Von Andreas Behn
(Rio de Janeiro, März 2017, npl).- Noch Scherz oder schon Beleidigung? Beim Karneval in Rio geht es in diesem Jahr hoch her. Wegen rassistischer oder sexistischer Texte in den Karnevalsliedern werden einige Straßenumzüge in diesem Jahr auf zwar beliebte aber umstrittene Stücke verzichten. Einige Narren und Närrinnen warnen vor Spielverderber*innen. Andere pochen auf gegenseitigen Respekt, damit alle ihren Spaß haben.
Wie üblich beginnt der Karneval in Rio de Janeiro viel zu früh. Schon lange vor Rosenmontag tanzen Hunderttausende auf den Straßen. In kleinen oder großen Umzügen ziehen die Närr*innen durch ihre Viertel, mal verkleidet, mal kaum bekleidet, aber immer schwitzend bei rund 35 Grad Celsius im Schatten. Der ausgelassene Straßenkarneval hat die offizielle Präsentation der großen Sambaschulen im Sambodromo längst überrundet.
Doch 2017 ist einiges anders. Marcelo Crivella, Bischof der evangelikalen Universalkirche und seit wenigen Wochen Bürgermeister, hält nichts von dem närrischen Treiben. Er boykottierte sogar die Übergabe des Stadtschlüssels an König Momo. Homosexualität bezeichnet Crivella als Sünde. Seine Neopfingstkirche rät ihren Gläubigen, sich von der unzüchtigen Party fernzuhalten.
Streit um rassistische und sexistische Texte
Doch mehr noch als die Angst vor neurechter Moral erhitzt ein Streit über rassistische und frauenfeindliche Texte in Karnevalsliedern die Gemüter. „Was der eine als Scherz empfindet, ist in den Ohren des anderen eine schmerzhafte Beleidigung“, sagt die afrobrasilianische Aktivistin Maíra Azevedo. Zum Beispiel das Lied „O teu cabelo não nega, mulata“. „Wenn ich es höre, kriege ich Gänsehaut, denn ich bin Schwarze und habe stark gelockte Haare. Mein ganzes Leben lang habe ich gehört, dass solche Haare etwas schlechtes sind“, argumentiert Maíra Azevedo.
Der Refrain des Karnevalsliedes„O teu cabelo não nega, mulata“ bedeutet sinngemäß: „Du bist Mulattin, das zeigt schon dein Haar. Aber da Hautfarbe – oder ihr soziales Stigma – nicht ansteckend ist, will ich dich lieben, Mulattin.“ Der Song stammt aus den 1930-er Jahren und wird bis heute bei jedem Karneval tausendfach gespielt und mitgesungen. Doch dieses Jahr beschlossen mehrere Blocos, diese und andere umstrittene Marchinhas nicht mehr zu spielen. Maíra Azevedo nimmt den Kampf gegen jede Art von Diskriminierung ernst: „Brasilien ist eines der rassistischsten Länder der Welt. Hier ist es sehr gefährlich, als Frau oder als Teil der LGBT-Gemeinde geboren zu werden. Und wenn die Kunst dabei hilft, Vorurteile zu zementieren, erhöht das auch die tödliche Gefahr für diese Gruppen.“
Viele der Stücke, die als diskriminierend bezeichnet werden, sind Jahrzehnte alt. Ihre Verteidiger*innen argumentieren, dass sie im Kontext ihrer Zeit betrachtet werden müssten. So sei das Lied „Mulata Bossa Nova“ damals eine beachtenswerte Ehrung für die erste zur Miss Brasil gewählte Afrobrasilianerin gewesen.
Spaß muss sein?
João Roberto Kelly, Autor von „Mulata Bossa Nova“ und anderen umstrittenen Marchinhas versteht die ganze Aufregung nicht. Für den fast 80-jährigen Musiker passen ernsthafte Diskussionen und Narrenfreiheit nicht zusammen. „Der Karneval ist doch ein fröhliches Fest, ein Spaß jagt den anderen. Wie kann man da den Text eines Karnevalsliedes zensieren? Am Anfang dachte ich, das wäre nur ein neuer Karnevalsjux, doch dann stellte ich fest, dass das ernst gemeint war“, sagt Kelly verschmitzt.
Der Spaß war nun vorüber, in sozialen Netzwerken und im Feuilleton gehen seitdem beide Seiten aufeinander los. Kritik an sexistischen Texten oder rassistischen Verkleidungen wird vor allem von Feministinnen und der afrobrasilianischen Bewegung geübt. Oft geht es um den Begriff Mulattin, der aus der Sklavenzeit stammt und nach Meinung vieler Wissenschaftler auf das Wort Mula, also Maulesel zurückgeht. Ihnen ist auch das blackfacing ein Dorn im Auge – immer wieder schminken sich gerade in Rio weiße Männer schwarz und machen sich mit Perücke und in Putzfrauenkleidung über ihre eigenen Angestellten lustig.
Die Frauenrechtlerin Renata Rodrigues vom feministischen Bloco Mulheres Rodadas ist überzeugt, dass sich die Beharrlichkeit der Kritik auszahlt. Als Beispiel führt sie an, dass der Fernsehsender Globo dieses Jahr in seinem Karnevalsjingle erstmals auf nackte Haut verzichtet: „Die Globeleza war immer eine halbnackte schwarze Frau, die dem Fernsehpublikum beim Tanz ihren Po entgegenstreckte. Dieses Jahr gibt es endlich eine neue Version, mit einer wunderschönen Tänzerin, die etwas mehr bekleidet ist, und mit anderen Kulturelementen, also nicht nur dem Samba aus Rio.“
Für Renata ist dies ein Erfolg. Es zeige die Fähigkeit der sozialen Bewegungen, einen eigenen Diskurs durchzusetzen und unangenehme Fragen zu stellen. Andere sehen dies eher skeptisch: Die erstmals bekleidete Globeleza sehen sie eher als Entgegenkommen an die neue Moral unter dem neuen evangelikalen Bürgermeister Crivella.
Zu diesem Artikel gibt es einen Audio-Beitrag, den ihr hier hören könnt.
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