(Bogotá, 29. Mai 2021, colombia informa/poonal). Am 28. Mai sind tausende Menschen landesweit auf die Straße gegangen, um an den Beginn der landesweiten Protestwelle einen Monat zuvor zu erinnern. Von Norte de Santander im Nordosten Kolumbiens bis Pasto im Südwesten fanden Protestmärsche, Blockaden und kulturelle Events statt. Diese wurden, wie schon zuvor, in verschiedenen Regionen des Landes brutal von Polizei und Armee angegangen. Hier ist ein Überblick über die Protestaktionen in verschiedenen Städten und Regionen Kolumbiens.
Cúcuta und Catatumbo
In Cúcuta, der Hauptstadt des Departments Norte de Santander, nahmen Studierende und junge Leute an einem Protestmarsch teil. Als die Demonstration das Rondell vor der Polizeistation von Cútuta erreichte, begannen einige Teilnehmer*innen, die Wände mit Parolen zu besprühen. Daraufhin setzte die Polizei Tränengas und Blendgranaten gegen die Demonstration ein. 14 Personen wurden festgenommen, elf von ihnen blieben zunächst in Haft.
Zugleich blockierten über 400 Bäuer*innen des Gemeinschaftskomitees des Catatumbo (Comité de Unidad del Catatumbo) die Landstraße zwischen Cúcuta und El Zulia. Vor Ort waren Polizist*innen der Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD (Escuadrón Móvil Antidisturbios), der Spezialeinheit GOES (Grupo de Operaciones Especiales) und weitere Kräfte. Mit Einbruch der Nacht zogen sich die Bäuer*innen deshalb nach El Mestizo zurück, wo über 3.000 Menschen kampierten.
Am Morgen des 29. Mai wurden mehrere Wandbilder wieder übermalt, die in den Tagen zuvor am Theater Las Cascadas und an der Brücke San Mateo angebracht worden waren.
Bucaramanga und Umgebung
In Piedecuesta, einer Gemeinde 17 Km südlich von Bucaramanga, begann der Aktionstag am Morgen mit einer Protestaktion auf der Autobahn zwischen Bucaramanga und Bogotá. Dort fanden bis 17 Uhr Kulturevents statt, bis der ESMAD schließlich gegen die Protestaktion vorging. Bis tief in die Nacht blieben Sicherheitskräfte vor Ort.
In Bucaramanga selbst startete eine Demonstration in Puerta del Sol und eine weitere in Papi Quiero Piña, beide trafen später zusammen. Die erste verlief friedlich, bis sie gegen 17.30 im Bereich Cañaveral vom ESMAD angegriffen wurde. Die anschließenden Auseinandersetzungen dauerten drei Stunden, Menschenrechtsgruppen meldeten elf Verletzte.
Eine weitere Protestaktion fand zudem in der Wirtschaftsuniversität von Santander UIS statt, die ebenfalls von Sicherheitskräften angegriffen wurde. Die Polizei umstellte zudem die Universität, so dass die Demonstrant*innen bis zum frühen Morgen eingekreist waren.
Bogotá
Die Proteste in der Hauptstadt begannen bereits am frühen Morgen. Erneut trafen sich die Demonstrant*innen massenhaft im Süden der Stadt: Usme, Soacha, Ciudad Bolívar und Portal Resistencia im Stadtteil Kennedy. Überall fanden kulturelle Darbietungen, Gemeinschaftsküchen und Trommeleinlagen, sogenannte Batucadas statt, um einen Monat des landesweiten Streiks und der Proteste zu feiern. Im Stadtzentrum startete eine Demonstration der Gewerkschaften im Parque Nacional, der sich Indigene der Misak anschlossen. Außerhalb des Zentrums gab es Kunstperformances vor mehreren Éxito-Supermärkten.
Eine Demonstration im Norden der Stadt wurde von Lehrer*innen der Bildungsvereinigung ADE angeführt und von den „Müttern der Ersten Reihe“ begleitet. In ihrer Rede betonten sie, dass sie ihre Kinder nicht für den Krieg gebären wollten: „Wir sind hier bei euch, wir tragen euch in unserem Herzen.“ Eine der Redner*innen war die Mutter von Dylan Cruz, dem 18-jährigen Schüler, der 2019 von einer Kugel eines ESMAD-Polizisten tödlich verletzt wurde. Auch sie beklagte die Gewalt und Repression gegen die jungen Leute und sprach von Staatsterrorismus.
Im südöstlichen Stadtteil Usme fanden die Protestaktionen auf der „Brücke der Würde“ und der Straßenkreuzung der Avenidas Boyacá und Caracas statt. Dort spielte eine Batucada zwei Stunden lang. Vom Portal Resistencia (Portal Américas) startete eine Demonstration, die im Viertel Galán mit einem Rap-Konzert endete. Dort waren mehrere primeras líneas aus dem Süden Bogotás organisiert und wehrten sich stundenlang gegen Angriffe der Polizei. Genau dort, wo üblicherweise der ESMAD angreift, kam es zu einem Stromausfall. Insgesamt wurden an dieser Stelle 85 Verletzte registriert.
Auf sämtlichen Protestaktionen wurde die Polizeigewalt angeprangert, der die Demonstrant*innen in den vergangenen Nächten ausgesetzt waren.
Medellín
In der Hauptstadt des Departments Antioquia gab es zwei Startpunkte: Einer vom Park des Widerstands (Parque de los Deseos) im Norden, einer von El Poblado im Süden. Beide Demonstrationen verliefen friedlich und trafen sich am Stadion. Neben jungen Leuten nahmen auch Ältere, Familien und Künstler*innen teil, die die Teilnehmer*innen am Stadion unterhielten, wo auch ein großes Konzert mit Künstler*innen der Stadt stattfand. Die ortsansässigen Händler*innen zeigten sich solidarisch und spendierten Getränke.
Aber auch hier begann gegen 17.30 eine etwa einstündige Auseinandersetzung, der massive Tränengaseinsatz sorgte dafür, dass sich die Menge schließlich zerstreute. Es gab mehrere Hinweise auf Bewaffnete in zivil, die in der Umgebung des Einkaufszentrums El Diamante scharf schossen und auch Pressevertreter*innen angriffen, die die Menschenrechtsbeobachter*innen begleiteten. Diese Angriffe fanden vor den Augen der Polizei statt.
Cali
In Cali war die Situation von Anfang an angespannt. Im Viertel La Luna schoss eine Person in zivil auf die Demonstrant*innen und tötete einen von ihnen. Der Zivilist entpuppte sich als Beamter der Generalstaatsanwaltschaft und wurde von der aufgebrachten Menge gelyncht.
Den ganzen Tag über wurden immer wieder Bewaffnete in zivil beobachtet, die in Anwesenheit der Polizei auf Demonstrant*innen schossen. Am Ende des Protesttages waren 14 Menschen getötet worden, wie Bürgermeister Jorge Iván Ospina bestätigte.
Die Vereinten Nationen verlangen eine Untersuchung der tödlichen Schüsse. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission will in der zweiten Juniwoche nach Kolumbien reisen, um die Menschenrechtssituation zu überprüfen.
Popayán
Verschiedene Bevölkerungsgruppen, darunter Studierende, Bäuer*innen und Indigene, versammelten sich an verschiedenen Punkten der Hauptstadt des Departments Cauca; am Chirimía-Rondell im Norden und an der Universität. Alle erreichten die Humilladero-Brücke, wo jedoch gegen 16.00 die Polizei gegen die Demonstrant*innen vorging. Mehrere Demonstrant*innen erklärten, Schüsse gehört zu haben, die aus der Polizeiwache gekommen sein sollen. Die Menge zog sich in verschiedene Richtungen zurück.
Darüber hinaus gab es Aktionen und Kundgebungen in Sogamoso, Tunja, Duitama, Yopal, Cubará, Paz de Ariporo, Tauramena und Villavicencio. Außerdem gibt es sein einem Monat einen Streik im Department Arauca mit Kundgebungen in Tame, Saravena, Arauquita, Fortul und Arauca.
Die Antwort der Regierung
Am Ende dieses Tages verkündete Präsident Duque das Dekret 575 zur „Wahrung und Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung“. Mit diesem Dekret wird in acht kolumbianischen Departments und in 13 Städten das Militär auf die Straßen geschickt, auch gegen den Willen der Lokalregierungen. Gemeinsam mit der Polizei soll es Straßenblockaden räumen und die Proteste der Bevölkerung eindämmen. Davon betroffen sind die acht Departments Cauca, Valle del Cauca, Nariño, Huila, Norte de Santander, Putumayo, Caquetá und Risaralda. Außerdem mehrere Behörden der Städte Cali und Buenaventura sowie die Stadtverwaltungen von Pasto, Ipiales, Popayán, Yumbo, Buga, Palmira, Bucaramanga, Pereira, Madrid, Facatativá und Neiva.
Zudem wurden schnellere Festnahmen und Verurteilungen von Personen angeordnet, die „an Straftaten gegen die öffentliche Ordnung, die Sicherheit und das Zusammenleben“ beteiligt seien. Präsident Duque erklärte, das könne auch Personen betreffen, die an einer Blockade teilgenommen haben. Damit wird eine im ganzen Land verbreitete Protestform kriminalisiert.
Nur Stunden vor der Verkündung des Dekrets hat die Regierungspartei Centro Democrático die Regierung aufgefordert, für „eine vollständige Mobilmachung von Militär und Polizei in Gebieten in großer Gefahr“ zu sorgen.
Am 29. Mai nahm Duque zudem an einem Treffen des Sicherheitsrats in Popayán teil. Dort wurde beschlossen, die Zahl der Sicherheitskräfte um 25 Prozent zu erhöhen. Außerdem bezeichnete der Präsident in seiner Rede die sozialen Proteste als „Vandalismus“, „Plünderungen“ und als „urbanen Terrorismus niederer Intensität“.
Angesichts der Kriminalisierung der Proteste kritisieren soziale Organisationen, diese mit kriegerischen Mitteln eindämmen zu wollen und warnen vor einer möglichen Zunahme der Gewalt gegen Demonstrant*innen. Die Verhandlungen zwischen Regierung und Streikkomitee, die bislang zu keinen Ergebnissen gekommen waren, sind damit erst mal auf Eis gelegt, obwohl das Streikkomitee weiter hin Dialogbereitschaft signalisiert.
Bis einschließlich den 28. Mai hat die Kampagne „Defender la Libertad“ 59 Tote registriert; außerdem 866 Verletzte, 346 Verschwundene und 2.152 Festnahmen im Rahmen der seit einem Monat andauernden Proteste.
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