Wie ist die politische Lage?

(Lima, 25. Juni 2023, lanzas y letras).- Die Ankündigung von Keiko Fujimori, zum vierten Mal in Folge für das Präsidentenamt in Peru zu kandidieren, ist eine Provokation für das kollektive Gedächtnis. Gleichzeitig haben verschiedene soziale, politische und gewerkschaftliche Organisationen für den 19. Juli eine Großdemo unter dem Motto „La Tercera Toma de Lima“ (Die dritte Übernahme Limas) angekündigt. Sie fordern u.a. den Rücktritt der Interimspräsidentin Dina Boluarte, Gerechtigkeit für die mehr als 70 in ihrer Regierungszeit ermordeten Menschen und die Auflösung des Kongresses. Ein Text von Jesús Rojas*.

Perus Bevölkerung leidet immer noch an kollektivem Gedächtnisschwund. Diese Krankheit nutzen die Fujimoristas und die anderen rechten Fraktionen aus, um den Kongress, die Generalstaatsanwaltschaft, das Verfassungsgericht, die Aufsichtsbehörde für das Hochschulwesen Sunedu (ohne jeglichen Protest der Studierenden) und die Ombudsstelle für Menschenrechte nach Belieben kontrollieren zu können. Außerdem sind diese Fraktionen sehr unzufrieden mit den Wahlbehörden und der Nationale Justizbehörde (JNJ) und wollen sie deshalb übernehmen.

Nun will auch noch die Tochter des inhaftierten Ex-Diktators Alberto Fujimori zum vierten Mal in Folge für die Präsidentschaft kandidieren. „Ich habe eine Kandidatur im Falle einer vorgezogenen Wahl kategorisch abgelehnt. Aber für die Zukunft habe ich noch keine Entscheidung getroffen. Aber allein der Versuch, mir oder meiner Partei die Teilnahme an den Wahlen zu verweigern, erscheint mir diskriminierend und antidemokratisch“, betonte Keiko Fujimori.

Wenn ein Volk an Gedächtnisschwund leidet, ist Verlogenheit eine Tugend

Nach ihrer Wahlniederlage gegen Pedro Castillo 2021 hatte Fujimori erklärt, dass sie nicht erneut für das Präsidentenamt kandidieren werde. Das hatte sie auch schon 2016 verkündet, als sie gegen Pedro Pablo Kuczynski verlor. Aber wenn ein Volk an Gedächtnisschwund leidet, ist Verlogenheit eine Tugend. In Peru ist der alte Fujimorismus noch nicht tot, er liegt noch nicht einmal im Sterben. Vielmehr kontrolliert er zahlreiche staatliche Institutionen. Aber es entsteht auch nichts Neues, das die Realität der Peruaner*innen verändern könnte.

Lügen kann nicht nur Keiko Fujimori, die Anführerin der kriminellen Partei Fuerza Popular (FP). Es ist ein weit verbreiteter Wert in der peruanischen Politik. Ein Beispiel ist die derzeitige Präsidentin Dina Boluarte. Als der Kongress im Dezember 2021 die Amtsenthebung Pedro Castillos anstrebte, sagte die damalige Vizepräsidentin Boluarte: „Wenn sie den Präsidenten absetzen, werde ich mit ihm gehen.“

War Pedro Castillo ein Hoffnungsträger für Peru?

Politik birgt immer Hoffnungen und Enttäuschungen. War Pedro Castillo ein Hoffnungsträger für Peru? Infolge der ständigen Schikanen der skrupellosen Rechten war seine schwache und kurzlebige Regierung zum Scheitern verurteilt. Castillo landete im Gefängnis von Barbadillo, nachdem er – ohne ordentliches Verfahren – als Präsident abgesetzt worden war. Er sitzt nun im selben Gefängnis wie Ex-Diktator Alberto Fujimori.

Nach weniger als sieben Monaten ist das Regime von Dina Boluarte geprägt von der rücksichtslosen Unterdrückung und Ermordung von mehr als 70 Arbeiter*innen, Bäuer*innen und Indigenen. Ist Boluarte eine Enttäuschung? Sie war nie eine Hoffnungsträgerin. Vom ersten Tag ihrer Präsidentschaft an setzte sie alles daran, an der Macht zu bleiben, ohne sich um den Schmerz und das Leid der Bevölkerung zu kümmern.

In der Politik ist alles möglich

Obwohl das Regime keine Legitimation hat und sich nur um die Unterdrückung der sozialen Proteste gekümmert hat, kann sich Boluarte mit Unterstützung des Kongresses und der wirtschaftlichen Machtgruppen weiter an der Macht halten. Welche Bedeutung haben schon Umfragen? Laut der jüngsten Erhebung von Ipsos-Peru lehnen 77 Prozent der Peruaner*innen die Regierung Boluarte und 81 Prozent den Kongress ab. Gerade einmal 13 Prozent unterstützen die aktuelle Amtsträgerin. Kann eine Präsidentin mit fast einstelligen Zustimmungsraten regieren? In Brasilien, einem Land mit mehr als 210 Millionen Einwohner*innen, wurde Präsidentin Dilma Rousseff 2016 nach ihrer Amtsenthebung durch ihren Vizepräsidenten Michel Temer ersetzt. Er konnte mit nur drei Prozent Zustimmung regieren und seine Amtszeit regulär beenden. In der Politik ist alles möglich.

Peru ist im Chaos versunken. Wenn das Regime nicht gerade der Polizei und dem Militär befiehlt, mit scharfer Munition auf Demonstrierende zu schießen, unternimmt es alles, damit die Gesundheitsprobleme im peruanischen Norden ungelöst bleiben. Allein in diesem Jahr hat das Dengue-Fieber 261 Todesfälle, 1.146 Krankenhausaufenthalte und mehr als 152.000 Infektionen verursacht. Das Gesundheitssystem ist ein einziger Ausfall. Die Unglücksfälle und Tragödien haben uns nichts gelehrt, sondern eher alles verschlimmert. Erst vor wenigen Jahren überforderte die Covid-19-Pandemie die Krankenhäuser, 220.000 Peruaner*innen starben.

Um beim Gesundheitssystem zu bleiben: Abtreibung aus medizinischen Gründen ist in Peru gesetzlich geregelt. Aber viele Mädchen, die Opfer einer Vergewaltigung wurden, wurden gezwungen, ihr Kind zur Welt zu bringen. Laut Berichten des Gesundheitsministeriums wurden 2022 1.625 Mädchen gezwungen zu gebären, obwohl viele von ihnen eine Abtreibung aus medizinischen Gründen gefordert hatten.

Organisationen bereiten sich auf „Dritte Übernahme von Lima“ vor

Seit dem Sturz von Präsident Pedro Castillo am 7. Dezember 2022 haben die Proteste im Süden Perus nicht aufgehört. Es wurde eine Aktionspause ausgerufen und jetzt laufen die Vorbereitungen für die so genannte „Dritte Übernahme von Lima“, die für den 19. Juli geplant ist.

Warum gehen die Protestierenden nach Lima? Während einer friedlichen Demonstration am 15. Dezember letzten Jahres schossen Militär und Polizei – darunter auch Scharfschützen, die in den Kirchen Deckung suchten – in der Region Ayacucho auf die Demonstrierenden. Dabei starben zehn Menschen. Die Trauer vieler Familien reichte dem Regime von Boluarte nicht. Es schlug am 9. Januar dieses Jahres erneut einen Protest in Juliaca, Puno, nieder. Die brutale Repression führte zum Tod von 18 Menschen.

Sind die Verantwortlichen für das Massaker im Gefängnis? Keiner von ihnen! Aus diesem Grund haben verschiedene soziale, politische und gewerkschaftliche Organisationen aus den Regionen im Landesinneren beschlossen, nach Lima zu reisen. Der Hauptstadt sind die Probleme in den peruanischen Anden gleichgültig. Die Organisationen fordern Gerechtigkeit für die Morde und wollen die vom Boluarte-Regime begangenen Verbrechen sichtbar machen. Zu der Forderung nach Gerechtigkeit gesellte sich eine Reihe von weiteren Forderungen, die bis heute gültig sind – einige davon sind widersprüchlich: Rücktritt von Dina Boluarte, Auflösung des Kongresses, Neuwahlen, Freiheit und Wiedereinsetzung von Pedro Castillo, Freiheit für die politischen Gefangenen und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung.

Die so genannte „Erste Übernahme von Lima“ war überwältigend. Im Januar trafen die Delegationen in der peruanischen Hauptstadt ein und protestierten, aber die Pseudo-Journalist*innen der Mainstream-Medien machten es sich zur Aufgabe, sie als Terrorist*innen zu stigmatisieren. Unter diesem Vorwand wurden die Proteste von der Polizei gewaltsam unterdrückt. Die Bewegung zog sich zurück, verkündete eine kurze Pause und kehrte im März nach Lima zurück, um die „Zweite Übernahme von Lima“ zu starten. Dieses Mal waren die Proteste weniger stark.

Viele der verstorbenen jungen Männer wollten Polizisten werden

Nach den Morden wurde begonnen, die Gewaltexzesse der Polizei zu untersuchen und viele Angehörige der Opfer zu befragen. Paradoxerweise erklärten diese, dass viele der verstorbenen jungen Männer davon geträumt hatten, Polizisten zu werden.

Ich konnte mehrere Aktivist*innen befragen, die an den Demonstrationen gegen das Boluarte-Regime teilgenommen haben. Viele von ihnen antworteten mir, dass „die Todesfälle ungerecht sind, weil viele der Getöteten keiner Organisation angehörten, geschweige denn an den Protesten beteiligt waren“. Ist es gerecht, wenn diejenigen, die ihr legitimes Recht auf Protest ausüben, getötet werden? Verdient jeder, der einer Organisation angehört, die gegen Boluarte ist, den Tod? Wer so reden, stellt sich indirekt auf die Seite der Unterdrücker*innen. Es ist bedauerlich, wie sehr die Diskurse der herrschenden Klasse und des terruqueo (negative Bezeichnung linker und oppositioneller Kräfte als Terrorsympathisant*innen, Anm. d. Red.) in die subjektiven Sichtweisen derer eingedrungen sind, die gegen die Ungerechtigkeit kämpfen.

Vorbereitungen auf Großdemo in Lima

Jetzt bereiten sich die verschiedenen Organisationen auf die Demonstrationen am 19. Juli in Lima vor. Sie fordern den Rücktritt von Dina Boluarte, die vor einigen Tagen erklärte, sie werde „bis 2026 regieren“. Monate zuvor hatte der Kongress einige Gesetzentwürfe blockiert, mit denen die Präsidentschafts- und Kongresswahlen vorgezogen werden sollten. Es gab zwei Terminvorschläge für diese Wahlen: Dezember 2023 und April 2024. Beide Termine kamen nicht zustande.

Wie wird Lima seine Besucher*innen empfangen? Rafael López Aliaga, der rechte Bürgermeister der Hauptstadt, sagte, er werde alles tun, um „die Invasion aus den abgelegenen Dörfern Perus“ zu verhindern. Die peruanische Nationalpolizei kündigte die Entsendung von 8.000 Einsatzkräften an, um ein Blutbad zu verhindern (das sie selbst provozieren würde). Boluarte ihrerseits fragte – und bedrohte – alle, die ankündigten, nach Lima zu kommen: „Wie viele Tote wollt ihr noch?“ Und schließlich entschied der Oberste Gerichtshof im Mai, dass „Protest kein Grundrecht der Bevölkerung ist…“. So also wird Lima das andere Peru willkommen heißen.

Die Basisbewegungen werden eine neue Erfahrung in Lima machen. Mit viel Willen und Kraft, aber ohne Strategie, vielleicht ohne politische Linie und ohne Führung und Leitung. Es ist der Einsatz für die Gerechtigkeit, für das Leben, für die Verteidigung der Umwelt und der natürlichen Ressourcen, der sie antreibt, auf dem feindlichen Terrain der Betonwüste Lima zu kämpfen.

Die Linken machen Urlaub

Und wo sind die Linken? Machen sie Urlaub? Im Kongress regieren sie gemeinsam mit Boluarte. Und die nicht als Abgeordnete gewählt wurden, sind wahrscheinlich im Urlaub und warten auf Neuwahlen, um dann – nur im Wahlkampf – auf die Straße zu gehen. Und es gibt andere wie die Kongressabgeordnete Isabel Cortez. Die ehemalige städtische Reinigungskraft wurde von einer verwerflichen Eitelkeit erfasst, die so weit ging, dass sie bei der Verleihung des „Ordens der Arbeit“ die Präsidentin „schwesterlich“ umarmte. Und Tage später machte sie Castillo für die vom Boluarte-Regime begangenen Morde verantwortlich.

Der ehemalige uruguayische Präsident José Pepe Mujica sagte einmal: „Die Linken sind durch Ideen gespalten und die Rechten sind durch Interessen vereint“. Für die Linke in Peru stimmt das nicht, leider hält sie nichts von Ideen. Sie ist ganz einfach wegen wirtschaftlicher Interessen gespalten. Der Kongress ist ein gutes Beispiel dafür. Ganz zu schweigen von den politischen Parteien, die keine Ausstrahlung haben. Sie schrecken die Jugend ab, weil sie keine Moral haben, zersplittert sind und alles dafür tun, nicht lange zu bestehen. Generationswechsel? Diese Frage oder Forderung mögen die alten Aktivist*innen nicht. Sie haben sich in ihren politischen Parteien verschanzt und glauben, diese seien ihr Eigentum.

Peru tut weh, aber ist auch wunderschön. Es ist schön zu sehen, wie die Rektorin der Universidad Nacional Mayor de San Marcos (UNMSM), Jeri Ramón Ruffner, den Studierenden das Tanzen von Reggaeton beibringt. Könnte es deshalb sein, dass die Bildungseinrichtungen mehr mit dem Erlernen von Reggaeton als mit den Problemen des Landes beschäftigt sind? Im Januar diesen Jahres ist die Polizei mit Panzern in die UNMSM eingedrungen. Etwa 200 Personen, darunter auch Minderjährige, wurden verhaftet und an die Antiterrorpolizei (Dircote) übergeben. Seitdem sind Monate vergangen, und Jeri Ramón Ruffner ist immer noch Rektorin der ältesten Universität Amerikas.

Auch Lima tut weh, ist aber wunderschön. Unser Bürgermeister ignoriert, dass wir das Glück haben, eine Fülle von Pazifikstränden mitten in der Wüste zu haben. Jedenfalls will er nicht, dass Cholos wie ich in ihrer Freizeit ans Meer gehen können. Dieser Herr kam auf die grandiose Idee, ein städtisches Schwimmbad im Stadtteil San Juan de Lurigancho – dem bevölkerungsreichsten in Lima – mit Sand zu füllen. Die Einwohner*innen von Lima reagierten nicht, niemand beschwerte sich, weil ihnen der Ort, an dem sie geboren sind, ebenfalls gleichgültig ist. Nun hat López Aliaga beschlossen, die Bevölkerung von Lima mit vier Milliarden Soles (fast eine Milliarde Euro, Anm. d. R.) zu verschulden, um in Asphalt und Zement zu investieren. Und wieder einmal sind alle verstummt.

Lieber die Hölle als Fujimori

Also ist eine erneute Kandidatur von Keiko Fujimori nicht auszuschließen. Würde sie ein viertes Mal verlieren? Der Bankier Guillermo Lasso nahm an den Präsidentschaftswahlen von 2013 und 2017 teil und verlor. Bei seiner dritten Kandidatur im Jahr 2021 gewann er und ist jetzt Präsident von Ecuador. In Brasilien kandidierte der ehemalige Gewerkschaftsführer und Gründer der Arbeiterpartei (PT) Lula da Silva 1989, 1994 und 1998 für das Präsidentenamt und unterlag in allen drei Fällen. Im Jahr 2002 wurde er bei seiner vierten Kandidatur zum Präsidenten gewählt. Und heute, nach mehreren Jahren im Gefängnis, ist er der Präsident des größten lateinamerikanischen Landes. Man kann in der Politik niemanden für tot erklären.

In Peru erleben wir eine Krise der politischen Repräsentation und der Parteien. So erreichte 2021 Pedro Castillo im ersten Wahlgang nicht einmal 19 Prozent der Stimmen, und Keiko Fujimori wurde mit weniger als 14 Prozent Zweite.

Die Überpersonalisierung von Keiko Fujimori ist stark. Aber ich glaube, noch stärker ist das Gedächtnis eines Teils der Bevölkerung, der nicht an kollektivem Gedächtnisschwund leidet und gegen Fujimori ist. Bis jetzt hat uns dieser Teil der Bevölkerung davor bewahrt, in die Fänge dieser kriminellen Organisation der Fujimoristas zu geraten. Ich wage sogar zu prophezeien, dass bei einer Wahl zwischen dem Teufel und Fujimori sich die Fujimori-Gegner*innen für den Teufel entscheiden würde. Schließlich wird die Hölle immer sympathischer sein als der Fujimorismus.

*Jesús Rojas ist Journalist und Professor für soziale Kommunikation.

Übersetzung: Annette Brox

CC BY-SA 4.0 Wie ist die politische Lage? von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

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