Die Gemeinde Cherán und ihr Kampf um Autonomie

von Andrea Caraballo

(Quito, 04. Juni 2012, alai).- „Wir blockierten die Zufahrtsstraßen mit Steinen, so konnte niemand mehr ins Dorf gelangen. Wir errichteten Barrikaden und entzündeten Feuer, und nachts kamen Unterstützer*innen und brachten uns Essen. Aber die Patrouille hatten wir anfangs noch nicht. Wir haben unbewaffnet Widerstand geleistet und uns erst später Waffen besorgt.“

Wie weite Teile Mittelamerikas ist auch Mexiko von dem so genannten „Plan Mérida“, betroffen. Allein während der Regierungszeit Felipe Calderóns gingen 50.000 Tote auf das Konto der staatlich koordinierten Bekämpfung der Drogenkriminalität.

“Ort des Schreckens”

Inmitten eines von Gewalt, institutioneller Korruption und Grabenkämpfen konkurrierender Drogenkartelle geprägten Umfelds, befindet sich, neben vielen weiteren Dörfern die Purépecha-Gemeinde Cherán K’eri, was in der Sprache der Einwohner*innen soviel bedeutet wie „Ort des Schreckens“. Cherán gehört zu dem im Zentrum Mexikos gelegenen Bundesstaat Michoacán und befindet sich etwa 2.400 Meter über dem Meeresspiegel. Das Klima ist kalt und regnerisch. Das Holz ihrer Wälder nutzen die Bewohner*innen zum Kochen, um Häuser zu bauen und um Kunsthandwerk und Spielzeuge zu fertigen. Traditionell gilt Holz als ein Symbol für Schutz, Verbundenheit und Weisheit. Das Lagerfeuer nennt man in Cherán kurik’erhi, was soviel bedeutet wie Großes Feuer. Der Name ist zugleich eine Referenz an den Gott des Feuers.

Die Vorgeschichte: Illegaler Holzschlag und Widerstand

Am frühen Morgen des 15. April 2011 geschah in Cherán etwas Unerwartetes: Mehrere Transporter, die gerade dabei waren, das Gemeindeland mit einer Ladung illegal geschlagenes Holz zu verlassen, wurden plötzlich gestoppt. Eine Gruppe von etwa 20 Frauen, die eigentlich wie jeden Freitag damit beschäftigt waren, die Straßen in einem Teil des Ortes zu säubern, versperrte den Transportern den Weg. Die Holzfäller gehörten zu einer in der Region organisierten kriminellen Bande, und obwohl die lokalen und auch den bundesstaatlichen Behörden über den Sachverhalt informiert waren, hatten sie innerhalb der letzten Jahre fast 20.000 Hektar des Gemeindewalds gestohlen. Die bewaffneten Drogenbanden hatten sich nicht mit dem Holzschlag begnügt, sondern die Bevölkerung terrorisiert und sogar mehrere Bewohner*innen der Gemeinde ermordet.

„Es war noch sehr früh am Morgen. Viele von uns waren noch nicht aufgestanden. Ich lief gleich hin und kam als eine der ersten. Ich fand es sehr beunruhigend, dass so viele Leuchtraketen gezündet wurden, und fragte mich, was wohl los sei. Bei uns ist es nämlich üblich, eine Rakete abzufeuern, wenn irgendwo im Ort etwas passiert. Wenn man mitbekommt, dass eine Rakete abgefeuert wird, beginnt man bei uns schon fast unbewusst zu zählen. Sind es mehr als drei, gehen wir raus auf die Straße und fragen, was passiert ist und warum die Raketen gezündet werden. An diesem Tag waren es etliche Raketen, und dann läuteten auch noch die Kirchenglocken Sturm. Das bedeutet dann, dass irgendwas richtig Gravierendes passiert. Es heißt soviel wie: ‘Achtung, Cherán, wir haben ernsthafte Probleme!’.”

„Als die Raketen und die Kirchenglocken zu hören waren, kam sofort eine Gruppe Jugendlicher zusammen und später auch noch die Nachbar*innen. Sieben Transporter wurden abgefackelt. Fünf Leute wurden verhaftet, die anderen konnten abhauen, unterstützt von unserer Polizei hier vor Ort. Seitdem haben wir für die Polizisten und die staatlichen Autoritäten nichts mehr übrig. Die meisten von den Holzdieben waren nicht mal von hier. Und es war klar, dass sie zum organisierten Verbrechen gehören. Die Verhafteten blieben sieben Tage im Gefängnis.”

„Ab diesem Tag wurden die Straßensperren errichtet, und nachts brannten die Feuer. Warum? Keine Ahnung. Das war eine Art Instinkt, der von uns allen ausging. Ich bin hier, und ich verteidige mein Terrain. Da war niemand, der uns gesagt hätte: „Macht Feuer!“ „Errichtet Barrikaden!“ Es gab keine Anführer*innen, und die Patrouille hat sich auch erst später gebildet. Wir hatten auch keine Waffen, es wurden nur Schichten organisiert, um das Feuer zu bewachen. Männer, Frauen und Kinder – alle haben mitgemacht.“

„Wir blockierten die Zufahrtsstraßen mit Steinen, so konnte niemand mehr ins Dorf gelangen. Wir errichteten Barrikaden und entzündeten Feuer, und nachts kamen Unterstützer*innen und brachten uns Essen. Aber die Patrouille hatten wir anfangs noch nicht. Wir haben erst unbewaffnet Widerstand geleistet und uns später Waffen besorgt.“

Schritt für Schritt zur Autonomie

Hier im Ort sagen viele, Cherán habe schon immer für seine Autonomie gekämpft, insofern sei das, was heute passiere, nichts gänzlich Neues. Von der Eroberung durch die Azteken bis zum Völkermord der spanischen Konquistadoren war der Kampf der Bewohner*innen Cheráns beispielhaft. Auch während der Umbruchsphase der mexikanischen Revolution leistete Cherán Widerstand gegen unerwünschte Eindringlinge.

Casimiro Leco, von vielen als Guerrillero betrachtet, von den Purépechas jedoch als Verteidiger geehrt, organisierte 1910 eine Freiwilligenarmee. Zwar wird sein Name von der offiziellen Geschichtsschreibung ausgespart, in der mündlichen Überlieferung lebt die Erinnerung an seinen Kampf gegen Straßenräuber weiter. Daher wird in der heutigen Situation Cheráns soviel Bezug auf das Jahr 1910 genommen.

Heute ist die Tradition zur Verteidigungsstrategie geworden. Es wurden Feuer entzündet und die örtliche Polizei durch lokale Patrouillen ersetzt, die nun ein Drittel aller Blockaden an den Zufahrtsstraßen zum Ort permanent überwachen.

Lokale Patrouillen ersetzen die Polizei

Die Bevölkerung hat die alten Bräuche und Gewohnheiten wieder aufgenommen und die Volksversammlung zum höchsten Gremium der Entscheidungsfindung erhoben. Zweitwichtigste Instanz ist der Oberste Rat, der sich aus den ältesten Bürger*innen, die über die meisten Erfahrungen verfügen, zusammensetzt, danach kommen die operativen und ausführenden Gremien, in denen Bewohner*innen der vier Stadtviertel Cheráns vertreten sind.

„Danach haben wir angefangen, jeden Tag um 18 Uhr Versammlungen abzuhalten, erst in El Calvario und später dann an den Versammlungsorten der vier Stadtviertel, und die Vollversammlungen fanden hier im Zentrum statt. Das war schon eine sehr besondere Situation; wir hatten hier vorher noch nie etwas Vergleichbares erlebt. Viele Menschen trauten sich zunächst gar nicht aus ihren Häusern, weil sie die Situation nicht einschätzen konnten.“

„Wir haben keine Anführer. Wir sind hier alle gleich. Jeder und jede aus der Patrouille kann antworten, wenn ihr Fragen an uns habt. Alle wissen, was hier passiert ist und was jetzt gerade passiert. Wir sind hier freiwillig. Jetzt haben wir Koordinator*innen, aber die Entscheidungen treffen wir gemeinsam.

„Schwer zu sagen, was ich in diesem Moment gefühlt habe. Es war eine Art Ohnmacht bei dem Gedanken, dass wir diese Leute nicht festnehmen können, weil sie bewaffnet waren und wir nicht, aber genau aus dieser Ohnmacht entsprang auch der Mut weiterzumachen. Und nicht einfach tatenlos zuzusehen, nur weil sie Waffen haben. Wir hatten keine Ahnung, was passieren würde, aber ich glaube, dass wir zumindest unsere Bäume retten und verhindern konnten, dass sie weiter unseren Wald abholzen. Und vor allem leben wir nun wieder freier als vorher.“

„Wir haben einiges erreicht. In diesem Teil des Waldes fällen sie keine Bäume mehr, obwohl sie auf diesem Hügel immer noch weiter Holz schlagen, auf einem Gebiet, das Cerezos heißt. Aber seit wir sie hier stoppen konnten, hat sich die Situation beruhigt. Hier in Cherán lassen sie die Leute nun in Ruhe. Die Menschen trauen sich nun auch nachts wieder auf die Straße, weil sie wissen, daß wir die Zufahrtsstraßen bewachen. Wir haben unsere eigene Regierung eingerichtet. Mit politischen Parteien wollen wir nichts zu tun haben, denn die spalten die Leute bloß. Hier hingegen arbeiten alle zusammen.“

Radio Fogata

Zur Verbesserung des Informationsflusses und der Kommunikation gibt es seit 2011 ein Gemeinderadio. Radio Fogata wird überwiegend von jungen Leuten betrieben, die in dem Verband Jugendliche für Cherán organisiert sind.

„Der Name Radio Fogata hat mit dem Beginn der Bewegung am 15. Abril 2011 zu tun. Er bezieht sich auf die Feuer, die in unserer Gemeinde entzündet wurden; außerdem ist das Feuer für die Purépechas ein Symbol und Mittel zur Organisierung. Das Radio ist bei einem Workshop für Jugendliche entstanden. Die meisten waren zwischen 15 und 20 Jahre alt. Unsere Themen waren Migration, Umwelt und Gleichberechtigung von Frauen. Es nehmen auch andere Gruppen teil, zum Beispiel Kinder. Wir laden sie oft ein. Sie sind sehr interessiert an allem, was mit dem Schutz der natürlichen Ressourcen zu tun hat.“

„Einer der Gründe, warum wir beschlossen haben, ein Radio zu gründen, war, die Bevölkerung informieren und mit ihr kommunizieren zu wollen. Wenn eine Versammlung stattfand oder wenn irgendetwas passiert war, fehlte uns die Möglichkeit, mit der gesamten Bevölkerung in Kontakt zu treten. Wir empfangen hier in Cherán zwar einen Radiosender, aber der ist von der Regierung, und um zu berichten, was gerade passierte, konnten wir den nicht nutzen.“

„Auch schon vor dem 15. April gab es vieles zu sagen, vieles, das wichtig gewesen wäre, aber wegen dieser Unruhen und Schießereinen lebten die Menschen hier in Angst, und niemand traute sich wirklich, aufzustehen und zu sagen: ‚Stopp! Das muss aufhören!’ Aus Angst hat sich niemand gewagt zu sagen: ‚Ihr habt hier nichts verloren. Verzieht euch aus unseren Wäldern.’ Gewollt hätten wir das schon, aber die Angst war zu groß. Bis zu dem Tag, als es endlich soweit war aufzustehen und uns diesen Leuten entgegen zu stellen, die einfach unsere Bäume gefällt und unser Holz gestohlen haben.“

Nein zu den politischen Parteien

Am 1. Juli fanden in Mexiko die Präsidentschafts- und Kongresswahlen statt. Monatelang hatten die verschiedenen Parteien für sich Werbung gemacht, aber der Zugang zur Ortschaft Cherán wurde ihnen nicht gestattet.

Nachdem sich die Regierung und ihre Institutionen mitsamt den politischen Parteien durch ihre Komplizenschaft mit dem organisierten Verbrechen in den Augen der Bevölkerung im höchsten Maße unglaubwürdig gemacht hatten, beschloss man in Cherán, auf Regierungsbehörden und Polizei zu verzichten und auch die Parteien mit ihren Wahlkampfplakaten nicht in den Ort zu lassen.

„Wir haben überlegt, keinen Wahlkampf hier zu erlauben und möglicherweise auch anzuordnen, dass man hier im Ort nicht wählen gehen kann. Wer an den Präsidentschaftswahlen teilnehmen möchte, muss in einen der Nachbarorte fahren.“

„Wenn sie mit ihrer Holzladung hier den Berg herunterkamen, mussten wir zur Seite treten und sie vorbeilassen, weil sie bewaffnet waren. Das war unsere Angst. Wir hatten schon die Regierung gebeten, etwas gegen die illegale Holzfällerei zu unternehmen, aber wie immer wollten sie für die Interessen der Bevölkerung nichts unternehmen. Das einzige, was sie machen, sind leere Versprechungen. Wenn es nach der Regierung ginge, hätten wir jetzt immer noch keine Lösung. Die Lösung, die wir jetzt haben, hat das Volk selbst gefunden.“

„Ich glaube, die Geburtsstunde unserer Autonomie war wirklich der Moment, als wir uns den Holzfällern in den Weg gestellt haben. Und warum wollen wir jetzt keinen Präsidenten und keine Behörden? Weil wir wissen, dass sie mit den Kriminellen zusammenarbeiten. Und wenn wir das akzeptieren würden, dann würden wir auch die Zerstörung unserer Wälder akzeptieren. Die Politiker*innen arbeiten doch mit den Drogenkartellen zusammen.“

Unterstützung und Solidarität

Vom 24. bis 27 Mai fand ein vom Netzwerk Autonomer Antikapitalistischer Widerstand organisiertes landesweites Treffen statt, bei dem über Möglichkeiten zur Unterstützung für Cherán diskutiert wurde. Während des viertägigen Treffens kamen Gruppen aus Mexiko und anderen Ländern zusammen, um Meinungen und Erfahrungen auszutauschen. An den Diskussionsrunden nahmen unter anderem Vertreter*innen der FPDT San Salvador Atenco, der Gemeindepolizei Guerrero und des Autonomen Rats Cherán K’eri sowie verschiedene Basisradios und Kollektive teil. Die Teilnehmer*innen nutzten die Tage und Nächte für ein breites Spektrum kreativer Aktivitäten, Video- und Tanzvorführungen, Workshops und jede Menge Diskussionen und Gespräche. Insgesamt nahmen über 500 Menschen aus mehr als 14 Bundesstaaten und aus anderen Ländern teil.

Abschlusserklärung des Treffens

Während der vier Tage unseres Treffens haben wir die Berichte über den Widerstand der Frauen, Kinder und Männer aus Cherán K’eri gehört, haben uns die Nähe ihres Kampfs zu unseren eigenen Kämpfen vergegenwärtigt und ihm unsere Herzen geöffnet. Deshalb erklären wir hier auf dem Gebiet der Purépecha im Namen des gesamten nationalen Treffens des Autonomen Antikapitalistischen Widerstands unsere Solidarität mit eurem mutigen und beeindruckenden Kampf.

“Ihr seid nicht allein!”

Wir verurteilen die feigen vom organisierten Verbrechen begangenen Morde sowie die staatlichen und regionalen Behörden, die mit ihnen unter einer Decke stecken. Wir fordern, daß die Verschwundenen lebend wieder auftauchen, und wir fordern uneingeschränkte Anerkennung der Autonomie unserer Gemeinden durch den Staat und seine Institutionen.

Die Provokationen der Parteien jeglicher Couleur weisen wir entschieden zurück. Das Volk, das sich gefunden hat, um sich zu verteidigen und die Gemeinschaft zu stärken, können sie nicht spalten.

Alle Entscheidungen, die die Bewohner*innen getroffen haben, um ihr Terrain, ihre Gewohnheiten und ihre Kultur zu verteidigen, werden von den Teilnehmer*innen dieses Treffens vorbehaltlos unterstützt. Wir verbinden uns mit dem Kampf um die Wälder und um unsere Mutter Erde. Es ist ein Kampf für das Leben und für die Menschen.

Wir appellieren an die mexikanische Zivilgesellschaft und an die Zivilgesellschaften anderer Länder, den Ort Cherán im Auge zu behalten und auf mögliche zukünftige Aggressionen zu achten.

Nationales Treffen des Autonomen Antikapitalistischen Widerstands

Mexiko, 1. Juni 2012

Anmerkungen: Der obige Artikel wurde auf der Grundlage von Interviews und Gesprächen verfasst, die vom 24. bis 27. Mai in Cherán K’eri geführt wurden. Ferner wurden weitere freie Quellen hinzugezogen, die beim Nationalen Treffen des Autonomen Antikapitalistischen Widerstands zur Verfügung standen. Unser Dank für das bereitgestellte Material geht an Carolina, María X, Elena, Cristian, Polo, Proyecto Ambulante, La Voz de Villa Radio und Radio Fogata.

Website Radio Fogata:
http://radiofogata.listen2myradio.com/
http://www.facebook.com/pages/Radio-Fogata-Cherán/123952677704145

Filmempfehlungen:
http://www.youtube-nocookie.com/watch?v=AKVXlpIVkU8&feature=related
http://www.youtube-nocookie.com/watch?v=S4KqH7BpRd8&feature=related

Nationales Treffen des Autonomen Antikapitalistischen Widerstands:
http://espora.org/jra/index.php/memoria/346-convocatoria-encuentro-nacional-de-resistencias-autonomas-anticapitalistas-en-cherán-kaeri.html

Durchgesehen von: A.C. de León

 

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