Von Jessica Zeller und Darius Ossami
(Berlin, 7. September 2017, npl).- In Argentinien herrscht weiterhin Unklarheit über den Verbleib von Santiago Maldonado. Am 1. August war der linke Aktivist bei Protesten der indigenen Mapuche im Süden des Landes von der Gendamerie verhaftet und in einen Mannschaftswagen verfrachtet worden. Das berichten Augenzeugen, die an dem Tag dabei waren. Seitdem fehlt von dem jungen Mann jede Spur. Der Verdacht steht im Raum, dass er von der Polizei umgebracht worden ist. Menschenrechtsorganisationen verlangen vom argentinischen Staat Aufklärung darüber, was an dem Tag passiert ist. Einen Monat nach Maldonados Verschwinden, beziehungsweise mutmaßlichen Verschwindenlassens, fanden in vielen Städten Demonstrationen statt – auch in Berlin.
30.001 Verschwundene
„Es sind 30 001 Verschwundene!“ Der Argentinier Luis Tomé steht in einer Menschenmenge von knapp 100 Personen auf dem Berliner Wittenbergplatz und hält ein selbstgebasteltes Plakat in die Höhe. Es ist der 1. September und das Gebäude der argentinischen Botschaft ist in Sichtweite. Mehr als 30 Jahre ist es her, seit Tomé, der Architekt ist und in den siebziger Jahren Mitglied der peronistischen Jugendbewegung war, aus politischen Gründen nach Deutschland floh. In Argentinien wurden unter der letzten Militärdiktatur als „subversiv“ eingestufte Menschen willkürlich verhaftet, gefoltert und ermordet. Von den meisten der 30.000 Verschwundenen fehlt immer noch jede Spur. Angehörige und Freunde haben die Hoffnung, sie lebend zu finden, längst aufgegeben. Es gibt keine Gräber, an denen sie um sie trauern könnten.
Proteste der indigenen Mapuche werden kriminalisiert
Seit dem 1. August hat Argentinien einen Verschwundenen mehr: Santiago Maldonado, 28 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in der Provinz Buenos Aires. Der junge Mann lebte seit einigen Monaten als Kunsthandwerker in Patagonien. Immer wieder beteiligte er sich an Protesten der indigenen Mapuche, die dort ansässig sind. Seit den neunziger Jahren befinden sich riesige Gebiete im Süden des Landes – unter anderem solche, auf denen die Mapuche seit Jahrhunderten leben – im Privatbesitz transnationaler Konzerne. Dem Textilunternehmen Benetton gehört mit knapp einer Million Hektar die größte Fläche. Die Indigenen verlangen die Rückgabe ihres Landes, eine kleine Gruppe Mapuche hält seit 2015 einen Teil der Benetton-Ländereien besetzt. Doch der argentinische Staat sperrt sich dagegen. Unter der Regierung des rechtskonservativen Präsidenten Mauricio Macri ist die Repression stärker geworden: „Hier findet eine gefährliche Gleichsetzung statt: Die Forderungen der Mapuche werden vom Staat als Terrorismus interpretiert. Die Indigenen werden zu einer Gefährdung der nationalen Sicherheit stilisiert. Dafür gibt es aber keine Anhaltspunkte“, sagt Federico Efrón, Anwalt beim renommierten argentinischen Menschenrechtszentrum CELS.
Gewaltsame Straßenräumung am 1. August
Seit Ende Juni befindet sich Facundo Jones Huala, ein Anführer der Mapuche-Proteste, in Haft. Er soll ins benachbarte Chile ausgeliefert werden, wo ihm eine lange Haftstrafe droht. Im Juli hatten Protestierende aus Solidarität mit Huala eine Landstraße in der Gemeinde Pu Lof Cushamen in der argentinischen Provinz Chubut blockiert. Am 1. August, also dem Tag, an dem Santiago Maldonado verschwand, räumte die argentinische Gendarmerie die Blockade gewaltsam und trieb die Flüchtenden unter Einsatz von Gummigeschossen und scharfer Munition durch einen eiskalten Fluss. Santiago Maldonado, der nicht schwimmen konnte, blieb den Schilderungen anderer Protestierender zufolge in Ufernähe und suchte Schutz unter einem Baum. Dorthin folgten ihm mehrere Polizisten. Weiter berichten Augenzeugen, dass Einsatzkräfte eine Person in einen Mannschaftswagen verfrachtet hätten. Danach verliert sich seine Spur.
Santiago Maldonado geht alle an
Seitdem bewegt die Frage „Wo ist Santiago Maldonado“ Millionen Argentinierinnen und Argentinier auf der ganzen Welt. Vorausgegangen waren der Mobilisierung vom 1. September bereits kleinere Proteste. Fußballspieler argentinischer Teams gingen mit Maldonado-Transparenten aufs Spielfeld. In den sozialen Medien gab es bis zu einer halben Million Tweets und Postings. Auch Diego Maradona bekundete seine Solidarität. Maldonado geht alle an. Denn obwohl er nicht der erste Verschwundene in der Zeit der argentinischen Demokratie ist, waren die Parallelen zu den Fällen während der Diktatur noch nie derart offensichtlich wie hier. Zudem können sich viele Bewohner*innen der Hauptstadt, mit einem Mann identifizieren, der ebenso gut ein Kollege oder Nachbar sein könnte. „Es ist tatsächlich so, dass er, weil er weiß ist und aus der Mittelschicht kommt, eine größere Resonanz bekommen hat“, sagt die argentinische Soziologin Estela Schindel, und ergänzt: „Wahrscheinlich wäre sonst die Repression, der die Mapuche im Moment ausgesetzt sind, nicht so sichtbar geworden. Wie auch immer: Wir verlangen vom Staat zu wissen: Wo ist er? Wo ist Santiago Maldonaldo?“
Abwehr und Ablenkungsmanöver der Regierung
Auf diese Frage hat die Regierung unter dem rechtskonservativen Präsidenten Mauricio Macri keine Antwort – im Gegenteil. Als sich die politisch verantwortliche Ministerin für nationale Sicherheit, Patricia Bullrich, am 7. August erstmals öffentlich zu dem Fall äußerte, verkündete sie selbstsicher, dass es „keinerlei Anzeichen“ dafür gebe, dass die Gendarmerie Maldonado festgenommen habe. Alle beteiligten Polizisten seien befragt worden, niemand wisse etwas von dem Mann. Zudem seien alle Protestierenden vermummt gewesen, wer könne da mit Sicherheit sagen, ob Maldonado überhaupt an Ort und Stelle gewesen sei? Federico Efrón vom Menschenrechtszentrum CELS fasst zusammen: „Wenn wir uns das Handeln der Regierung im Fall Santiago Maldonado anschauen, so müssen wir leider feststellen, dass sie bisher sehr wenig dafür getan hat, die Ereignisse vom 1. August aufzuklären und Santiago Maldonado zu finden. Statt die Rolle der Sicherheitskräfte genauer unter die Lupe zu nehmen, wurde behauptet, die Familie von Maldonado würde nicht mit dem Staat zusammenarbeiten. Oder der junge Mann sei im Zuge eines früheren Protests verletzt worden und somit nicht dabei gewesen. Was natürlich Quatsch ist und eigentlich nur ein Ablenkungsmanöver. Aber es erschwert die Möglichkeit, Santiago noch lebend zu finden und die Rolle der Gendamerie an diesem Tag aufzuklären“.
Fall Maldonado liegt jetzt bei der Justiz
Mittlerweile hat die Regierung zwar verbal etwas eingelenkt und sieht ein, dass Maldonados Verschwinden – ganz hypothetisch gesprochen – etwas mit einer möglichen Festnahme zu tun haben könnte. Am 11. September verkündete die Regierung überraschend, sieben Beamte der Gendarmerie könnten für das Verschwindenlassen von Maldonado verantwortlich sein – ein Versuch, Regierung und Polizeiapparat aus der Schusslinie zu nehmen. Doch schon am Folgetag erklärte Sicherheitsministerin Bullrich, dass die in den Polizeifahrzeugen sichergestellten DNA-Spuren nicht mit der DNA Maldonados übereinstimmten: „Das klärt ganz klar die Anschuldigungen eines gewaltsamen Verschwindenlassens auf“ und eröffne neue Ermittlungsansätze.
Im Verfahren vor dem Provinzgericht von Chubút wegen „gewaltsamen Verschwindenlassens einer Person“, bei dem das CELS als Nebenkläger auftritt, sollen nun die Augenzeugen gehört werden. Doch wichtige andere Spuren und Beweismittel sind möglicherweise bereits vernichtet worden. Und der mit dem Prozess betraute Richter hat auch die Räumung der Straßensperre angeordnet. Man darf also sehr gespannt sein, ob überhaupt irgendwann etwas aufgeklärt werden wird.
Zu dem Beitrag gibt es auch ein audio, das ihr hier findet.
Argentinischer Aktivist bleibt verschwunden von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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