(Montevideo, 2. Juni 2018, la diaria/poonal).- Wie geht es weiter mit den Machtverhältnissen in Nicaragua? Seit dem 18. April reagiert die Regierung von Daniel Ortega und seiner Ehefrau Rosario Murillo mit scharfen Waffen auf die weiter anschwellende Protestwelle. Diese wird von Student*innen und der Zivilgesellschaft getragen und hat die Unterstützung der Unternehmer*innen.
Die Bischofskonferenz von Nicaragua hat den Dialogversuch, für den sie seit dem 15. April geworben hatte, für beendet erklärt. Auslöser war ein bewaffneter Angriff am 30. Mai von Polizei und regierungstreuen Bewaffneten auf eine Großdemonstration durch Managua. Der 30. Mai ist der Muttertag in Nicaragua und die Demonstration wurde von 80 Müttern angeführt, deren Söhne bei den jüngsten Protesten getötet worden waren. Die Demonstration zog durch die Straße nach Masaya und sollte in einer kulturellen Zeremonie enden, als der Angriff begann. Bei den Demonstrationen am 30. Mai in Managua und anderen Städten des Landes wurden 15 Menschen getötet, so dass das nicaraguanische Menschenrechtszentrum Cenidh am 3. Juni bereits 110 Todesopfer der Proteste gezählt hat. Die Polizei hingegen beklagt Fälle von Schusswaffen- und Mörsergebrauch seitens der Demonstrant*innen sowie Anschläge auf öffentliche Gebäude und Polizeiwachen.
Bischofskonferenz bricht Dialog ab
Die Bischofskonferenz verurteilte die „von bewaffneten regierungstreuen Gruppen verursachten Gewalttaten“ und betonte, dass die Kirche nicht bei einem Dialog vermitteln werde, „während der Bevölkerung das Recht zu demonstrieren verweigert wird und sie weiterhin unterdrückt und ermordet wird“. Aus Angst vor der Repression wurden viele Verletzte nicht in die Krankenhäuser, sondern in improvisierte Krankenstationen gebracht.
Die Proteste haben Mitte April begonnen und fordern demokratische Reformen. Inzwischen scheinen Neuwahlen unausweichlich sowie eine Verfassungsreform, die die Möglichkeit einer Wiederwahl abschafft. Damit soll verhindert werden, dass die Regierung von Ortega und seiner Frau eine dritte Amtszeit bis 2021 antreten kann. Das war allerdings vor den Auseinandersetzungen vom 30. Mai; mittlerweile hat sich die Position der Opposition verhärtet, die sich inzwischen unter dem Namen Bürgerallianz (Alianza Cívica) vereint hat. Die Opposition plant bereits einen landesweiten Streik, während sich die Demonstrationen, Straßenblockaden und Barrikaden ausweiten. Die Straßenblockaden, die in Nicaragua „trancazos“ genannt werden, erschweren den Import von Lebensmitteln in die Hauptstadt Managua. Die Regierung schätzt die Kosten, die durch die Blockaden verursacht werden, auf bis zu 300 Millionen Dollar und befürchtet zudem den Verlust von 58.000 Arbeitsplätzen. Das schreckt die Unternehmer*innenschaft jedoch nicht davon ab, die Proteste weiterhin offen zu unterstützen.
Gezielte Schüsse auf Demonstrant*innen
Die Unternehmer*innen hatten die Regierung gewarnt, dass sie in der Lage seien, die Proteste zu verschärfen, doch die Regierung Ortega hat Ende Mai die Bedingungen der Bischofskonferenz für einen friedlichen Dialog und ein Ende der Gewalt zurückgewiesen. Ortega nannte die Bedingungen einen „Weg zum Staatsstreich“. Die Bischöfe ihrerseits beklagen Einschüchterungsversuche und Todesdrohungen. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission CIDH und Amnesty International sammeln Berichte über außergerichtliche Hinrichtungen, Folter und gezielte Schüsse auf die verletzlichsten Körperstellen, wie Kopf, Hals und Brustkorb. Auch sie fordern vehement ein Ende der Repression. In den Medien veröffentlichte Augenzeugenberichte stimmen darin überein, dass Anhänger des Frente Sandinista, parapolizeiliche Gruppen und Spezialeinheiten der Polizei direkt auf Demonstrant*innen geschossen hätten.
Mit der Repression vom 30. Mai reagierte Ortega auf Vorwürfe der Führungsspitze der Unternehmer*innen vom Abend zuvor, die einen Regierungswechsel und ein Ende der Repression gefordert hatten. „Nicaragua ist kein Privatbesitz“, erklärte Ortega. „Nicaragua gehört uns allen und wir bleiben alle hier“, so der Präsident in klarer Anspielung auf die Forderung, die Macht abzugeben.
Ortega sieht Putschversuch und will an der Macht bleiben
Bereits am 28. Mai hatte es eine Veränderung in den Machtverhältnissen gegeben. Studierende hatten die Hochschule für Technik besetzt, die bis dahin noch in staatlichen Händen war. Nach Angaben der spanischen Zeitung El País hätten parapolizeiliche Gruppen „eine brutale Antwort“ gegeben, hätten sich jedoch wieder zurückziehen müssen, als viele Bürger*innen zur Unterstützung der Student*innen kamen. Ein oppositioneller Aufstand wird inzwischen als Alternative zu einem landesweiten Streik gesehen. Ein Streik dauert nur eine vorher bestimmte Zeit; wahrscheinlicher ist, dass sich die Opposition für einen Generalstreik mit Zügen eines Aufstands entscheidet.
Der Aufstand war ein zentraler Bestandteil der Mittel, mit denen es dem Frente Sandinista am 19. Juli 1979 gelungen war, die Somoza-Diktatur nach 40 Jahren von der Macht zu vertreiben. Der FSLN erreichte das mit Hilfe einer Koalition, ähnlich der heutigen Bürgerallianz, die sich 1978 nach dem Mord am oppositionellen Journalisten und Besitzer der Zeitung La Prensa, Pedro Joaquín Chamorro, gebildet hatte. Das Symbol eines Kommandanten der sandinistischen Revolution war eine Nachbildung eines Pflastersteins aus Stahlbeton, mit denen heute Barrikaden gebaut werden. Die Parole, die die Demonstrant*innen heute rufen ist: „Ortega und Somoza sind dasselbe.“
Regierung ohne Alternative zur Repression
Die Regierung scheint keine Alternativen zur Repression zu haben, die am 19. April heftig begann und zunächst drei Tage andauerte, nachdem überraschend eine Reform der Sozialversicherung beschlossen worden war. Ohne geeignete politische Optionen hat die Regierung auf Repression zurückgegriffen und dabei den Tod der Protestierenden in Kauf genommen. Der Bericht von Amnesty International zu den Ereignissen trägt den Titel: „Schießen, um zu töten: Strategien der Repression gegen die Proteste in Nicaragua.“
„Die jungen Leute, die für Nicaragua auf die Straßen gegangen sind, wurden in den 1990er Jahren oder in diesem Jahrhundert geboren. Sie sind die Enkel einer Revolution, die in ihrer Erinnerung weit entfernt oder gar nicht vorhanden ist. Dennoch tragen sie jene Revolution in ihren Genen, denn auch sie fand aus moralischen Gründen statt, aus Abneigung gegen eine Familiendiktatur, die sich für die Besitzer des Landes hielt; und als sie sich bedroht sah, zögerte sich nicht, zur härtesten Repression zu greifen. Und zur Vernichtung.“ Das schrieb Sergio Ramírez, Vizepräsident Nicaraguas während Ortegas erster Amtszeit (1985-1990), der sich später vom Sandinismus lossagte, im Mai 2018.
Repression gegen die Proteste in Nicaragua geht weiter von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Schreibe einen Kommentar