Nach den tödlichen Polizeischüssen: Auf dem Weg in eine Diktatur?

(Buenos Aires, 25. September 2020, anred).- Am 9. September 2020 gingen in der kolumbianischen Hauptstadt tausende Menschen auf die Straßen, um gegen den brutalen Mord von Polizisten an einem 45-Jährigen zu protestierten. Die Polizisten überwältigten den Mann mit Schlägen und Elektroschocks und schleppten ihn zu einer nahe gelegenen Polizeistation, wo sie ihn so lange folterten, bis er starb. Ein Video von dem Übergriff ging viral. In Kolumbien begeht die Polizei immer wieder Übergriffe, und häufig werden diese auch angezeigt. Dass, wie in diesem Fall, Tausende wütend auf die Straßen gingen, um Gerechtigkeit zu fordern, ist jedoch ungewöhnlich.

Vielleicht lag es an der Macht der Bilder, der Brutalität und Grausamkeit, mit der die Polizisten den Mann töteten (neunfacher Schädelbruch, zerstörte innere Organe), dass so viele Menschen auf die Straße strömten und ihre Empörung an den Mini-Polizeistationen ausließen, die als CAI (Centro de Atención Inmediata) bekannt sind. Über 50 davon wurden in jener Nacht angezündet.

Polizei verübt ein Massaker

Die Polizei reagierte erneut mit ausufernder Gewalt gegen die unbewaffnete Menge. Videos in den sozialen Netzwerken zeigen, wie sie auf die Protestierenden schießt. Die Bilanz: mindestens 13 Tote (fast alle unter 30 Jahren alt) und 305 Verletzte, davon 75 mit Schusswunden. Mit anderen Worten: Die Polizei beantwortet Protest gegen Polizeibrutalität mit noch mehr Brutalität. Das lässt nur einen Schluss zu: Am 9. September 2020 hat die kolumbianische Polizei als ausführendes Organ der Regierung von Iván Duque ein Massaker an jungen Menschen in Bogotá verübt, für das bis jetzt niemand die Verantwortung übernommen hat.

Tage nach dem Massaker in der Hauptstadt war die kolumbianische Regierung weit davon entfernt, für Gerechtigkeit zu sorgen oder die Täter zu bestrafen. Stattdessen blies sie zu einer regelrechten „Hexenjagd“ gegen die Protestierenden, lobte millionenschwere Belohnungen für die Ergreifung der Verantwortlichen für die Unruhen aus und führte Razzien ohne richterlichen Beschluss bei Anführer*innen oder Aktivist*innen linker Organisationen durch, die sie beschuldigt, hinter den Protesten zu stecken.

Täglich werden Aktivist*innen ermordet

In diesem Jahr hat die UNO in Kolumbien bereits mindestens 38 Mehrfachmorde und 97 Morde an Menschenrechtsverteidiger*innen dokumentiert. Einige Nichtregierungsorganisationen sprechen bereits von über 1.000 ermordeten sozialen Aktivist*innen, seitdem im November 2016 das Friedensabkommen mit den FARC geschlossen wurde. Im Juli dieses Jahres teilten die inzwischen demobilisierten FARC mit, dass bereits 222 ihrer ehemaligen Kämpfer*innen umgebracht worden seien.

Während einer landesweiten Protestaktion Ende 2019 verloren Dutzende Menschen ein Auge durch Polizeischüsse; hunderte Verhaftete berichteten von sexuellen Übergriffen und Folter. Nicht zu vergessen der Fall von Dilan Cruz, der im Zentrum von Bogotá während einer Demonstration ermordet wurde, mit einem Schuss aus einer angeblichen nicht-tödlichen Waffe, abgefeuert von einem Beamten der Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD (Escuadrón Móvil Antidisturbios). Für dieses Verbrechen wurde bis heute niemand bestraft.

Neue Dimension der Polizeigewalt

Das wirklich Neue an der Repression im Zuge der aktuellen Proteste ist nicht die dreiste Rechtfertigung und die Straflosigkeit dieser Morde, die, wie wir wissen, Teil des gewöhnlichen Verhaltens der Polizei und der kolumbianischen Regierung sind. Neu ist vielmehr der verbreitete Einsatz von Schusswaffen gegen eine unbewaffnete Menge sowie die offene Missachtung der Befehle der örtlichen Behörden durch die Polizei. So musste die Bürgermeisterin von Bogotá, Claudia López, öffentlich einräumen, dass sich die Polizei ihren Anordnungen widersetzt hat, in jener Nacht des 9. September nicht auf die Bürger*innen zu schießen. Oppositionsführer Gustavo Petro (und Amtsvorgänger von López, Anm. d. R.) hat nicht gezögert, diese Missachtung als „Staatsstreich“ zu bezeichnen – eine Situation, in der sich keine zivile Autorität für die kriminellen Handlungen der Polizei für verantwortlich hält, deren Generäle öffentlich und ohne zu erröten erklären, dass sie weiter schießen werden, wenn sie es für notwendig halten – auch wenn es niemand anordnet.

Die kolumbianische Polizei untersteht dem Verteidigungsministerium. Als solches ist sie eine militärische Einheit und damit praktisch eine weitere Armee, deren Aufgaben der Repression und Überwachung sich vor allem auf die Städte konzentrieren und die in Zusammenarbeit mit kriminellen Strukturen von Drogenbanden und Paramilitärs permanent junge Menschen in den ärmeren Stadtvierteln verfolgt und misshandelt. Diese Menschen haben mehrfach angeprangert, dass sich die Polizeiwachen in Hotspots für Folter, Missbrauch, Erpressung und Drogenhandel verwandelt haben. Diese marginalisierten jungen Menschen stellen genau die Mehrheit derjenigen, die nun auf die Straße gegangen sind.

Ungleichheit und Frust steigen

Durch die von der Quarantäne ausgelöste Krise sind Millionen Menschen ohne Arbeit (nach offiziellen Angaben liegt die Arbeitslosenquote bei 20,2 Prozent) und ohne festen Wohnsitz. Die bereits beschämend hohe Ungleichheit wächst weiter. Die Mehrheit der Bevölkerung ist zu Hunger und Armut verurteilt. Bereits seit Jahrzehnten hat sich Frust darüber angesammelt, in einem Land zu leben, in dem Gesundheit und Bildung ein Privileg sind; ein Land, in dem der Grund und Boden den Bauern gestohlen wird, ein Land, in dem Lehrer*innen, Arbeiter*innen und Indigene ermordet werden, wenn sie ihre Rechte einfordern, und wo Jugendliche auf dem Land und in den Städten massakriert werden.

Angesichts dieses düsteren Panoramas hat die Regierung von Iván Duque, politischer Erbe und absoluter Untertan von Expräsident Uribe (zur Zeit im Hausarrest wegen einem von über 200 Ermittlungsverfahren gegen ihn) mit einer Verschärfung der Repression reagiert. Bezüglich der jüngsten Morde muss mit Straflosigkeit gerechnet werden, Proteste werden kriminalisiert. Gleichzeitig werden millionenschwere Rettungspakete für bankrotte Großunternehmen aufgelegt (so wie im Fall der Fluglinie Avianca), die Einführung einer Grundrente, die das Überleben von Millionen Menschen sichern könnte, wird jedoch verweigert.

Am 16. September hat eine Gruppe Indigener der Ethnie Misak die Statue des spanischen Konquistadoren Sebastián de Belalcázar in der Stadt Popayán gestürzt; die Aktion zeigt, dass die Wut in weiten Teilen der kolumbianischen Bevölkerung ungebrochen ist. Trotz der repressiven Gewalt befinden sie sich weiterhin im Kampf und im Widerstand gegen einen kriminellen Staat, der heute mehr als je zuvor seine autoritäre Seite zeigt. Heute können wir zweifellos in Kolumbien von einer offenen Diktatur sprechen, die sich nicht einmal mehr bemüht, die falsche demokratische Maske aufzusetzen, die weder das Recht auf Protest, noch das Recht auf Presse- und Meinungsfreiheit respektiert – und die uns in eine unerträgliche Situation bringt. Wir werden weiter auf die Demonstrationen und Aktionen gehen, die nun kommen werden – trotz der unmittelbaren und schrecklichen Möglichkeit, dass an unserer Seite unschuldige Menschen unter dem Stiefel des kolumbianischen Staats sterben.

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