Rodrigo Paz Pereira, Kandidat der Christlich-Demokratischen Partei (PDC), wurde am Sonntag zum Präsidenten Boliviens gewählt, nachdem er sich in der Stichwahl gegen Jorge Tuto Quiroga, den Vorsitzenden der rechten Koalition Libre, durchgesetzt hatte. Nach den vom Obersten Wahlgericht (TSE) bereitgestellten Schnellauszählungsdaten erhielt Paz 54,49 Prozent der Stimmen. Warum Paz Pereira und nicht Quiroga die Wahlen gewonnen hat und was das Ergebnis für Bolivien bedeutet, darüber hat Onda mit Steffen Heinzelmann gesprochen.
Rodrigo Paz Pereira, Kandidat der Christlich-Demokratischen Partei, hat die Stichwahl um die Präsidentschaft in Bolivien gewonnen. Das kann man zunächst als Überraschung werten, auch wenn die Umfragen in Bolivien notorisch unzuverlässig sind. Was sind aus deiner Sicht die Gründe für seinen Sieg über Tuto Quiroga, der ja ursprünglich mit einer Milei/Trump Kettensägerhetorik angetreten war…
Rodrigo Paz hat viele hier mit seinem Sieg in der Stichwahl überrascht. Ein Grund dafür ist, dass er eine Art Erneuerung aus der konservativen Mitte verkörpert: Im Wahlkampf reiste er monatelang durchs ganze Land und traf die Menschen in Dörfern und abgelegenen Gebieten, während sein Konkurrent vor allem in den Großstädten auf riesigen Reklametafeln und in Social Media für sich warb. Paz inszenierte sich also als politischer Außenseiter, obwohl er als Senator für das Departamento Tarija und als Sohn des ehemaligen Staatspräsidenten Jaime Paz eigentlich zum politischen Establishment gehört.
Außerdem konnte er sich in wichtigen Punkten von seinem Gegenkandidaten Jorge „Tuto“ Quiroga abheben. Obwohl beide viele Gemeinsamkeiten hatten – sie wollten beide die Justiz reformieren, private Unternehmen fördern und Bodenschätze wie Gas und Lithium ausbeuten – vertrat Quiroga einen radikaleren Umbruch und einen Neoliberalismus alter Schule mit Milliardenkrediten des Internationalen Währungsfonds. Im Gegensatz dazu betonte Paz, dass in Bolivien genügend Kapital vorhanden sei, um die Krise selbst und ohne ausländische Kredite zu bewältigen. Sein weniger radikales Auftreten und sein Ansatz eines „Kapitalismus für alle“ sprach daher mehr Menschen an.
Ein dritter wesentlicher Grund war der künftige Vizepräsident, Edmand Lara. Lara wurde durch durch seine Videos auf TikTok populär, der frühere Polizist machte sich als Kämpfer gegen die alltäglich Korruption einen Namen, was viele Wähler:innen überzeugte.
So siegten Paz und Lara in sechs der neun Departamentos Boliviens und konnten viele frühere Anhänger:innen der MAS und Wähler:innen in der indigen geprägten Millionenstadt El Alto im Hochland für sich gewinnen.
Rodrigo Paz hat also vor allem in den früheren Hochburgen der MAS und in El Alto stark abgeschnitten – welche Rolle spielten denn die Stimmen der indigenene Bevölkerung für die Wahl und wie ist die Stimmung dort? Und was ist mit der MAS, mit Evo Morales und den Kokabauern?
Die Stimmen der indigenen und ländlichen Bevölkerung waren wohl entscheidend für den Sieg von Paz. Quiroga galt für deren Mehrheit als unwählbar, da er als Vertreter einer weißen Elite wahrgenommen wird, die für viele mit Rassismus, Klassismus und Vetternwirtschaft assoziiert wird. Zudem haben viele hier nicht vergessen, dass Quiroga vor einem Vierteljahrhundert Vizepräsident von Hugo Banzer gewesen war, einem früheren Militärdiktator. Dieses negative Bild verstärkte sich noch, als im Wahlkampf rassistische Tweets entdeckt und veröffentlich wurden, die Quirogas Vizekandidaten Juan Pablo Velasco vor 15 Jahren veröffentlicht hatte.
Gleichzeitig war die Wahl jedoch nicht nur eine ideologische Entscheidung, sondern auch pragmatisch. Eine Folge der zwei Jahrzehnte langen MAS-Regierung ist die Entstehung einer neuen indigenen Mittelschicht, die als Fachkräfte arbeitet, Geschäfte eröffnet hat oder Restaurants führt. Für diese Menschen, und auch für viele junge Bolivianer:innen, spielt wirtschaftliche Sicherheit eine zentrale Rolle. Und diese Gruppe hat Paz mit seinem Konzept des „Kapitalismus für alle“ angesprochen, also erschwinglichen Kredite für alle, einer Förderung des Privatsektors, der Beibehaltung sinnvoller sozialer Programme und dem Kampf gegen die Korruption.
Die MAS dagegen wurde von vielen für die derzeitige schwere Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht, im neuen Parlament ist sie fast gar nicht mehr vertreten. Die Frage ist nun, ob sie sich wieder aufrappeln kann. Die früher unumstrittene Führungsfigur Evo Morales hat die MAS inzwischen verlassen und wird wegen des Vorwurfs des Missbrauchs einer Minderjährigen per Haftbefehl gesucht. Morales hat im Kokaanbaugebiet Chaparé bei seinen Anhänger:innen Unterschlupf gefunden und angekündigt, bei den Regionalwahlen Anfang 2026 antreten zu wollen.
Bolivien ist ein Land in der Krise, die Staatskassen sind leer, auch weil die Erdgasförderung steil nach unten gegangen ist. Es gibt eine Treibstoffkrise, Mangel an US-Dollar und es gab in der letzten Zeit einen deftigen Preisanstieg. Was sind denn die Konzepte des neuen Präsidenten, Rodrigo Paz Pereira, wie sinnvoll findest du die bzw. in wie weit haben diese Konzepte überzeugt und was kann Paz Pereira eigentlich durchsetzen, in Ermangelung einer eigenen Kongressmehrheit.
Wenn Paz am 8. November die Regierung übernimmt, erbt er eine schwere Wirtschaftskrise. Ich denke, dass es im Wahlkampf eine Art doppeltes Missverständnis gab: Einerseits wurde Paz von der politischen Rechten als Linker wahrgenommen und sogar als heimlicher Verbündeter der MAS verunglimpft, um Stimmen gegen ihn und für Quiroga zu mobilisieren. Gleichzeitig wandten sich viele Bolivianer:innen, die traditionell links wählen oder die MAS unterstützten, Paz und vor allem Lara zu – und sei es nur, weil sie sie beiden in der Stichwahl als das kleinere Übel ansahen.
Paz gewann also die Präsidentschaft dank Stimmen aus dem linken Lager, aber sein Programm und seine Bündnisse stehen ganz im Zeichen neoliberaler Politik, er setzt auf Werte wie Werte Kirche, Familie und Vaterland. Unter dem Motto „Kapitalismus für alle“ – was durchaus als Widerspruch in sich diskutiert werden kann – plant er Reformen zugunsten von Privatunternehmen, während er gleichzeitig die Staatsunternehmen, Sozialprogramme und Subventionen wie die für Treibstoff überprüfen möchte.
Trotz des Fehlens einer eigenen Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments kann er deshalb auch auf die Unterstützung durch Quirogas Bündnis Alianza Libre zählen. Gemeinsam haben die beiden Gruppierungen im Senat und ganz knapp auch im Abgeordnetenhaus eine Zwei-Drittel-Mehrheit, und dabei ist das dritte rechte Bündnis in Parlament, die Alianza Unidad, ist noch nicht eingerechnet. Mit dieser Mehrheit könnte Paz nicht nur für umfassende Reformen beschließen, sondern sogar die Verfassung ändern.
Worauf muss sich Bolivien jetzt einrichten? Die wichtigste Gewerkschaft hat ja schon mit Protesten und Streiks gedroht. Droht Kahlschlag, droht Generalstreik, drohen Verfolgungen oder gibt es eine Aussicht auf, sagen wir mal, eine sozial ausgewogene Lösung der Probleme?
Die Herausforderung für Paz besteht darin, angesichts der schweren Wirtschaftskrise eine Balance zwischen wirtschaftlichen Reformen und den Bedürfnissen großer Gruppen in der Gesellschaft zu finden. Die sozialen Unterschiede in Bolivien sind erheblich, die politische Landschaft ist fragmentiert, und es bleibt unklar, wie sich soziale Organisationen, Gewerkschaften und die junge Generation positionieren werden. Andere dringende Themen wie Umweltschutz oder Gendergerechtigkeit kamen im Wahlkampf praktisch gar nicht zur Sprache.
Zudem sind die aktuellen Probleme mit Devisenmangel, Benzinknappheit und hoher Inflation auch ein Ausdruck grundlegender struktureller Probleme: Historisch ist Bolivien durch die koloniale Ausbeutung von Rohstoffen und Menschen geprägt. Diese Geschichte hat sich über Jahrhunderte fortgesetzt: Erst wurde Silber aus dem Land geschafft, dann Zinn, dann Kautschuk, dann Gas, und nun wahrscheinlich Lithium. Das hat strukturelle Folgen: Es gibt wenige entwickelte Industrien zur Weiterverarbeitung in Bolivien, 80 Prozent der Menschen hier gehen einer informellen Arbeit nach. Die Korruption ist weit verbreitet, die Ausbeutung von Bodenschätzen und die Agrarindustrie zerstören die Umwelt, fördern Verteilungskonflikte und bringen Kriminalität wie Drogenhandel, Schmuggel und Menschenhandel mit sich.
Das vorrangige Ziel für die Regierung Paz ist jetzt, die benötigten US-Dollar für den Import von alltäglichen Gütern, Treibstoff und Medikamenten zu erhalten. Sollte die neue Regierung jedoch wichtige Sozialprogramme kürzen oder Treibstoffsubventionen abrupt aufheben, sind massive Proteste zu erwarten. Einen ähnlichen Fall haben wir gerade in Ecuador gesehen, wo es nach der Aufhebung der Dieselsubvention zu Straßenblockaden und Großdemonstrationen kommt.
Und zum Schluss, das hatten uns schon Hörer*innen nach der ersten Runde gefragt: Ist Rodrigo Paz Pereira aus Sicht europäischer und deutscher Interessen, ich weiß die sind vielfältig und überhaupt nicht homogen, aber ist Paz Pereira für Europa die bessere oder die schlechtere Wahl?
Bemerkenswert ist, wie schnell die USA ihre Unterstützung für die Regierung Paz zugesichert haben. Deren Botschafter und die Drogenbekämpfungsbehörde DEA hatte Bolivien ja im Jahr 2008 aus Bolivien ausgewiesen. Mit diesen neuen Bündnissen wird sich Bolivien mit Paz neu ausrichten, weg von Venezuela, Kuba und voraussichtlich auch Russland. Das linke lateinamerikanischen Staatenbündnis ALBA hat die neue bolivianische Regierung nach der Stichwahl ausgeschlossen. Paz bringt Potenzial für eine engere Zusammenarbeit mit Deutschland und Europa mit. Bolivien ist Mitglied des südamerikanischen Binnenmarktes MERCOSUR, und mit seinen Rohstoffen, insbesondere des Lithiums, ist das Land strategisch für die europäische Energiewende interessant. Für die Ausbeutung des Lithiums hatte die bisherige Regierung Kooperationen mit chinesischen und russischen Unternehmen vereinbart, diese stehen jetzt in Frage.
Wichtig ist, dass eine Zusammenarbeit nicht zu neokolonialen Abhängigkeiten führt. Das Ziel sollte eine gegenseitig vorteilhafte und gerechte Zusammenarbeit sein, mit Kooperationen in Bereichen wie sozialer Gerechtigkeit, erneuerbaren Energie und Klimaschutz, die auch die Zivilgesellschaft einbeziehen – denn nicht die Regierung, sondern das Wohlergehen der Menschen in Bolivien sollte im Vordergrund stehen. Bolivien gehört immer noch zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas, und viele Menschen leiden an Unterernährung. Außerdem ist Bolivien für den weltweiten Klimaschutz relevant, das es das Land mit dem viertgrößten Anteil am Amazonas ist. Es ist deshalb wichtig, solidarische Unterstützung für ein Land zu leisten, das sich aktuell in einer schweren Krise befindet.
Rodrigo Paz Pereira wird Präsident Boliviens – Interview mit Steffen Heinzelmann von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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