Ein politisches Erdbeben

(Buenos Aires, 15. August 2023, opendemocracy).- Die Vorwahlen in Argentinien am Sonntag, dem 13. August, waren ein politisches Erdbeben. Der rechtsextreme libertäre Kandidat – und Außenseiter der etablierten Politik – Javier Milei gewann den ersten Platz mit mehr als 30 % der Stimmen. Die liberal-konservative Opposition kam mit weniger Stimmen als erwartet (28 %) auf den zweiten Platz, und die Peronisten wurden zum ersten Mal in der Geschichte Dritter mit 27 % der Stimmen.

PASO – ein Wahlverfahren sui generis

Die offenen, simultanen und obligatorischen Vorwahlen (PASO) sind ein Wahlverfahren sui generis: Theoretisch dienen sie dazu, die Kandidat*innen der einzelnen Parteien für die Präsidentschaftswahl auszuwählen. In der Praxis jedoch stellen die PASO eine Art Vorwahl dar, die das Klima für die eigentliche Wahl schafft, da alle Wähler*innen ihre Stimme abgeben. Die Wahl wird am 22. Oktober stattfinden.

Aus diesem Grund erfolgt die Auswertung der PASO auf zwei Ebenen: Zum einen wird entschieden, wer parteiintern die Wahlen gewinnt, und sich damit als Kandidat zur Präsidentschaftswahl aufstellt. Zum anderen zeigt die Wahl das Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Parteien und Koalitionen an.

Parteiinterne Entscheidungen 

Was den ersten Punkt betrifft, so ist bei Juntos por el Cambio (JxC), der wichtigsten Oppositionskraft, der Sieg der ehemaligen Sicherheitsministerin Patricia Bullrich über den Bürgermeister von Buenos Aires, Horacio Rodríguez Larreta, hervorzuheben. Bullrichs Kampagne hatte alle Zutaten die es zum Sieg brauchte: eine volksnahe Rhetorik und eine starke Betonung der „eisernen Faust“ gegen die allgemein herrschende Unsicherheit – aber auch gegen den sozialen Protest.

Ihr Sieg bei den internen Wahlen macht Bullrich zu einer Kandidatin mit guten Chancen auf einen Sitz in der Casa Rosada (Name des argentinischen Präsidentenpalasts). Als Anhängerin des revolutionären Peronismus der 1970er Jahre wandte sich Bullrich später der extremen Rechten zu, auch wenn sie in anderen Bereichen „liberale“ Positionen vertritt. Das spiegelt sich beispielsweise in ihrer Unterstützung für die Entkriminalisierung der Abtreibung und die Legalisierung der gleichberechtigten Ehe wider.

Im Lager von Javier Milei gab es hingegen keine Überraschungen, da er der einzige Kandidat aus seiner Koalition war: La Libertad Avanza. Bei den Peronisten gewann schließlich mit großem Vorsprung der Kandidat der „Einheit“, Sergio Massa, ein ultra-pragmatischer Zentrist. Er wird von der ehemaligen Präsidentin und derzeitigen Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner unterstützt.

Neues Kräfteverhältnis: Aufstieg der Rechtsextremen

Bezüglich der zweiten Lesart der Wahlen lässt sich sagen, dass die extreme Rechte in Argentinien noch nie zuvor so viele Stimmen erhalten hat. Fast die Hälfte der Stimmen insgesamt gingen an Milei und Bullrich. Die Wahl war geprägt vom Tod des 11-jährigen Mädchens Morena Domínguez, die am 9. August bei einem gewaltsamen Raubüberfall starb. Geschichten wie diese prägen den Alltag der Wähler*innen im so genannten Conurbano bonaerense (Ballungsraum von Buenos Aires, eine der größten Metropolregionen Lateinamerikas). Darüber hinaus war ein zentrales Thema die nicht enden wollenden Wirtschaftskrise, die sich in einer Inflationsrate von mehr als 100 Prozent pro Jahr niederschlägt. In diesem Kontext hat sich Bullrich das Thema der Sicherheitskrise angeeignet, während Milei thematisch auf die Wirtschaftskrise setzte. Das tat er vor allem durch einen Dollarisierungsvorschlag, der an die Ära des neoliberalen Peronisten Carlos Menem (1989-1999) erinnert. Damals wurde der Wert des Peso per Gesetz an den des Dollars gebunden. In diesem Zusammenhang erlitt auch die Linke außerhalb der Unión por la Patria (Peronismus und Verbündete), die in einer trotzkistischen Front zusammengeschlossen ist, einen schweren Rückschlag.

Die Wahl am Sonntag hatte etwas von der „Rückkehr der Verdrängten“ von 2001, einem Wendepunkt in der politischen Geschichte Argentiniens. Obwohl in jenen Tagen der Plünderungen, der Massenproteste und eines Präsidenten – Fernando De la Rúa -, der per Hubschrauber von den Dächern der Casa Rosada floh, progressive Diskurse vorherrschten, standen wie heute ultraliberale Lösungen auf der Tagesordnung und fanden große Unterstützung. Nicht zufällig verkündete Carlos Menem bei den Wahlen 2003 die Notwendigkeit, zur Dollarisierung der argentinischen Wirtschaft überzugehen, die historisch durch ihre anhaltende Inflation gekennzeichnet ist.

Das Paradoxe an der ganzen Geschichte ist, dass Bullrich, die damals unbeliebteste Ministerin von De la Rúa war, bei diesen Wahlen wie ein Phönix aus der Asche auferstanden ist, als eine Art Retterin der Nation.

Milei als Name für eine Rebellion

Die Person, die am meisten mit dem „destituyente“-Klima verbunden ist, das heute keine Massen auf den Straßen bringt aber eine Menge sozialer Frustration birgt, ist Milei. Der Libertäre hat nicht nur die paläoliberale Ideologie des Amerikaners Murray Rothbard importiert – dessen Anarchokapitalismus ihn dazu bringt, den Kauf und Verkauf von Organen zu verteidigen. Sondern er stellt auch die Anprangerung der „Kaste“ in das Zentrum seiner Kampagne, was er von der spanischen Linkspartei Podemos übernommen hat. Milei, der von Jair Bolsonaro unterstützt wird, scheute sich nicht, während seiner Wahlkampagne nationale Rocksongs zu verwenden, die zuvor von der Linken gesungen wurden (wie die von La Renga oder Bersuit Vergarabat), und sogar die „Hymne“ von 2001: den Refrain „Que se vayan todos… que no quede ni uno solo“ (etwa: Lasst sie alle gehen… damit nicht ein einziger übrig bleibt), der bei seiner Wahlkampfabschlusszeremonie donnernd ertönte.

Mileis Libertarismus hat jedoch noch eine andere Dimension, die von den Progressiven bisher nicht beachtet wurde: Seine Idee von „Freiheit“ findet in populären, von der unteren Mittelschicht und Risikogruppen geprägten, Welt Resonanz. In dieser Welt koexistieren die Forderung nach öffentlichen Dienstleistungen mit ziemlich radikalen Formen des Antistatismus die eng mit der moralischen Ökonomie des informellen „Unternehmertums“ verbunden ist.

Das System der Armutssubventionen und sogar die so genannte „Volkswirtschaft“ funktionieren – in der Tat recht gut – als Schutzschirm in Krisenzeiten, aber sie bauen keine wünschenswerte Zukunft auf. Diese ist heute eher mit „individueller Anstrengung“ verbunden. So hat Milei überraschend gut in den barrios populares abgeschnitten (Barrio Popular ist in Argentinien definiert als ein gefährdetes Viertel, in dem mindestens acht Familien zusammen oder aneinandergrenzend leben und in dem mehr als die Hälfte der Bevölkerung kein Eigentum an Grund und Boden oder keinen regelmäßigen Zugang zu zwei oder mehr Grundversorgungsleistungen hat). Auch in anderen Vierteln, und sogar in traditionell peronistischen Gegenden wie La Matanza, konnte er die Wähler*innenschaft überzeugen. Und noch mehr in den Provinzen: In 16 der 24 Provinzen belegte er den ersten Platz, und in zwei Provinzen, darunter Salta im Norden Argentiniens, gewann er direkt.

Wie so oft bei anderen Rechtsradikalen fungierte Milei am Ende als Name für eine Rebellion. In der Tat wollen viele seiner Wähler*innen nicht den Staat abschaffen, keine Organe oder Kinder kaufen oder verkaufen, die Zentralbank sprengen oder das öffentliche Bildungs- und Gesundheitswesen abschaffen. Aber wie in den Straßenumfragen des Sensationskanals Crónica TV zu sehen war, wurde der Name „Milei“ in den Mündern der Jugendlichen, der prekär Beschäftigten und der Arbeiter*innen auf der Plattform zu einer Art „leerem Signifikanten“ in einem Moment der nationalen Polykrise.

Antiprogressiver Neugründungskurs

Im Gegensatz zu dem, was ein Teil des Progressivismus glaubt, war Milei kein Produkt des wirtschaftlichen Establishments oder der Medien: Geschäftsleute begannen sich für ihn zu interessieren, als er beliebter wurde. Die Medien wiederum greifen auf ihn zurück, weil er ihnen Einschaltquoten verschaffte. Sie genießen seine Popularität mehr, als dass sie zu ihrer Entstehung beigetragen haben, auch wenn die Stunden auf dem Bildschirm seine Beliebtheit offensichtlich gesteigert haben. Eine Ausnahme ist der Sender LN+ der Zeitung La Nación, der als eine Art reaktionärer Lokalnachrichtensender im Stil von Fox News fungiert.

Milei und Bullrich verkörpern, anders als Rodríguez Larreta und natürlich Massa, einen stark antiprogressiven Neugründungsdiskurs. Ähnlich wie die „rosa Flut“ der 2000er Jahre, aber ideologisch umgekehrt. Eine Waffe in den Händen der Wähler*innen, um das „System“ zu sprengen – was auch immer das bedeutet.

Sackgasse für die Peronisten

Auf Seiten der Peronisten führte die Strategie von Cristina Fernández de Kirchner in eine Sackgasse. Die „Einheits“-Vorkandidatur von Sergio Massa, dem derzeitigen Wirtschaftsminister, der mit einer jährlichen Inflationsrate von über 100 % zu kämpfen hat, wurde auch in der Praxis von einem großen Teil der Militanten abgelehnt, die ihn wegen seiner jüngsten antikirchneristischen Vergangenheit als „Verräter“ betrachteten. Trotz des „operativen Geschreis“ gab Cristina nicht nur nicht nach, sondern beschloss, Massa zu unterstützen, obwohl er von vielen Kirchneristen als „rechts“ angesehen wird.

Obwohl die Listen für den Kongress voll von Gläubigen sind, herrscht unter den „gläubigeren“ Kirchneristen Bestürzung. Es ist das dritte Mal (2015, 2019, 2023), dass die Kirchneristen keine*n eigene*n Kandidaten/-in für die Präsidentschaft aufstellen, obwohl Cristina eine der wichtigsten Politiker*innen des Landes ist. Wenngleich sie 2019 als Vizepräsidentin kandidierte, hat der Kirchnerismus immer von der Regierung gesprochen, als wäre sie etwas Fremdes.

Im so genannten Conurbano bonaerense, wo der Peronismus seine wichtigsten Hochburgen hat, läuteten bereits die Alarmglocken. Dort finden zwei Wahlen parallel statt: Die Stimmen der Peronisten sollten dem Präsidentschaftskandidaten Sergio Massa Auftrieb geben, aber auch die Wiederwahl von Gouverneur Axel Kicillof, einem engen Vertrauten von Cristina Fernández de Kirchner, garantieren. Das Problem ist, dass, wie einer der Strategen des Gouverneurs sagte, in den Reihen der potenziellen Peronisten Niedergeschlagenheit herrscht.

Kirchnerismus – eine „Struktur der Gefühle“

Aus verschiedenen Gründen herrscht im Peronismus ein ähnliches Klima wie 1983, als die Niederlage einem Neuanfang wich. Aber was bedeutet Erneuerung heute? Wie können sich die verschiedenen Planeten des peronistischen Universums – Gouverneure, Bürgermeister, Gewerkschaften, Gruppen – neu ausrichten? Welche Rolle wird die von diesem Ergebnis angeschlagene Fernández de Kirchner spielen?

Der Journalist Martín Rodríguez hat kürzlich in einem Interview mit Nueva Sociedad darauf hingewiesen, dass der Kirchnerismus vor allem eine „Struktur der Gefühle“ ist. Diese „Gefühlsstruktur“ hat nicht nur einen großen Teil des Peronismus angesprochen, sondern auch die Überbleibsel verschiedener linker politischer Kulturen angezogen: Kommunist*innen, Sozialist*innen, Linkspopulist*innen, Autonome von 2001, Nostalgiker*innen des bewaffneten Kampfes der 70er Jahre, Menschenrechtsaktivist*innen. Ihr „Siebzigerjahre“-Diskurs schaffte es auch, der politischen und militärischen Niederlage der Diktatur einen historischen Sinn zu geben: All das Leid, das eine „dezimierte Generation“ mit sich brachte, hätte sich gelohnt.

Das Land wurde schließlich neu gegründet. Die Zweihundertjahrfeier im Jahr 2010 besiegelte, wie die Essayistin Beatriz Sarlo in ihrem Buch La audacia y el cálculo feststellte, die Inszenierung dieses neuen „inklusiven“ Landes auf dem Höhepunkt des Kirchnerismus.

Doch heute ist dieses Gefühlsgefüge schwer beschädigt. Cristina Fernández de Kirchner kann ihre eigenen Entscheidungen den „Gläubigen“ nicht erklären. Und diese „Gläubigen“, die weder eine Position noch einen Anspruch auf eine Position haben, sind nicht nur die wahlpolitische, sondern auch die emotionale Basis ihres politischen Projekts. Die Vizepräsidentin scheint in einer etwas seltsamen Mischung aus Idealismus und Pragmatismus gefangen zu sein. Die verschiedenen Peronismen scheinen sich gegenseitig neutralisiert zu haben.

Das Land steuert mit Schrecken auf die Wahlen am 22. Oktober zu. Die Fragen sind größer als die Antworten: Wird Milei dieses Ergebnis als Hebel für seine wachsende Popularität nutzen können, oder wird der Schwindel-Effekt eines „Anarchokapitalisten“, der den Staat sprengen will, bis zur Casa Rosada eine Art Notbremse ziehen? Wird der „Wahnsinn“ von Milei Bullrich vernünftiger erscheinen lassen, wie es bei Marine Le Pen gegen den Ultra Éric Zemmour in Frankreich der Fall war? Und wird der Peronismus in der Lage sein, auf die Wahlergebnisse zu reagieren um am 22. Oktober nicht wieder auf dem dritten Platz zu landen? Man wird sehen – die Analysten stellen ihr GPS neu ein.

Übersetzung: Mara Gutmann

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