„Die Unterstützung der Zivilgesellschaft ist lebenswichtig“

(Washington, 27. Juli 2023, npla).- Guatemala geht am 20. August in die Stichwahl um die Präsidentschaft des zentralamerikanischen Landes. Dort werden sich Bernardo Arrévalo, ein Kandidat aus der Anti-Korruptionsbewegung, und die ehemalige First Lady Sandra Torres gegenüberstehen. Thelma Aldana war von 2014 bis 2018 Generalstaatsanwältin Guatemalas, zuvor war sie Richterin am Obersten Gerichtshof. Für die Wahlen 2019 sollte sie vom Movimiento Semilla, einer sozialdemokratisch-progressiven Strömung, als Präsidentschaftskandidatin nominiert werden. Doch noch vor ihrer Registrierung beantragte die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen sie; sie floh in die USA, wo sie seither im Exil lebt. Das Time Magazine erklärte sie 2017 zu einer der einflussreichsten Personen der Welt. In Anerkennung ihres Kampfes gegen Korruption und Straflosigkeit wurde Thelma Aldana 2018 mit dem Right Livelihood Award ausgezeichnet. Markus Plate hat sich mit ihr unterhalten.

 

Thelma Aldana, das Leben im Exil bedeutet einerseits Sicherheit, aber natürlich auch immer den Verlust der Heimat, die Trennung von Familie und Freunden und oft auch den Verlust an Bedeutung. Sie sind in Guatemala immer noch populär und leben jetzt in Washington, der Hauptstadt der Hegemonialmacht über Lateinamerika. Wie kommen Sie persönlich mit Ihrer Situation des Exils zurecht? 

Ins Exil gehen zu müssen ist schwierig, es bedeutet Frustration, Angst, eine Menge Schmerz. Die Trennung von der Familie ist sehr, sehr hart – weil sehr abrupt. Und dann, na ja, die Freund*innen, das Klima, das Essen, nicht Englisch zu sprechen. Wenn man dann noch die Kriminalisierung, die Verfolgung und die Verleumdungskampagnen hinzunimmt, dann ist das alles wirklich dramatisch. Ich war ja die erste unabhängige Anti-Korruptions-Juristin, die in ihrem Land unter diesen Angriffen zu leiden hatte. Als sie bei mir anfingen, verstand nicht einmal ich, worum es überhaupt ging. Ich habe aber von einigen der in Washington und New York lebenden Migrant*innen viel Hilfe erhalten. Das hat mich tief beeindruckt.

Nun sind Sie ja sicherlich auch im Exil nicht untätig. Wie konnten und können Sie sich denn von dort aus für ein gerechteres Guatemala einsetzen?

Als Richter und Staatsanwälte im Exil treffen wir uns mit Kongressabgeordneten, mit Senator*innen, mit dem Außen- und Justizministerium… und mit verschiedenen Einrichtungen und Organisationen der Zivilgesellschaft in Washington. Wir haben das Glück, dass man uns einlädt, dass man uns zuhört, dass man uns empfängt, dass man sich unsere Erfahrungen anhört. Wir dürfen nicht schweigen. Und unsere Stimme erreicht viele Teile der Welt.

Zusammen mit Ihnen sind mehrere Richter*innen und Staatsanwält*innen aus Guatemala geflohen. Die aktuelle Generalstaatsanwältin María Consuelo Porras, Ihre Nachfolgerin, wird beschuldigt, ihr Amt dazu benutzt zu haben, Ermittlungen in Korruptionsfällen zu behindern und ihre Position dazu missbraucht zu haben, Regierungskritiker*innen wie den Journalisten José Rubén Zamora zu verfolgen. Zamora wurde ja vor fast genau einem Jahr verhaftet, kurz nachdem er die Regierung der Korruption beschuldigt hatte. Seine Zeitung, El Periódico, hat mittlerweile ihr Erscheinen einstellen müssen. Wie ernst ist die Lage in Guatemala heute, fast 30 Jahre nach dem Ende des bewaffneten Konflikts?

Guatemala befindet sich immer wieder in einer Krise, aber diesmal ist es eine dauerhafte und sehr tiefe Krise. Consuelo Porras, die Generalstaatsanwältin, ist die Bannerträgerin eines Rachefeldzugs, den sie gegen diejenigen von uns führt, die gegen die Korruption kämpfen – ob als unabhängige Justizakteur*innen, als unabhängige Presse, als unabhängige Menschenrechtsverteidiger*innen. Und der Fall von José Rubén Zamora ist ein Beispiel dafür, wie Consuelo Porras den Justizapparat nutzt, um sich an Rubén zu rächen. Und das Gleiche hat sie mit uns gemacht. Consuelo Porras wurde von der Regierung der Vereinigten Staaten auf die Engel-Liste gesetzt und ist als korrupte Amtsträgerin gebrandmarkt. In ihr haben wir also eine Vertreterin dieser fragwürdigen Sektoren Guatemalas.

Von 2006 bis 2019 arbeitete in Guatemala die CICIG, die UN-Kommission gegen Korruption und Straflosigkeit in Guatemala. Als Generalstaatsanwältin haben Sie gemeinsam mit dem damaligen CICIG-Leiter Iván Velásquez Korruptionsnetzwerke aufgedeckt und strafrechtlich verfolgt. Wir erinnern uns an den Fall La Línea und den Sturz von Ex-Präsident Otto Pérez Molina und seiner Vizepräsidentin Roxana Baldetti. Wie müssen wir uns hier in Europa diese Netzwerke und diesen „Pakt der Korrupten“ vorstellen? Wie funktionieren sie? Was ist ihre Funktion und ihr Umfang? Wer und wie viele sind daran beteiligt?

Als wir die Untersuchungen mit der CICIG durchführten, kamen wir zu dem Schluss, dass es sich um illegale, politische und wirtschaftliche Netzwerke handelt, die tief im guatemaltekischen Staat verankert sind. Sie bestehen schon seit Jahrzehnten. Dazu gehören Korrupte aus Politik, Justiz und Behörden, von Polizei und Armee, der Oberschicht und der Wirtschaft. Und wir als Generalstaatsanwaltschaft haben diese Netzwerke im Jahr 2015 zwar sehr in Bedrängnis gebracht, aber nicht genug, weil wir nicht genug Zeit hatten. Ein Teil des Mandats der CICIG war es, dafür zu sorgen, dass diese ‚CIACS‘ genannten illegalen Einrichtungen und geheimen Sicherheitsapparate aufgelöst werden, die während des internen bewaffneten Konflikts Menschen entführt, gefoltert und getötet hatten. Diese Strukturen bestanden nach Ende der Diktatur fort, sie blieben im guatemaltekischen Staat verankert und wurden zu diesen Korruptionsnetzwerken, von denen wir heute sprechen.

Handelt es sich bei diesem „Pakt der Korrupten“ nur um ein illegales Bereicherungsnetz oder um eine De-facto-Macht unter der Fassade der Demokratie?

Beides. Es ist ein Pakt, um zu regieren, die Demokratie zu kapern. Die Kontrolle, die sie über die staatlichen Institutionen erlangt haben, nutzen sie, um sich selbst zu bereichern, um die Ressourcen des Staates zu plündern. Und sie lenken die Politik, sie lenken die politischen Parteien, sie lenken den Kongress. Sie gehen ziemlich intelligent vor! Zuerst machen sie Gesetze, zum Beispiel für das Justizsystem. Sie wollen schwache Gerichte und Tribunale, und sie schwächen so bewusst die Institutionen. Dann machen sie sich an die politischen Prozesse. Alle vier Jahre gehen wir in Guatemala in eine Stichwahl, und wir alle wissen, dass dort zwei Korrupte zur Wahl stehen. Wir, denen uns Guatemala am Herzen liegt, sagen dann: ‚Lasst uns wenigsten den am wenigsten Schlechten wählen‘, und der am wenigsten Schlechte entpuppt sich dann als schlimmer als derjenige, der zuvor Präsident war. Das ist die dramatische Geschichte Guatemalas.

Welche Hoffnung haben Sie da in der aktuellen Situation, gerade zur Stichwahl am 20. August?

Welche Hoffnung kann es geben? Ich glaube an die Demokratie, ich glaube, dass die Stimmabgabe immer noch das Instrument ist, um eine Demokratie aufzubauen. Am 25. Juni haben wir es geschafft, mit José Arrévalo einen Antikorruptions-Kandidaten in die Stichwahl zu bringen. Generalstaatsanwältin Consuelo Porras versucht im Moment nach Kräften, die Anti-Korruptions-Bewegung zu beschädigen, die von jungen Menschen zwischen 18 und 35 Jahren getragen wird. Sie haben es geschafft, Bernardo Arévalo in die Stichwahl zu tragen. Informierte junge Menschen, die die Situation in Guatemala begriffen haben und Verantwortung übernehmen. Das ist eine Tatsache, die mir gefällt und die mich hoffnungsvoll stimmt.

Wir in Westeuropa mit unseren einigermaßen funktionierenden Demokratien schauen uns die Wahlen in Guatemala an und denken: Na ja, es gibt Kandidat*innen und Parteien, jemand wird Staatsoberhaupt und strebt eine Mehrheit im Kongress an, der dann ein Programm abarbeitet. Aber in Guatemala mit seinen faktischen und parallelen Gewalten und mit seinem hohen Maß an Korruption funktioniert das so nicht. Können Sie den Menschen in Europa beschreiben, wie in Guatemala Allianzen geschmiedet werden? Wer hat die Macht? Mit wem muss man verhandeln? Und was passiert dort gerade jetzt, bis zum zweiten Wahlgang und dann im neuen Kongress?

In Guatemala hat die illegale Wahlfinanzierung während des Wahlkampfs Tradition. Der ehemalige CICIG-Leiter Iván Velázquez sagte, die illegale Wahlkampffinanzierung sei die Erbsünde der guatemaltekischen Demokratie. Bei den Ermittlungen, die wir im Fall La Línea geführt haben, konnte man diese illegale Wahlkampffinanzierung schon im Wahlkampf sehen, und sie wurde natürlich zur Stichwahl noch viel größer. Wenn ein Präsident sein Amt antritt, ist er bereits ein Krimineller, weil er seinen Wahlkampf mit illegalen Geldern finanzieren ließ. So sind der neue Präsident und damit das Schicksal des Landes in der Regel bereits kompromittiert. Unsere Hoffnung ist nun, dass Bernardo Arévalo am 20. August ohne illegale Wahlfinanzierung die Stichwahl gewinnt.

Sandra Torres und Bernardo Arrévalo werden in der zweiten Runde gegeneinander antreten. Man könnte es positiv analysieren, dass Guatemala den ersten Anti-Korruptions-Präsidenten oder die erste Frau ins Amt wählen wird. Was ist Ihre Analyse zu beiden? Was können wir von Torres oder Arrévalo erwarten? Torres tritt ja bereits zum dritten Mal an und war bislang jeweils in der Stichwahl gescheitert. Und sie war schon einmal First Lady, als damalige Ehefrau von Präsident Alvaro Colom…

Sandra Torres hat leider durch ihr Verhalten gezeigt, dass sie eine Verbündete des Pakts der Korrupten ist. Sie gehört zur alten Politik. Sie ist eine der Politiker*innen in Guatemala, die den Staat als Plattform für korrupte Allianzen benutzt haben. Sie hatte ja schon einen Fall von illegaler Wahlkampffinanzierung. Wir würden mit ihr noch mehr vom Gleichen bekommen.

Und Bernardo Arrévalo?

Er hat ja einen berühmten Vater. José Arrevalo war der erste Präsident des sogenannten demokratischen Frühlings in Guatemala, er hatte den Diktator Jorge Ubico gestürzt und wurde dann 1954 mit Unterstützung der CIA wieder weggeputscht… Bernardo Arrévalo würde der erste Präsident eines neuen demokratischen Frühlings in Guatemala sein. Denn er hat auch durch sein Handeln gezeigt, dass er ein Mensch ist, der bereit ist, die Korruption zu bekämpfen. Ich sehe in ihm die Kraft und die Integrität, seinem Vater Ehre zu erweisen und für Demokratie und Rechtsstaat in Guatemala zu kämpfen.

Und schließlich: Was sollten, was können die Zivilgesellschaft und die Politik in Europa tun, um die Zivilgesellschaft und die demokratischen Kräfte in Guatemala zu unterstützen?

Die Europäische Union hat die Stärkung des Justizsystems in Guatemala stets unterstützt. Sie sollte erkennen, dass das Justizsystem, das sie mit aufgebaut hat und das sie immer unterstützt hat, jetzt für Straflosigkeit, zur Kriminalisierung und zur Verfolgung benutzt wird. Die EU sollte dazu dezidiert Stellung nehmen. Guatemala braucht sehr viel internationale Unterstützung. Ich denke, es ist entscheidend, der guatemaltekischen Demokratie gerade jetzt zu helfen. Sich dafür einzusetzen, dass das Votum der Bürger respektiert wird und dass nicht manipuliert wird! Die Unterstützung der europäischen Zivilgesellschaft in Deutschland ist von grundlegender Bedeutung, denn die guatemaltekische Zivilgesellschaft wird verfolgt und kriminalisiert und braucht diese Unterstützung. Sie ist lebenswichtig.

Das Interview gibt’s auch als Audio-File und kann hier nachgehört werden.

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