(Mexiko-Stadt, 23. Juli 2020, npla).- Es ist noch gar nicht allzu lange her, da verkündete der heutige mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO), im Falle seines Wahlsieges werde er das gegen die Drogenkartelle eingesetzte Militär in die Kasernen zurückschicken. Nach gut anderthalb Jahren seiner Amtszeit sind die mexikanischen Streitkräfte jedoch zu einer Art Allzweckwaffe geworden. Neuste Entwicklung: AMLO plant, alle Zollbüros und Häfen durch Heer und Marine kontrollieren zu lassen. Tatsächlich sind der mexikanische Zoll und die Seehäfen geprägt von Schmuggel, Drogen- und Waffenhandel, ausufernder Korruption einschließlich der Bereicherung von Funktionär*innen an Schlüsselstellen.
Doch dem Vernehmen nach sind weder Verteidigungsminister Luis Cresencio Sandoval noch Kommunikations- und Verkehrsminister Javier Jiménez Espriú von der präsidentiellen Initiative sonderlich begeistert. Einige „informierte Kreise“ sehen sogar den Rücktritt von Espriú als beschlossene Sache an. Aber vor allem aus den Reihen der Militärs dringen seit geraumer Zeit Befürchtungen an die Öffentlichkeit, ihre Institution könne sich angesichts zunehmender Aufgabenfülle verausgaben und abnutzen. Das bezieht sich sowohl auf den Umfang ihrer Tätigkeiten in eigentlich zivilen Bereichen als auf das öffentliche Image der Streitkräfte.
„Die Nationalgarde ist nichts anderes als eine Filiale der Streitkräfte.“
Faktisch sind die Streitkräfte inzwischen weitgehend für die innere Sicherheit zuständig. Bis März 2024 haben sie außerordentliche Befugnisse, eigentlich der – weitgehend korrupten – Polizei zustehende Kompetenzen zu übernehmen. An der Spitze der neugeschaffenen Nationalgarde steht ein dem Verteidigungsminister rechenschaftspflichtiger Militär im Ruhestand. Die überwiegende Zahl der Einsatzkräfte sind vom Militär „ausgeliehen“. Nach Angaben des Sicherheitsexperten Alejandro Hope wird auch die Finanzierung der Nationalgarde zu 80 Prozent über das Budget von Heer und Marine abgewickelt. Die Streitkräfte rekrutieren auch die neuen Mitglieder der Nationalgarde. Während die Militärs sich offiziell mit Alfonso Durazo, dem zivilen Minister für Öffentliche Sicherheit „koordinieren“, sind sie in der Praxis die Entscheidungsträger in der Nationalgarde. Hope sagt: „Die Nationalgarde ist nichts anderes als eine Filiale der Streitkräfte.“
Bei der Kontrolle und Zurückweisung der lateinamerikanischen Migrant*innen an der Südgrenze mit Guatemala standen die Soldaten Anfang des Jahres an vorderster Front. Die Katastrophenhilfe zum Beispiel bei Überschwemmungen liegt im Wesentlichen in der Verantwortung der Militärs. Dass das mexikanische Gesundheitssystem bisher nicht völlig von der Corona-Pandemie überfordert wurde, hat auch mit dem Militär zu tun. Mehrere Militärkrankenhäuser wurden zu Corona-Hospitälern umgewandelt. Ebenso waren die Streitkräfte maßgeblich beim Aufbau provisorischer Krankenhäuser beteiligt. Wem unterliegt die Verantwortung für den Bau des neuen zivilen internationalen Flughafens bei Mexiko-Stadt? Richtig, den Militärs. Generell sind die Soldaten vielfach als Baumeister beschäftigt: Nicht nur die neuen Kasernen für die Nationalgarde errichten sie selbst. Sie sind gleichfalls für die Konstruktion der Gebäude der staatlichen Wohlfahrtsbank (Banco del Bienestar) zuständig. Diese soll nach den Vorstellungen von AMLO das gesamte Land mit einem Netz von 3.000 Filialen überziehen. Geplante Einsätze von Soldaten gibt es zudem beim Bau von zwei Teilstrecken des „Maya-Zuges“ im Südosten Mexikos sowie beim Straßenbau und der Infrastruktur für das Fernmeldewesen. Nicht zu vergessen: Im Rahmen des umfangreichen Baumpflanzprogrammes „Leben Säen“ (Sembrando Vida) ist das Militär für eine Reihe von Gewächshäusern verantwortlich.
AMLO setzt auf ein „Militär für das Volk“
Angesichts ihrer Multifunktionalität wird es für die Streitkräfte nicht einfacher, die ihnen seit 2006 unter dem konservativen Präsident Felipe Calderón aufgebürdete und umstrittene Mission zu erfüllen, die Drogenkartelle zu bekämpfen. Dennoch setzt AMLO inzwischen unbeirrbar in verschiedensten Bereichen auf die „unkorrumpierbaren“ Spitzen von Heer und Marine. Zwar werden die Streitkräfte nach wie vor teilweise schwerster Menschenrechtsverletzungen angeklagt. AMLO, der auf ein „Militär für das Volk“ setzt, weiß aber genau, dass dieses unter der breiten Bevölkerung eine wesentlich höhere Zustimmung verzeichnet als unter Menschenrechtsexpert*innen. Bisher haben sich die mexikanischen Streitkräfte immer der Oberbefehlsgewalt des Präsidenten untergeordnet, solange sie als Institution nicht angegriffen wurden. Doch nicht nur das Büro des UNO-Menschenrechtshochkommissariats in Mexiko äußerte jüngst seine Besorgnis über den ständigen Aufgabenzuwachs der Streitkräfte. Unterdessen wird deren Kompetenzvielfalt schleichend zur Normalität. Zeitungskommentator Salvador García Soto von El Universal dazu trocken: „Hier und in China heißt das Militarisierung.“
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