Unser Land verblutet

(Port-au-Prince, 29. Mai 2023, open democracy).- Haiti blickt auf eine lange Geschichte der Fremdherrschaft und eine Serie ausländischer Interventionen, die niemals guttaten. Heute wird die haitianische Hauptstadt Port au Prince nach Angaben der Vereinten Nationen zu mindestens 60 Prozent von Banden kontrolliert. Es bestehen enge Verflechtungen zwischen dem organisierten Verbrechen und den Regierungsbehörden. Vor fünf Jahren soll der Staat selbst Waffen an die Banden ausgegeben haben, um regierungsfeindliche Proteste niederzuschlagen. Mittlerweile ist die Situation außer Kontrolle geraten; die knapp 200 Banden handeln auf eigene Faust und entziehen sich der staatlichen Aufsicht. Seit Beginn des Jahres wurden rund 1.400 Menschen getötet, das entspricht 280 Menschen pro Monat. 30 Prozent der Kinder sind unterernährt; eins von vier Kindern leidet an chronischer Unterernährung. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF führt die desolate Ernährungssituation auf die zunehmende Waffengewalt zurück.

Ex-Diplomat Jean Casimir, Professor an der Staatlichen Universität Haitis und an der Duke University in North Carolina, gilt als der wichtigste Intellektuelle des Landes. Im Interview mit open democracy erklärt er, wie es dazu kam, dass das karibische Land heute zu verbluten droht und was dagegen getan werden kann. Sein Blick auf die Realität seines Landes hat nichts mit den eurozentrischen Visionen und dem Verständnis internationaler Organismen gemein. Statt zwischen Staaten vermitteln zu wollen, fokussiert Casimirs Lösungsansatz auf einem  Verständnis zwischen den Nationen.

José Zepeda: Vor ein paar Monaten hieß es im Editorial einer renommierten Tageszeitung, dass Haiti in Problemen versinkt. Das ist im Prinzip nichts Neues, aber Gewalt, Korruption, Armut und der institutionelle Zusammenbruch scheinen das Land in eine ausweglose Situation zu treiben. Teilen Sie diese schreckliche Diagnose?

Jean Casimir: Nicht ganz. Man sagt, dass ungefähr 200 Banden fast 60 Prozent der Hauptstadt Port au Prince kontrollieren. Gestern habe ich ein französisches Interview zu den Banden in Frankreich und insbesondere in Marseille gehört, und da hieß es auch, dass die Polizei keine Kontrolle über die Banden hat. Was ich sagen will: Nicht nur wir haben dieses Problem, sondern anscheinend gibt es das überall auf der Welt. Die Vereinten Nationen selbst machen keinen Hehl daraus, dass Haiti das ärmste Land Amerikas ist. Wie aber kommt es, dass Leute, die kaum genug zu essen für den Tag haben, eine Waffe besitzen, die mehr als ein Auto kostet? Dahinter steht die Waffenindustrie, und die kontrolliert die ganze Welt. Wir sind ein schwaches Land, deshalb sieht es schnell so aus, als sei es nirgends so schlimm wie bei uns. Internationale Vereinigungen wie die UN betonen unseren Fall wahrscheinlich deshalb so sehr, weil die nächste Invasion in Planung ist, die nächste, die unser Land in eine Cholera-Epidemie stürzen wird. Offenbar bereiten sie den nächsten Eingriff vor, um ihre Unfähigkeit zu vertuschen oder zu rechtfertigen.

JZ: Die Behauptung, Haiti sei ein sterbender Staat, wird stets durch erschreckende Berichte aus dem Land gestützt. Was man jedoch kaum findet, sind Studien oder Analysen, die erklären, wie und warum das Land an diesen Punkt gekommen ist.

JC: Solche Untersuchungen zu finden ist deshalb so schwer, weil man „dem Mann die Augen verbinden will“, wie man in Mexiko sagt. Man will darüber nicht reden. Stellen Sie sich vor, die spanische Regierung spräche nur Chinesisch. Wie sollte sie sich dann mit den Menschen im Land verstehen? Das ist bei uns passiert. Mit Christoph Kolumbus wurde eine Sprache etabliert, die die Einheimischen daran hinderte, an der Gesellschaft teilzuhaben. Und es wurde ein System etabliert, dessen Definition des Individuums der unseren fremd war und etwas völlig anderes beinhaltete als das, was wir sind und was wir als Individuum definieren. Es wurden strenge Gesetze erlassen, die jegliche Selbstverwaltung verboten. Es wurde behauptet, wir hätten keinen Rechtsstaat. Tatsächlich aber basierte der von ihnen aufgebaute Staat auf Gesetzen statt auf Rechten. Es geht also nicht darum, welche Rechte der Mensch hat, sondern welchen Gesetzen er sich unterwerfen muss. Und heute, mitten im 21. Jahrhundert, versteht die eigene Bevölkerung zu 90 Prozent nicht, was hier vor sich geht. Wie soll man da von Rechten in einem Staat sprechen? Sie halten sie das Volk in Unwissenheit und lenken ab. Das macht die Krise aus.

JZ: Es ist allgemein bekannt, dass Verzweiflung ein sehr schlechter Ratgeber ist. In Haiti sind Lynchmorde an vermeintlich Kriminellen an der Tagesordnung. Die Leute greifen zur Selbstjustiz, und das wiederum bringt uns in eine dramatische Lage, denn in ihrer Angst wenden Menschen, die Gewalt erlebt haben, dieselben Methoden an wie ihre Peiniger.

JC: Zuerst muss man fragen: Wer sind denn die Peiniger? Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Nation in Zeiten der Sklaverei und als Gegenentwurf zu ihr entstanden ist. Es war eine Zeit der offenen und intensiven Gewalt. Darauf folgte eine Zeit der verdeckten, der verborgenen Gewalt – aber Gewalt gab es noch immer. Als die USA 1915 Haiti einnahmen, verboten sie zuallererst die politische Beteiligung der Bevölkerung. Bis heute bestimmen sie, wer in Haiti Präsident wird. Es hat noch keinen einzigen haitianischen Präsidenten gegeben, der nicht von den USA geschickt wurde, mit Ausnahme von Aristide [Pastor Jean-Bertrand Aristide gilt als der erste demokratisch gewählte Präsident Haitis. Nach einem Staatsstreich gegen ihn konnte er sich nicht länger als zwei Jahre an der Macht halten.]. Das ist das Problem, denn das macht natürlich was mit den Menschen. Das ist, als würden Sie mir sagen, dass die Bevölkerung während der Sklaverei nicht das Recht hatte, gegen die Taktik der Verbrannten Erde zu protestieren. Man wird in eine Ecke gedrängt und muss sich verteidigen.

JZ: Sie meinen also: Alles, was in Haiti geschieht, ist immer irgendwie auf die Kolonialgeschichte zurückzuführen und später eine Folge der Tatsache, dass das Land nach der Unabhängigkeit nie wirklich souverän war.

JC: Ja und nein. Es ist definitiv alles den Bedingungen geschuldet, die erst der Kolonialismus und danach der Imperialismus geschaffen haben. Trotzdem: Im gesamten 19. Jahrhundert, als sich Frankreich und England nach Afrika ausdehnten und der Imperialismus quasi den ganzen Planeten einnahm, hatte alle Welt die Karibik vergessen, oder sie hatten keine Verwendung mehr für sie. Das war der Moment, wo die haitianische Bevölkerung sich erholen und auf sich selbst fokussieren konnte, ohne Staat, ohne die Bürokratie, die Frankreich eingeführt hatte und die ihrerseits versuchte, französische Gepflogenheiten zu imitieren. Das heißt: Trotz allem waren wir in jenem Moment ein souveränes Volk. Wir haben uns zu einem souveränen Volk entwickelt, das es schafft, sich selbst zu verwalten, ohne auf die Absichten des Staates Rücksicht zu nehmen. Während der Staat danach strebt, seine eigene Politik durchzusetzen, bereitet sich das Volk nach und nach darauf vor, die Macht zu übernehmen. Wir erleben gerade das Ende einer Epoche –das Ende des modernen, kapitalistischen Staates. Man muss dabei etwas sehr Wichtiges bedenken, was der französische Anthropologe Gérard Barthélemy beschrieben hat: Haiti ist schon seit 1804 ein fast postkapitalistisches Land. Daher rührt das ganze Problem. Haiti organisierte sich auf eine Weise, in der menschliche Beziehungen viel wichtiger waren als die Entwicklung privaten Besitzes und wer wem etwas weggenommen hat. Das ist das fundamentale Problem.

JZ: Haiti muss Krisen bewältigen: Der schwachen Staat, die Armut, das organisierte Verbrechen, die Cholera-Ausbrüche, die Folgen von Erdbeben und die Korruption schaffen eine gefährliche Gemengelage. Und jetzt kommen noch die  erzwungenen Wiedereinbürgerungen und die von der Regierung der Dominikanischen Republik gebaute Grenzmauer dazu. Schon seit langem sind Haitianer*innen nicht bei ihren Nachbarn willkommen.

JC: Ich glaube nicht, dass das so ist. Die haitianische und die dominikanische Oligarchie lassen uns glauben, dass sie einander verabscheuen. Aber eigentlich sind sie wie ein Liebespaar, sie schlafen im selben Bett. Sie verbringen viel Zeit damit, andere davon zu überzeugen, dass sie einander hassen, obwohl Haitianer*innen und Dominikaner*innen eigentlich so eng verbunden sind wie Zwillinge. Es ist allgemein bekannt, dass das dominikanische Militär während des Massakers an den Haitianern [Im Oktober 1937 ordnete der dominikanische Diktator Rafael Leonidas Trujillo an, alle Haitianer*innen, die in seinem Land lebten, umzubringen. Je nach Quelle starben 5.000 bis 67.000 Personen.] die Leute aufforderte, das Wort perejil [deutsch: Petersilie] zu sagen. Und wie man weiß, können Haitianer das spanische “j” nicht aussprechen. Wer also nicht  korrekt perejil sagen konnte, wurde getötet. Warum? Sie und ich, wir sind uns so ähnlich wie zwei Tropfen Wasser. Nur dieses eine Wort unterscheidet uns. Ein Dominikaner ist genauso schwarz wie ein Haitianer. Und kommen Sie mir nicht damit, dass der Dominikaner ein Indigener mit dunkler Haut ist. Wer hat die Indigenen ermordet? Wer hat die Taínos [indigenes Volk der Antillen] getötet? Wir könnten immer so weiter machen. Es gibt ein sehr schönes Buch von der Yale-Professorin Anne Eller mit dem Namen Soñemos juntos. La independencia dominicana, Haití y la lucha por la libertad en el Caribe [Lasst uns gemeinsam träumen. Die dominikanische Unabhängigkeit, Haiti und der Kampf um Freiheit in der Karibik]. Wir haben den gleichen Traum. Und über uns steht die gleiche Oligarchie. Wer hat diese Oligarchien geschaffen? Die USA, als sie beide Länder besetzte. Die Oligarchie in der Dominikanischen Republik war nicht so mächtig wie unsere, fügte sich aber besser in das US-amerikanischen Entwicklungsmodell ein, während die hiesige dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika nicht gefolgt ist. Deshalb wird heute auch immer nur der Vergleich zwischen der Dominikanischen Republik und Haiti gezogen, aber niemand vergleicht die Dominikanische Republik mit Jamaika oder mit Martinique. Ich liebe sie sehr, daher unterscheide ich zwischen Nation und Staat. Die dominikanische Nation, so reich, so…, ich weiß gar nicht, wie ich meine Wertschätzung ausdrücken soll. Aber diese Nation wehrt sich gegen eine Entwicklung, die darauf angelegt ist, mehr und mehr zu produzieren, nicht nur in unseren beiden Ländern, sondern auch dort, wo sie eigentlich Erfolg hat. Wie lautet die Lösung? Haiti ist kurz davor, zu verschwinden. Es ist die Krise eines kaputten Systems, das sich nicht erholen kann, sondern sich selbst zerstört. Die Gewalt, die sie losgetreten haben, ist außer Kontrolle geraten. Hier in Haiti sagen wir: „Auf dem dürren Hund sieht man die Zecken.” Auf dem Dicken sieht man sie nicht. Die Reichen ersticken bald in ihrem Reichtum, der immer weiter wächst. Schauen Sie sich nur die USA an, Frankreich, England. Überall die gleiche Krise. Dafür gibt es nur eine Lösung: dass wir, die Verdammten dieser Erde, uns zusammentun und sehen, wie wir aus dieser Misere herauskommen. Wir Haitianer sind die, die am meisten leiden. Ich weiß zwar nicht, wie das gehen soll mit dem Verschwinden, aber wenn man sich diese Regierungen anschaut: Die schaffen es sogar, dass die ganze Welt verschwindet.

JZ: Also Nein zur ausländischen Intervention, Ja zur Einheit der Armen auf der Erde. Ist es das, was Sie sagen wollen?

JC: Ja, genau! Wir müssen einen Weg finden, um uns miteinander zu verbinden. Erst vor kurzem kam Black Lives Matter in den USA auf. Diese Bewegung gibt es aber in Haiti schon seit 1791. Wenn wir sagen, dass jedem Menschen dieselbe Würde innewohnt und folglich jeder Mensch denselben Respekt verdient, dann stellen wir den Menschen ins Zentrum unseres Handelns. Menschliche Beziehungen zu verbessern bedeutet nicht, den Reichtum der Reichen zu mehren. In Haiti sagen wir, dass man das Geld nicht mit ins Grab nehmen kann. Das ist das, was wir, die Verdammten dieser Erde, verstehen können und müssen.

JZ: Gibt es denn in Haiti dieses Körnchen, das Fünkchen, das der Ursprung dieser Bewegung sein könnte, die Sie gerne sehen würden?

JC: Wenn es dieses Fünkchen noch nicht gibt, dann wird es das in Zukunft geben, denn ich sehe keinen anderen Ausweg, als mich mit den Dominikanern zusammenzutun. Der dominikanische Staat hat die Mauer errichtet, aber die Dominikanern überqueren sie jeden Tag, seit ich klein bin, bis heute. Wir müssen uns mit den Jamaikanern, mit den Amerikanern, mit den Franzosen zusammentun. Nicht mit dem französischen Staat, nicht mit dem amerikanischen, nicht mit ihrer Bürokratie und ihrer administrativen Maschinerie. Nur mit der amerikanischen Nation, der französischen Nation. Wir Völker haben diese Regierungen satt. Diese Herren sichern sich nur ihre Macht und schaffen so Tag für Tag mehr Ungleichheit in der Welt. Wir müssen dafür sorgen, dass das aufhört.

JZ: Glauben Sie, dass die Menschen in anderen Ländern Lateinamerikas abseits der Regierungen wissen, wie die Lage in Haiti ist?

JC: Es reicht, wenn sie sich selbst anschauen. In ganz Südamerika und in den USA, überall gibt es indigene Bewegungen, die für ihre Autonomie kämpfen und für das Recht, sie selbst zu sein. Wenn man in Lateinamerika nicht weiß, was hier in Haiti geschieht, dann deshalb, weil ihre Regierungen das so wollen. Weil Organismen wie die UN oder die UNESCO ein Bild Haitis verkaufen, die ihr Eingreifen und damit die Zerstörung der haitianischen Identität  rechtfertigt. Aber komme, was wolle, der technologische Fortschritt, also WhatsApp und Twitter, vermittelt ein immer deutlicheres Bild davon, wer wir sind. Wir verstehen immer besser, wer die Chilenen sind, wer die Argentinier, wer die Mexikaner.

Ich bedanke mich bei Ihnen für die Möglichkeit, von Haiti zu erzählen. Davon, wie wir leiden und wieso wir mehr leiden, als wir ertragen können. Wir sind vom Leid wirklich gebeutelt, aber wir kämpfen. Und wir werden weiter kämpfen und, wenn es sein muss, erhobenen Hauptes sterben.

Übersetzung: Patricia Haensel

 

 

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