(Mexiko-Stadt, 20.07.2020, El Salto).- Im September 2014 wurden 43 Student*innen in Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero entführt. Seitdem wird nach ihrem Verbleib gesucht. Der Fund einer Leiche hat nun die offizielle Version der Ereignisse in Frage gestellt und eine Debatte über die Praktiken von Polizei und Militär angestoßen.
Während die mexikanische Regierung offiziell von 73.000 Vermisstenfällen seit 2006 spricht, gehen Angehörige und Menschenrechtsgruppen von etwa um 150.000 verschwundenen Personen im gleichen Zeitraum aus.
Ein Mensch ohne Materie
„Eine verschwundene Person ist, solange sie verschwunden bleibt, ein Rätsel. Wenn die Person auftaucht, tritt Maßnahme X ein, wird ihre Leiche entdeckt, greift Maßnahme Y. Aber bei Verschwundenen kann keine Maßnahme eintreten; die Person bleibt ein Rätsel, sie passt in kein Raster, ist ein Mensch ohne Materie, weder lebendig noch tot, sie ist einfach verschwunden.“ Soweit der argentinische Ex-Diktator Jorge Rafel Videla während einer Pressekonferenz über die vom Staat verübten Verbrechen während seiner Amtszeit (1976- 1983). Menschenrechtsorganisationen gehen von mindestens 30.000 Verschwundenen aus. Videla offenbarte hier seine Verschleierungstaktik und seine bewusste Absicht, „Menschen ohne Materie“ zu produzieren. Doch eine Gruppe Mütter, die sich auf dem Plaza de Mayo versammelte, machte seine Pläne zunichte. Die Frauen mit ihren weißen Tüchern, die heute den Kampf für „Gedenken, Wahrheit und Gerechtigkeit“ symbolisieren, verlangten Auskunft darüber, was mit den Verschwundenen passiert war und was man mit den Kindern gemacht hatte, die in Gefangenschaft geboren wurden. 1984 baten die Nationalkommission Verschwundene Personen CONADEP und die Mütter des Plazas de Mayo verschiedene Expert*innen, sie bei der Suche nach den Verschwundenen und der Exhumierung von sterblichen Überresten zu unterstützen. Kurze Zeit später entstand das Team argentinischer Forensiker*innen EAAF, das heute auf der ganzen Welt für seine Arbeit im Bereich der Identifizierung von Verschwundenen in bewaffneten Konflikten und bei Verbrechen gegen die Menschheit bekannt ist. In Argentinien konnte die EEAF 800 Identitäten klären, 600 weitere sterbliche Überreste sind noch in Untersuchung.
Die Körper derjenigen zu finden, die gegen ihren Willen verschleppt worden sind, ist nicht nur für die Familien essentiell; auch vor Gericht dient der Körper als wichtiges Beweismittel. Vor einigen Tagen bestätigten die Universität Innsbruck und das argentinische Forensiker*innen-Team die Identität von Christian Alfonso Rodríguez, einem der 43 Studierenden, die im Jahr 2014 im mexikanischen Bundesstaat Guerrero verschwanden. Der neue Fund stellt die offizielle Version der Ereignisse der Regierung Peña Nieto in Frage. Es ist nicht der einzige Fall, bei dem Unregelmäßigkeiten während der Untersuchung festgestellt worden sind, aber einer der wenigen, die Fortschritte machen.
Die tatsächliche Zahl der Fälle wird viel höher geschätzt
Mexiko zählt mit Kolumbien, Guatemala, Peru, Chile, El Salvador und Argentinien zu den Ländern Lateinamerikas mit den meisten Fällen gewaltsamen Verschwindenlassens. Laut einer offiziellen Erklärung des Staatssekretärs für Menschenrechte im Innenministerium Alejandro Encinas vom 13. Juli galten zwischen 2006 und 2019 im Zuge der Militarisierung des öffentlichen Lebens während des „Kriegs gegen den Drogenhandel“ 73.218 Personen als vermisst. Vermutlich zeigen viele Familien das Verschwinden ihrer Verwandten jedoch nicht an, da sie den Autoritäten misstrauen, Angst haben oder denken, dass sich nichts verändern wird. Angehörigenverbände gehen von 150.0000 vermissten Personen aus. Unterstützt werden sie von der Mexikanischen Kommission für die Verteidigung und Förderung von Menschenrechten CMDPDH: „Die offizielle Zahl ist niedriger, weil der Großteil der Fälle nicht gemeldet wird“, so Lucía Chávez, Koordinatorin für Untersuchungen der CMDPDH. Sie ist überzeugt, dass viele Menschen sich nicht trauen, die Taten anzuzeigen. An Gründen dafür scheint es nicht zu fehlen: Laut Angaben der Bundesjustiz gab es im Land bisher nur 27 Urteile in Fällen von gewaltsamem Verschwindenlassen, und ganze 13 Schuldsprüche.
Mit Spitzhacke und Schaufel
Daher suchen viele Familien in Mexiko ihre verschwundenen Kinder selbst ‑ im wahrsten Sinne des Wortes „mit Schaufel und Spitzhacke“, zum Teil unter Anleitung der Expert*innen. Dank dem argentinischen Forensiker*innen-Team und anderen unabhängigen Gruppen, die im Auftrag von Untersuchungskommissionen oder auf Ersuchen der Familienorganisationen arbeiten, haben sie nun eine zweite Chance. Leticia Hidalgo aus Nuevo Léon sucht ihren Sohn Roy seit neun Jahren. Als sie sein Verschwinden anzeigte, sah sie sich mit einer Reihe von Hindernissen konfrontiert. Um den Prozess des Anzeigens und Nachverfolgens für sich und andere Familien zu erleichtern, gründete sie die Organisation „Gemeinsam stark für unsere Verschwundenen“ (Fuerzas Unidas por Nuestros Desaparecidos).
Beteiligung staatlicher Sicherheitskräfte
In der Gruppe von Männern, die ihren Sohn entführte, sah Leticia zwei Personen in Polizeiuniform und machte bei der Untersuchung eine entsprechende Angabe. „Mir wurde bewusst, dass sie den Fall nicht untersuchten, dass die Sachen nicht zusammenpassten und dass es eine Mitttäterschaft innerhalb der Polizisten gab, die den Fall untersuchten. In dem Moment, als ich kurz davor war, die Zusammenhänge zu durchblicken, wurde der Fall geschlossen und niemand sagte mir, weshalb“ erzählt Leticia. So lernten sie und andere Familienangehörige, Daten miteinander zu vergleichen, Personen unter die Lupe zu nehmen, Spuren zu verfolgen und Fragebögen zu erstellen. Nach jahrelanger Untersuchung im Fall ihres Sohnes wurden sechs Personen verhaftet, aber nur einer schuldig gesprochen. Über den Verbleib ihres Sohnes jedoch konnte sie nichts erfahren. Zusammen mit anderen Müttern, denen ähnliches geschehen war, begann sie die Suche im Land. Unterstützt von unabhängigen forensischen Teams durchkämmten sie Kilometer um Kilometer. Heute, neun Jahre später, haben sie ein Such-Team, das aus ihnen selbst, und seit 2019 auch aus freiwilligen Archäolog*innen und Anthropolog*innen besteht. „Wir haben uns dazu entschieden, weil wir nicht auf die Schuldeingeständnisse der Verhafteten warten konnten und weil wir sahen, wie einige Such-Teams auf der Suche nach sterblichen Überresten arbeiten: Sie gehen mit den Funden um, als wäre es nichts, aber für uns sind es menschliche Überreste, die zu irgendwem gehören“ erzählt Leticia. Seit sie mit dieser Arbeit begonnen haben, fanden sie tausende sterbliche Überreste und etwa 20 lebendige Menschen. „Jeder Fund wird als etwas Einzigartiges gefeiert; mit jeder lebendigen Person, die wir finden, wächst in uns die Hoffnung, unsere Angehörigen wiederzubekommen“.
Mit jeder Spur wurde deutlicher, dass es im Bundesstaat Nuevo León ein Muster gibt: In einigen nachgewiesenen Fällen rekrutierte die Bezirkspolizei selbst Jungen im entsprechenden Alter für das organisierte Verbrechen. Leticia glaubt, dass ihrem Sohn etwas Ähnliches passiert ist. Nicht selten sind staatliche Sicherheitskräfte (Militärs, Polizei, Marine) für die Tat verantwortlich, manchmal in Kooperation mit dem organisierten Verbrechen. Ein weiteres Problem ist die Identifizierung der Leichen, da keine nationale genetische Datenbank existiert.
Zwangsrekrutierungen, Hinrichtungen, „Kollateralschäden“
Zwangsrekrutierung sei eine der Ursachen für das Verschwindenlassen, aber nicht die einzige, so die Forscherin Lucía Chávez. Wie die Untersuchungen ergaben, ist auch die Hinrichtung durch Streitkräfte sehr verbreitet. Bei einigen Einsätzen werden Personen festgenommen, in militärische Anlagen gebracht und mit Foltermethoden befragt und anschließend nicht selten ermordet. Die Leichen verscharren sie in einem geheimen Massengrab. Manche Menschen verschwinden im Kreuzfeuer zwischen Militär und organisiertem Verbrechen. Wie die CMDPDH festgestellt hat, werden Migrant*innen während des Transits durch Mexiko in die USA häufig Opfer von Missbrauch, Entführung und Verschleppung. Dahinter steht organisiertes Verbrechen, in einigen Fällen unter Mittäterschaft von Streitkräften oder der Polizei. Eine andere sehr verletzliche Personengruppe sind die Kinder. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission CIDH zeigte sich besorgt über die steigende Anzahl von verschwundenen Kindern, laut dem letzten Bericht der Kommission etwa 30% ausmachen. Auch das Verschwinden von Frauen nimmt zu. Zwar sind nicht in erster Linie Frauen Opfer der Politik des Verschwindenlassens, an der öffentliche Stellen beteiligt sind, wohl aber sind sie das Hauptziel anderer Akteure. Die offiziellen Zahlen des Nationalen Registers über verschleppte und verschwundenen Personen (Registro nacional de datos de personas extraviadas o desaparecidas) zeigen, dass es sich im Landesdurchschnitt bei 25 % aller registrierten Vermisstenfälle um Frauen handelt, im Bundesstaat Mexiko sind es sogar 46 % (Stand: Januar 2019). Laut einem Artikel der mexikanischen Forscherin Scherazada López vom Untersuchungszentrum für anthropologische Soziologie (Centro de Estudios e Investigaciones Superiores en Antropología Social) hängt das Verschwinden von Frauen und jungen Mädchen mit ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen zusammen. In einigen Fällen werden Frauen zur Prostitution gezwungen, in anderen zur Arbeit in Fertigungsfabriken (maquilas).
Es muss noch mehr getan werden
Seit 2018 ermöglicht ein Gesetz über (gewaltsames) Verschwindenlassen die Koordination zwischen einzelnen Bundesstaaten, der nationalen Suchkommission (Comísion nacional de Búsqueda), lokalen Suchkommissionen sowie der auf Vermisstenfälle spezialisierten Staatsanwaltschaften. Lucía Chávez betrachtet diese Aktionen als positiv, aber nicht als ausreichend. Ihrer Meinung nach hat die aktuelle Regierung hinsichtlich der Anerkennung von Menschenrechtsverletzungen gegenüber der vorherigen, die versucht hatte, das Problem unter den Teppich zu kehren, einige Fortschritte gemacht, doch es fehlt ihr auch der jetzigen Regierung an Entschlossenheit. „Lopez Obrador hat eingestanden, dass es eine humanitäre Krise in Mexiko gebe und dass die Gewalt anderen Konflikten in der Region ähnelt, aber er hat es nicht gewagt, entsprechend zu agieren.“ Laut der mexikanischen Kommission für die Förderung von Menschenrechten CMDPDH durchschreitet das Land einen internen bewaffneten Konflikt, der angesichts der zahlreichen Verschwundenen und der Eskalation von Gewalt eine dringende Lösung erfordert. Eine Idee wäre die Einrichtung spezieller Gerichte wie in Guatemala, um Menschenrechtsverbrechen zu untersuchen und zu bestrafen, sowie die Einführung von Wiedergutmachungsprogrammen für Opfer nach dem Vorbild Argentiniens, Chiles und Perus. „Wir müssen das Justizsystem umgestalten, es ist seine Aufgabe, die Einhaltung der Gesetze durchzusetzen; in Mexiko sehen wir, dass es nicht funktioniert, wir befinden uns in einem internen bewaffneten Konflikt; wir können nicht weiterhin so tun, als ginge es hier um Einzelfälle; wir müssen sie mit außergewöhnlichen Mechanismen bekämpfen und gleichzeitig die Gerichtsinstitutionen stärken, die in Bewegung gekommen sind“ erklärt Lucía Chávez.
Was passiert mit den Verschwundenen?
Die Regierung sagt, Mexiko sei ein Land der Opfer. Die Frauen, die ignoriert und kriminalisiert werden, weil sie ihre Angehörigen suchen, machen trotz der Ignoranz und Kriminalisierung weiter und weiter. Viele Jahre und vielleicht ein Leben lang. Sterbliche Überreste finden, die Geschichte erfahren, wissen, mit wem ihre Angehörigen unterwegs waren, wie sie gestorben sind oder wo sie sind, das sind ihre Bestrebungen. „Was passiert mit den Verschwundenen?“ fragt der panamaische Sänger Rubén Blades. Was ist das Schicksal von Roy? Leticia weiß es nicht. In ihren Träumen ist er lebendig und glücklich. Wenn sie aufwacht, fährt sie fort, die Erde zu durchforsten und anderen Müttern dabei zu helfen, ihre Kinder zu finden und so den Personen die Materie zurückzugeben, die andere Menschen auslöschen wollten.
Übersetzung: Lisa Hofmann
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