(Berlin, 10. Mai 2010, npl).- Interview mit Philipp Gerber (Oaxaca), langjähriger Koordinator der Mexikoprojekte für medico international Schweiz, zur Situation in San Juan Copala (Oaxaca).
Am 27. April wurde im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca eine Friedenskarawane auf dem Weg in den Ort San Juan Copala von Paramilitärs beschossen. Zwei Aktivist*innen – die 35-jährige Bety Cariño, Leiterein der mexikanischen Organisation Zentrum zur Unterstützung der Gemeindezusammenarbeit CACTUS (Centro de Apoyo Communitario Trabajando Unidos A.C.), und der finnische Menschenrechtsbeobachter und Aktivist Jyri Jaakkola wurden erschossen und weitere Personen verletzt (vgl. poonal 893).
[Telefoninterview vom 3. Mai 2010]
Was sind die Hintergründe für den Konflikt in der Region um San Juan Copala?
San Juan Copala ist eine Gemeinde der Triqui-Indígenas, die sich am ersten Januar 2007 für autonom erklärt hat. Dieser Schritt hängt sehr stark mit der internen Organisationsstruktur der Triqui zusammen. Die Leute dort haben in den letzten Jahren sehr stark unter der Kontrolle der Partei PRI (Partei der Institutionellen Revolution) und der berühmten Kaziken gestanden, die dort die Leute im Griff haben und letztlich auch das Stimmvolk für die PRI kanalisieren…
Was sind das für Kaziken?
Mit Namen kann ich nicht dienen. Aber grundsätzlich sind es vor allem zwei Organisationen, die dort die Situation beherrschen wollen: Einerseits MULT, das Movimiento de la Unificación de la Lucha Triqui (Bewegung zur Vereinigung des Kampfes der Triqui). Diese Organisation gibt es seit etwa Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre. Die zweite Organisation ist UBISORT, Unión de Bienestar Social de la Región Triqui (Vereinigung für das Gemeinwohl der Region Triqui). UBISORT ist damals gegründet worden, um die Einheit der MULT aufzubrechen, weil MULT dann doch gewisse Forderungen aufgestellt hat, die den PRI-Regierungen in Oaxaca-Stadt zu weit gingen. Mit UBISORT haben sie sozusagen noch ein weiteres Standbein kreiert. MULT hat 2005, in dem Jahr, als der aktuelle Gouverneur Ulises Ruiz gewählt wurde, eine Partei gegründet: Partido de Unificación Popular PUP (Partei der Vereinigung des Volkes). Diese Partei war dann eine Art simulierte Opposition, die den Unmut der Triqui aufgesogen und die Opposition kanalisiert hat. Die PUP hatte aber keine reale Chance, da sie sich auch nicht mit linken Parteien wie etwa der PRD (Partei der Demokratischen Revolution) zusammengetan hat. Aber diese simulierte Opposition hat ermöglicht, dass die wirkliche Opposition, die hätte die Wahlen gewinnen können, das ganz knapp nicht geschafft hat.
Nun gibt es neben der MULT noch eine weitere Gruppe, die MULT-I. Wer ist das?
Von dem Movimiento de Unificacion Triqui MULT spaltete sich die „unabhängige“ Bewegung, die „independiente“ ab, die so genannte MULT-I. Das waren Leute und Gemeinden, die eben keine Partei PUP wollten. Leute, die gesagt haben: Wir wollen wirklich als indigene Gemeinden unabhängig sein und uns nicht vor den Karren der politischen Parteien spannen lassen. MULT-I hat sich im Verlauf des Aufstandes von 2006 gegründet und hat am 1. Januar 2007 San Juan Copala zur unabhängigen Gemeinde erklärt. Vielleicht noch eine Anmerkung zum Hintergrund der Autonomiebestrebungen: San Juan Copala ist eigentlich nur eine „Agencia“ und kein eigenständiger Bezirk, wenn man die Verwaltungsebene betrachtet. Der Grund hierfür liegt in einem Ereignis aus Mitte der Fünfziger Jahre, als in der Region noch Kaffee gegen Alkohol und Waffen getauscht wurde. Damals haben die Triqui mal bei einem Angriff 40 Soldaten getötet. Und als Rache der Zentralregierung wurde ihnen dann die Bezeichnung Bezirk aberkannt und sie wurden zur Agencia degradiert.
Wie muss mensch sich das räumlich vorstellen? Es gibt einen Belagerungsring von der UBISORT – wo sind die anderen Konfliktparteien?
Ich muss dazu sagen, ich kenne die Region selbst persönlich nicht. Ich weiß aber beispielsweise von der Organisation CACTUS, die auch an der Karawane beteiligt war, dass das natürlich nicht alles geschlossene Kreise sind. Natürlich gehören gewisse Familien der einen Organisation an und andere Familien sympathisieren mit einer anderen Organisation. Auch in den Dörfern von San Juan Copala ist es eine Mischung. Die Frage dabei ist: Wer hat gerade aktuell die Macht und kann die Dorfautorität stellen und wie positionieren sich dann die anderen dazu. Wenn dann Waffen im Spiel sind, dann positioniert man sich vielleicht auch opportunistisch, um zu überleben.
Diese rebellischen Gemeinden versuchen sich zu verteidigen gegen eine doch recht, wie wir gesehen haben, massive Kazikenmacht der UBISORT und der MULT. Dabei geht’s auf allen Seiten letztlich mit der Waffe zur Hand. Auch die MULT-I sind bewaffnet, alle Gemeinden haben Waffen. Da wütet eine soziale Zerrüttung, die immer mehr Tote kostet. Seit Anfang dieses Jahres gab es in diesen Gemeinden mindestens zwanzig Tote, wenn nicht mehr. Die Konfliktsituation ist seit Jahrzehnten vorhanden und hat sich jetzt sehr zugespitzt. San Juan Copala ist seit Anfang des Jahres mehr oder weniger abgeschnitten, hat keine Lehrer mehr, keine Ärzte mehr, die Leute können nicht mehr aus dem Dorf raus. Die Leute sind ständig bedroht von den Paramilitärs der UBISORT.
Warum hatte sich die Friedenskarawane gerade jetzt auf den Weg nach San Juan Copala gemacht und was waren deren Ziele?
Ich denke, es war einerseits die aktuelle Bedrohungssituation für die Menschen, die dort seit Januar in einem Belagerungsring leben müssen. Andererseits wollten sie diese schreckliche Situation öffentlich machen. Sie wollten etwas daran ändern, dass das hier kein Thema ist, dass es kaum jemanden interessiert, wenn – wie man hier im rassistischen Diskurs sagt – sich die Indianer gegenseitig umbringen. Die Karawane war auch ein Versuch, Medizin und Lebensmittel, aber auch die Lehrer zurück ins Dorf zu bringen.
War die Karawane gut an die lokalen Organisationen angebunden, die vor Ort arbeiten? Weißt du etwas darüber?
Lokal war ganz klar bei den Indígenas der Kontakt mit der MULT-I da und natürlich nicht mit MULT und UBISORT. In Oaxaca war die Verknüpfung vor allem mit der Sektion 22, und mit der Organisation CACTUS vorhanden, die in Huajuapan, in der Region Mixteca, arbeiten. Ansonsten war die Karawane ehrlich gesagt nicht wahnsinnig verknüpft mit den Menschenrechts- und zivilgesellschaftlichen NGOs. Es ist eine Realität in Oaxaca wie in vielen anderen Orten, dass die aktivistischen Organisationen und die Menschenrechts-NGOs nicht immer so eng zusammenarbeiten, was sich im Nachhinein nun auch ein bisschen als Problem herausgestellt hat. Wenn man vielleicht im Voraus mehr voneinander gewusst oder einander mehr gesagt hätte, hätte man vielleicht auch beim Sicherheitsdispositiv gewisse Verbesserungen anbringen können.
Im Internet war in einer Presseerklärung der Organisationen, die an der Karawane teilgenommen haben, zu lesen, dass die UBISORT bereits gedroht hatte, sie garantiere für nichts…
Ja, am Tag zuvor hat es nicht nur geheißen: „Wir garantieren für nichts.“ Sondern es hieß: „Auf keinen Fall kommen die durch. Wir verhindern das um jeden Preis.“ Das war die Aussage von UBISORT. Und das haben sie leider umgesetzt.
Die Vermissten sind wohl alle wieder aufgetaucht. Aber es war auch von viel mehr Verletzten noch die Rede. Weißt du etwas darüber?
Es scheint, dass es keine weiteren Vermissten und Verletzten gibt. Die Unsicherheit diesbezüglich entstand auch dadurch, dass es keine vollständige, einheitliche Liste gegeben hat, wer letztlich an der Karawane teilgenommen hat. Es waren auch nicht alle zusammen gefahren, sondern auf verschiedenen Wegen unterwegs. Das war Teil des Chaos, das es dann später gab. Und das war auch ein bisschen die Kritik an die aktivistischen Organisationen, die diese Karawane so organisiert haben.
Was glaubst du, wie es jetzt weitergeht?
Dass zwei Leute ermordet wurden ist eine nie da gewesene Katastrophe im Bereich der Menschenrechtsarbeit für Mexiko. So etwas darf nicht geschehen. Das darf sich nicht wiederholen und muss Konsequenzen haben. Ganz wichtig ist aber auch: Was geschieht weiter bezüglich der Region? In San Juan Copala hat sich genau nichts verändert. Der Ort ist weiterhin umzingelt und es gibt weiterhin die Paramilitärs, die offensichtlich das Territorium kontrollieren. Das darf nicht so bleiben.
Es soll einen runden Tisch geben und Verhandlungen. Wann?
Erst nach den Wahlen. Das war jedenfalls die Ansage des Innenministers von Oaxaca. Eine Lösung sei vielleicht irgendwann in Sicht, aber vor den Wahlen werde gar nicht verhandelt. Das ist eine interessante Aussage. Denn das kommt ihnen auch gelegen. Vor den Wahlen will man den Kriegszustand weiter andauern lassen. Denn das ist nichts anderes als ein Kriegszustand.
Wem nützt diese Situation?
Die Triqui sind Zehntausende von Leuten und letztlich ganz wichtige Wählerstimmen. Offensichtlich gilt es um jeden Preis zu verhindern, dass Triqui-Gemeinden sich geschlossen auf die Seite der Opposition schlagen – denn sie wählen meistens in „votos colectivos“. Das könnte für die PRI zu einer Gefahr für ihre Mehrheit werden. Die letzte Wahl wurde sehr knapp entschieden, es hieß, das sei Wahlbetrug gewesen. Letztlich hat der Oppositionskandidat Gabino Cue im Jahr 2005 ganz knapp verloren. Wenn 30.000 oder 40.000 Triqui plötzlich die Oppositionsallianz wählen würden, wäre das unter Umständen das Zünglein an der Wage. Das gilt es zu verhindern.
Hat die Spaltung der Triqui auch eine Ursache in Ressourcenkonflikten?
Soweit mir bekannt ist, nicht. Ich habe mich noch einmal erkundigt, aber es gibt dort kein großes Minenprojekt oder sonst ein Großprojekt. Aber es geht natürlich schon um die Kontrolle des Territoriums, um Land. Es geht darum, wer wo ein Überleben finden kann. Es gibt sehr viele Triqui, die migriert sind. Beispielsweise gibt es eine ganz große Triqui-Gemeinde in Mexiko-Stadt.
War Jyri Jaakkola, der finnische Aktivist, der bei der Karawane dabei war und erschossen wurde, als Menschenrechtsbeobachter vor Ort?
Er war als Menschenrechtsbeobachter vor Ort und als Aktivist. Jyri war auch in Hamburg mit seinem Schiff „Estelle“. Dieses Segelschiff hatten sie vor Jahren gekauft und dann wieder seetüchtig gemacht. Sie waren damit unterwegs, um antikapitalistische Projekte zu unterstützen, wie beispielsweise Café Libertad. Der große Traum von Jyri war, mit seinem Segelschiff diesen Kaffee nach Europa zu exportieren. Das Schiff war ein Symbol für eine andere Art, eine wirklich nachhaltige Art des Wirtschaftens. Nicht so, wie das Wort nachhaltig meistens gebraucht wird. Er war ein sehr kongruenter Aktivist. Auch Bety Cariño war ein ganz feiner Mensch. Ihr Tod ist für die ganzen Aktivisten, Aktivistinnen und sozialen Organisationen in Oaxaca eine absolute Katastrophe, ein großer Verlust. Hoffen wir, dass das nicht alles vergebens war. Dass sich etwas ändert in dieser Region und sowohl die Regierung Ruiz wie auch die Regierung Calderón die Konsequenzen tragen müssen.
San Juan Copala: Karawane wollte Missstände öffentlich machen von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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