Eine Gedenkstätte für die Frauen im Widerstand gegen die Diktatur

(Montevideo, 28. Juni 2023, la diaria).- 50 Jahre nach dem Staatsstreich: Ein Monument aus mehreren Stelen mit fast 1.800 Namen soll an den Widerstand der Frauen erinnern, die voller Hoffnung gekämpft haben. Der freibleibende Platz ist dem Erinnern und Gedenken an die Frauen gewidmet, deren Namen unerwähnt bleiben.

Einen Namen zu haben, was bedeutet das?

„Ist das mein Name, auch wenn er falsch geschrieben ist? Bin ich wirklich diejenige, die gemeint ist?“, diese Frage mag sich die eine oder andere ehemalige Gefangene stellen. Ein Name, das ist zunächst eine Aneinanderreihung von Buchstaben, die unsere Eltern für uns ausgesucht haben, um unsere Präsenz in dieser Welt auszudrücken, und doch ist er viel mehr als das. Sara Méndez weiß, wie es ist, ein Kind zu bekommen, es zu stillen, ihm einen Namen zu geben und es  20 Tage später zu verlieren, weil es von einer Bande entführt wurde. Sie weiß, wie es sich anfühlt, dieses Kind 26 Jahre später wiederzutreffen und zu erfahren, dass es seit jenem Tag mit einem fremden Namen gelebt hat. „Nach so vielen Jahren treffe ich ihn wieder und muss akzeptieren, dass er den Namen trägt, den andere ihm gegeben haben, und dass er sich mit diesem Namen identifiziert. Mein Sohn Simon heißt Hannibal, er lebt seit 26 Jahren mit diesem Namen, und das nicht zu akzeptieren würde bedeuten, ihm diese 26 Jahre seines Lebens abzuerkennen.“ Mittlerweile nutzt er Simon als zweiten Vornamen. Sara ist stolz auf ihren Sohn, der mit den Großmüttern der Plaza de Mayo verbunden ist, in Schulen seine Geschichte erzählt und in Argentinien an Demonstrationen für Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit teilnimmt.

Und sie selbst? Ganz oben auf einer der 20 Stehlen des Mahnmals zu Ehren ehemaliger politischer Gefangener, das Ende Juni vor dem Palacio Legislativo eingeweiht wurde, fand Sara ihren Namen. Es ist der erste auf der Metalltafel voller Nachnamen, die mit M und N beginnen. „Ich sehe meinen Namen, und ich erkenne, dass es viele Menschen gibt, die etwas Ähnliches erlebt haben, fühlen aber kann ich es nicht, wenn ich diese Tafel sehe, noch nicht. Zwischen all’ den Begegnungen, Umarmungen, Danksagungen habe ich mich noch kein Gefühl zu dieser neuen Sichtbarkeit aufgebaut, deshalb habe ich erstmal ein Foto davon gemacht“.

Den Schleier des Vergessens symbolisch durchtrennen

Die Bürgermeisterin von Montevideo, Carolina Cosse, weihte die Gedenkstätte zusammen mit einigen der ehemaligen politischen Gefangenen ein und durchschnitt mit ihnen das blau-weiße Band, das das ovale Terrain der Gedenkstätte umgab. Mit diesem Schnitt sollte symbolisch der Schleier des Vergessens durchtrennt werden, der die Beteiligung militanter Frauen vor, während und nach dem Staatsstreich in Uruguay umgab und noch immer umgibt. Sie haben es geschafft, ihre Erinnerungen zusammenzutragen, Zeugnis abzulegen von dem, was sie erlebt haben, zu schreiben in dem Bewusstsein, dass Erinnerung eine Form von Schutz ist, sie haben fotografiert, gefilmt, haben kollektiv die sexuelle Gewalt benannt, die sie als politische Gefangene erlitten haben und die Teil der systematischen Folter des Staatsterrorismus war. Eine Gruppe ehemaliger politischer Gefangener hat sich dafür eingesetzt, dass verschiedene Teile der Stadt als Orte des Widerstands gekennzeichnet werden, und schließlich erreicht, dass diese Gedenkstätte für sie errichtet wurde. Auf der Bühne sind Papina de Palma mit „La memoria“ („Möge Gewalt künftig nur noch in Büchern auftauchen“) und Diane Denoir mit „Palabras para Julia-nunca te entregues ni te apartes“ zu hören. Mauricio Ubal bringt zusammen mit Ruben Olivera die Menge mit „A redoblar“ zum Klatschen. Unter den Zuhörerinnen befindet sich die Literaturlehrerin Silvia San Martín. Bis vor einigen Jahren sei Militanz gleichbedeutend mit „Helden und Kameraden“ gewesen, erzählt Silvia. Ihr Name ist nicht in das Metall eingraviert, ebenso wenig wie der ihrer Freundin und Kollegin Liliana Bardallo, einer Philosophielehrerin, denn namentlich genannt werden ausschließlich die Frauen, die von der Militärjustiz verfolgt wurden. Silvia erinnert sich an ihre Zeit im Exil und ihre Rückkehr im Jahr 1986. Liliana blieb in Uruguay. „Erst jetzt setzt sich der Gedanke durch, dass es nicht nur die Gefangenen, die Menschen im Exil und die Verschwundenen gab, sondern auch diejenigen von uns, die hiergeblieben waren. Inhaftiert oder nicht, das spielt keine so entscheidende Rolle. Wichtig ist, dass eine beträchtliche Anzahl von Menschen von der Diktatur betroffen war und gegen das Regime gekämpft hat“, sagt Liliana. „Diejenigen, die im Land geblieben sind und ihre Probleme hatten, sich verlassen fühlten, weil Verwandte und Freunde ins Exil gegangen, gestorben, inhaftiert oder verschwunden waren, die sich isoliert fühlten, weil man sich nicht treffen konnte, mussten in diesem traurigen, grausamen Chaos zurechtkommen. Deshalb finde ich es gut, dass die Menschen inzwischen ermutigt werden, darüber zu sprechen, wie wir die Diktatur erlebt haben.“

Auch die Namen von Liliana und Silvia könnten in die Stele eingraviert sein

Ivonne Klingler ist Mitglied der Gruppe Ex Presas Políticas de Uruguay, die an der Auswahl beim Wettbewerb um den Bau des Mahnmals beteiligt war, wenn auch ohne Stimmrecht.„Eine Stele für jedes Departement des Landes, und eine weitere, um den Kampf aller Frauen zu würdigen: Mädchen, junge Frauen, Mütter und Großmütter, die gekämpft haben“, erklärt sie den Aufbau des Monuments. Silvia und Liliana könnten auf dieser Säule ohne Namen stehen, ebenso die Frau im dunkelblauen Kleid, eine enge Freundin der Schwestern Sara und Rosa Lichtenstein, die ein wenig humpelt. Auf ihren Stock gestützt erzählt sie ihrer Tochter mit feuchten Augen, dass sie Namen von Freundinnen gefunden hat, Aktivistinnen polnisch-jüdischer Herkunft von der Kommunistischen Jugend, die viele Jahre inhaftiert waren und vor einigen Jahren gestorben sind. Sie hatte bis zum L alle Namen gelesen und nicht daran gezweifelt, dass sie sie finden würde. „Sie hatten niemanden, sie waren ganz allein. Mein Name ist nicht dabei, nein, mich haben sie ins Exil mitgenommen.“

Es gibt so viele andere Frauen, die unerwähnt bleiben“

Das Denkmal sei wichtig, erzählt die Fotojournalistin Martha Passeggi, die Kamera griffbereit über die Schulter gehängt, „denn es geht um unsere Rolle als Frauen. Es ist wichtig, dass unsere Gesellschaft versteht, dass Frauen immer eine wichtige Rolle in der Geschichte des Landes gespielt haben. Auch wir haben diese besondere Zeit miterlebt, den Kalten Krieg und was er für uns bedeutete, wobei viele von uns wussten, was da auf uns zukommt“. Der Moment, als Passeggi selbst ihren Namen findet, wird von ihrer Nichte fotografisch festgehalten, die sie an diesem kalten Nachmittag begleitet. Auf der Suche nach ihren eigenen Namen stoßen die Frauen auf die Namen von Freundinnen und Bekannten und begegnen einander in spontanen Umarmungen. „Unsere Namen stehen dort, weil wir strafrechtlich verfolgt wurden“, merkt Martha an, „aber es gibt so viele andere Frauen, die unerwähnt bleiben…. Wir werden versuchen, diese Namen hinzuzufügen.“
Zwischen Familienselfies und Plakaten mit SALTO: HIER, MELO, PANDO: HIER, SANTA LUCÍA, MALDONADO: HIER“ erinnert Graciela Jorge, ehemalige Tupamara-Aktivistin und Ex-Leiterin des Sekretariats für Menschenrechte, an die, die die feierliche Einweihung des Mahnmals nicht miterlebt haben. Ihre Namen müssten ebenfalls auf den Säulen stehen, meint Graciela. An wen genau sie dabei denkt, möchte sie nicht sagen, um niemandem gegenüber ungerecht zu sein. „Das hier ist überhaupt kein trauriger Moment“, sagt sie, „aber ich hätte mir gewünscht, dass sie hier wären und das hier auch erleben könnten, denn bis vor nicht allzulanger Zeit hätte man sich nicht vorstellen können, dass so etwas jemals passiert“. Ereignisse wie diese zeigten jedoch, dass die Ablehnung gegenüber der Diktatur immer stärker werde. „Viele Aktionen werden von der Generation der Kinder initiiert, die im Gefängnis geboren wurden“. Graciela ist eine der ersten Autorinnen, die als militante und ehemalige politische Gefangene über Flucht und Mutterschaft in Gefängnissen geschrieben hat. „Um die Erinnerung an die politischen Frauen aufrechtzuerhalten, müssen wir den Geist der Rebellion, der uns damals geleitet hat, konsequent hervorheben: Unsere Generation war sehr rebellisch und voller Hoffnung. In der heutigen Gesellschaft sehe ich diese Entschlossenheit nicht.“

Was würdest du dir wünschen, das an diesem Ort passiert?

„Dass jemand nach dir sucht, weil er dich kennt. Oder dass jemand deinen Namen findet und sich fragt, wer das ist. Dies ist etwas, das dieses Denkmal denen geben kann, die kommen und es sich ansehen, ohne selbst Protagonistinnen dieser Geschichte gewesen zu sein“, meint Ana Demarco. Demarco erlebte den Militärputsch als aktivistische Lehramtsstudentin, die davon träumte, die Welt durch Bildung zu verändern. Den Traum hat sie bis heute nicht aufgegeben. „Es ist wie ein Fest, hier zu sein und so viele andere zu treffen. Einige sind sogar mit ihren Rollstühlen gekommen. Es ist toll zu sehen, wie viel mehr Raum das Thema der Frauen in der Diktatur inzwischen bekommen hat. Und wir, wir haben uns niemals als Feministinnen bezeichnet, wir waren es einfach, schon damals.“

Wir haben die Frage einigen der Besucherinnen vor dem Parlament gestellt. „Es sollte ein Ort der Begegnung sein, an dem Aktivitäten von jungen Menschen organisiert werden, also von den Generationen, die daran arbeiten, dass unsere Erinnerung nicht vergeht. Das ‚Nie wieder‘, das heute so oft gesagt wurde, das ist unser Wunsch. Das alles hängt auch vom Zusammenspiel der Kräfte ab“, antwortet Martha Passeggi. „Ich möchte, dass sich die Jugendlichen fragen, was passiert ist, warum, wofür diese Namen stehen, für welches Engagement, und welchen Herausforderungen man sich heute stellen muss“, ergänzt Ana Demarco. „Ich wünsche mir, dass niemand mehr die Gesellschaft unterteilt in die einen und die anderen, sondern dass wir das „Wir“ aufbauen, das empfinde ich als eine grundlegende Verpflichtung. Die anderen zu sehen und zu begreifen, dass sie so sind wie ich“. Das Denkmal, wie es heute in Montevideo steht, wurde aus 26 Vorschlägen ausgewählt, die dem Stadtrat von vorgelegt wurden. Im August letzten Jahres fiel die Entscheidung für das Projekt. Die Architektin María Victoria Steglich Crosa leitete das Team von fünf jungen Architekten, „die es verstanden, unsere Gefühle, Erfahrungen, die uns gestärkt haben, und die Unterstützung und Solidarität auszudrücken, die wir erfahren haben“, so Ivonne Klingler. „Dieses Monument ist allen Frauen gewidmet, die gegen Unrecht und Staatsterrorismus gekämpft haben, denjenigen von uns, die verhaftet wurden, die im Exil, im Verborgenen gelebt haben, denjenigen, die uns unterstützt haben, denen, die ermordet wurden und denen, die verschwunden sind“.

„Ein Ort der Begegnung und Besinnung, ein Symbol des Neuanfangs“

Das Werk will die Umarmung ausdrücken, die Mütter, Tanten und Töchter den gefangenen Frauen sandten, über alle Entfernungen und Hindernisse hinweg: „Ein Ort der Begegnung, ein Ort der Besinnung, ein Symbol des Neuanfangs“, fügt Klingler hinzu. „Wir wollten das Grauen nicht weitergeben. Wir wollten den neuen Generationen vermitteln, wie wir das Grauen in etwas Positives verwandelt haben, um selbst in den extremen Situationen, die wir erlebt haben, zu wachsen und weiterzuleben“, ergänzt ihre Begleiterin Adriana Zinola. Norma Susana La Negra Escudero, Aktivistin der Revolutionären Kommunistischen Partei, sieht die Gedenkstätte als eine Chance, die Unsichtbarkeit zu beenden, unter der die Frauen litten. „Während sie uns folterten, sagten sie Sachen wie: ‚Warum gehst du nicht einfach das Geschirr abwaschen?‘ Uns Frauen haben sie am schlimmsten gefoltert und sich dazu unserer Sexualorgane bedient. Das war wie eine Art Rache, ein abgrundtiefer Hass, den sie uns gegenüber empfanden. Wie ist es möglich, dass ein Mensch einem anderen so etwas antut? Wir wollen nicht, dass so etwas jemals wieder geschieht.“
Der Platz ist fast leer. Voller Stolz und immer noch zitternd vor Ergriffenheit bringt Ivonne es auf den Punkt: „Nach 38 Jahren haben wir endlich erreicht, dass der Widerstand der Frauen anerkannt wird. Nun kann niemand mehr behaupten, wir hätten uns einfach nur unterm Bett versteckt“.

 

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