Kriegslabors zur Entwicklung bakteriologischer Waffen, welches zum chilenischen Militär gehörte und mitten im Zentrum Santiagos lag.

Die Gifte seien in ihrer Amtszeit durch Zufall gefunden wurden, erklärte Heitmann. Sie hatte eine Reinigung der in den Kellerräumen gelegenen Kühlkammern angeordnet. „Wenn ich dies nicht angeordnet hätte, lägen die Kisten heute noch dort“. Sie erklärte, dass zudem eine große Menge an weiterem Material in den Kühlkammern gefunden wurde, „wie Blutkonserven und Bakterien, zusätzlich zu den Botulinumtoxin-Behältern“.

Botulinumtoxin ist eine chemische Waffe

Die Lagerung von Bakterien wie Diphterie und Tetanus war ihrer Auffassung nach verständlich, weil das ISP bis 2002 mit der Herstellung von Impfstoffen gegen diese Krankheiten beauftragt war.

Heitmann, die sich heute der universitären Lehre widmet, fügte jedoch hinzu, dass Chile nicht die Möglichkeiten besaß, das Botulinumtoxin selbst herzustellen, und es keinen ersichtlichen Grund gab, warum diese im ISP gelagert wurden. Das ISP ist eine zivile Laboreinrichtung zu gesundheitspolitischen Zwecken. „Botulinumtoxin ist eine Chemiewaffe“, betonte sie und vermutete, dass diese möglicherweise bei den begangenen Verbrechen im Gefängnis und bei der Ermordung Freis zum Einsatz gekommen sein könnte.

Die Diktatur des verstorbenen Generals Augusto Pinochet, unter der offiziellen Berichten zufolge 38.000 Menschen gefoltert, verschleppt oder hingerichtet wurden, besaß verschiedene Formen, politische Gegner auszulöschen. So wurden Ermordungen oder Mordversuche in Buenos Aires, Rom und Washington ausgeführt, unter Einsatz von Zivilpersonen, konventionellen Waffen, sowie Bomben und Chemikalien.

Obwohl man aufgrund diverser Zeugenaussagen und gerichtlicher Beweismittel von der Existenz der Chemiewaffen gewusst hatte, war der Verbleib dieser Waffen unbekannt – bis jetzt.

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