(Berlin, 10. März 2023, poonal).- Am 7. Dezember 2022 versuchte Castillo im Alleingang, den peruanischen Kongress aufzulösen und per Dekret zu regieren. Eine Steilvorlage für die politische Rechte Perus: Castillo wurde abgesetzt und ins Gefängnis gesteckt, seine bisherige Vizepräsidentin Dina Boluarte zur neuen Präsidentin ernannt. Seitdem ist Peru in Aufruhr, keine Woche vergeht ohne massive Proteste oder Straßenblockaden.
„Das Militär ist auf den Straßen, sie erschießen uns“, beschreibt die peruanische Aktivistin Lourdes Huanca die Situation. „Wir erleben Rassismus, eine brutale Diskriminierung gegen die indigene Bevölkerung. Es werden Massaker verübt und Präsident Pedro Castillo sitzt in Haft, obwohl er demokratisch gewählt wurde. Aber für die großen transnationalen Öl- und Bergbauunternehmen zählen unsere Stimmen nichts. Sie respektieren unsere Demokratie nicht.“
„Sie haben Castillo nie regieren lassen“
Lourdes Huanca Atencio ist Aymara-Indigene und Präsidentin der Frauenorganisation FENMUCARINAP (Federacion Nacional de Mujeres Campesinas Artesanas Indigenas Nativas Asalariadas del Peru), die über 120.000 Mitglieder hat und Teil der globalen Kleinbauernbewegung Via Campesina ist. Zur Zeit befindet sie sich in Europa und kam Ende Januar 2023 nach Berlin, um aus ihrer Sicht zu berichten, was in Peru passiert.
Sie sieht müde aus, aber ihr Kampfgeist ist ungebrochen. Während der kurzen, 16-monatigen Regierungszeit von Pedro Castillo fungierte die 53-Jährige als Brücke zwischen der Regierung und den sozialen Bewegungen. „Er ist Lehrer, seine Eltern sind Bauern; sie wissen, wie schwer wir Bauern und Indigenen es haben. Also haben wir ihn gewählt“, beschreibt Huanca die Hoffnungen vieler Indigener. Sie selbst setzte sich insbesondere für eine Agrarreform ein, die jedoch vom aktuellen Kongress wieder auf Eis gelegt wurde. Dementsprechend groß ist die Enttäuschung: „Die Gesetzgeber, die Justiz, die korrupte Presse, die Kirche – sie haben ihn nie regieren lassen!“
Verfassungsgebende Versammlung statt Neuwahlen
Mit der Absetzung Castillos ist für viele die Hoffnung erloschen, mit Wahlen in Peru etwas ändern zu können. Alle Regierungschefs der vergangenen Jahre wurden abgesetzt oder stehen unter Korruptionsverdacht, der Kongress gilt als korrupter Selbstbedienungsladen. Die Linke ist zersplittert und geschwächt, während sich die Rechte im Aufwind sieht.
Organisationen wie FENMUCARINAP setzen daher nicht mehr auf Wahlen, sondern auf Massenmobilisierungen und die Einsetzung einer Übergangs-Kommission, die zu einer verfassungsgebenden Versammlung und damit zu einer neuen Verfassung führen sollen. Denn die jetzige neoliberale Verfassung von 1993 stammt noch aus der Fujimori-Diktatur. Dieser habe alles dafür getan, um Peru „für einen Spottpreis an die Großunternehmen zu verscherbeln“, wettert Huanca: „Dieses Jahr ist es 30 Jahre her, dass unser Land mit all seinem Gold und Kupfer verkauft wurde. Und jetzt muss der Kongress diese Verträge erneuern. Präsident Castillo wollte das nicht, und jetzt sitzt er in Haft! Weil er sich gegen die Großunternehmen gerichtet hat. Tag für Tag wurde Pedro Castillo diskriminiert und misshandelt, genau wie sie auch uns Indigene und Bauern misshandelt haben.“
Der lange Schatten Fujimoris
Huanca sieht sich dennoch nicht als Parteigängerin von Castillo, sondern sorgt sich um die Demokratie in Peru. Diese sei bedroht durch Großkonzerne, die Öl, Edelmetalle und nun auch Lithium fördern wollen. Ein lukratives Geschäft – nicht jedoch für die ansässige Bevölkerung, die weiterhin in Armut lebt und besonders unter Extraktivismus und Umweltverschmutzung leidet: „Die Flüsse sind vergiftet, die Natur stirbt, unsere Kinder, Eltern und Geschwister haben Blei im Blut“, beschreibt Huanca. „Dort, wo die Bergbau- und Ölkonzerne sind, gerade dort gibt es keinen Fortschritt, sondern es sind diese Gebiete, in denen extreme Armut herrscht. Da fragt man sich doch: Was ist hier los? Irgendwas läuft schief.“
Seit über 500 Jahren kämpfen wir Indigenen für Freiheit, und ein Leben in Frieden und Ruhe. Und seit über 30 Jahren kämpfen wir in Peru gegen den neoliberalen Kapitalismus. Das Land steht zusammen. Wir kämpfen für den Wandel, und meine Brüder und Schwestern zahlen dafür mit ihrem Blut. Sie können einen von uns töten – aber wir werden weiter kämpfen. Es gibt keinen anderen Weg. (Lourdes Huanca)
„Wir wollen Respekt“
Tatsächlich sind die Proteste gerade in denjenigen Provinzen besonders massiv, in denen Bergbaukonzerne und andere extraktivistische Unternehmen aktiv sind, wie etwa Ayacucho, Apurímac und Puno. Die Umweltgifte und die Armut bleiben vor Ort, die Erträge gehen in die Hauptstadt Lima – und in die Konzernzentralen, die auch in Europa zu finden sind. Lourdes Huanca richtet sich direkt an die Unternehmen: „Sie sollen verstehen: Wir sind nicht gegen den Fortschritt. Sondern wir wollen Respekt. Wir wollen einen Teil der Profite für die Entwicklung unserer Gemeinden. Es kann nicht sein, dass sie sich den ganzen Reichtum nehmen und uns nur Armut und Umweltverschmutzung hinterlassen. Deshalb fordern wir die Unternehmen zum Beispiel in Europa auf: Werden Sie sich ihrer Verantwortung bewusst! Und hören Sie auf, den Hass in diesem Land anzufeuern. Beziehen Sie Stellung, denn wenn Sie schweigen, werden sie zu Komplizen dieses Massakers!“
Lourdes Huanca kann zur Zeit nicht nach Peru zurückkehren. Sie versucht, von Europa aus die Protestbewegung zu unterstützen. Die peruanische Botschaft in Spanien wirft ihr vor, Fehlinformationen gegen die Regierung zu verbreiten; in Teilen der peruanischen Medien wird sie diffamiert. Sie zeigt sich dennoch kämpferisch:
„Wenn wir Fortschritt und Frieden für unser Land wollen, dann müssen sie jetzt auf unsere Forderungen reagieren: Rücktritt von Dina Boluarte. Auflösung des Kongresses. Gerechtigkeit für die über 60 Getöteten. Einrichtung einer plurinationalen und paritätischen verfassungsgebenden Versammlung. Und: Freiheit für Pedro Castillo! Wir wollen eine neue Verfassung, damit es eine wirkliche Veränderung gibt.“
Zu diesem Artikel gibt es auch einen Audiobeitrag bei Radio onda.
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