von Andreas Behn
(Berlin, 14. Juli 2014, poonal).- Bei jedem holländischen Tor kam Jubel auf. Kein richtiger, sondern hämischer Jubel. Vielleicht 40 Leute schauten das Spiel in der etwas heruntergekommenen Kneipe, alle waren natürlich für Brasilien, aber nur einer hatte ein gelbes T-Shirt an. Nach dem 2:0 begannen vier Männer, Karten zu spielen, und es wirkte nicht einmal demonstrativ. Trauer lag nicht in der Luft, auch war nicht das Bedürfnis zu spüren, einen Schock zu verarbeiten. Wenn überhaupt, dann Wut, und eine gewisse Scham ob des weltweiten Publikums, das dem peinlichen Ende des Gastgebers Brasilien bei dieser WM beiwohnt.
Nicht einmal die Angst, Argentinien könnte just im Maracanã seinen drittel Titel holen, bewegt die Brasilianer*innen. Die WM interessiert nicht mehr, aber nicht, weil das 1:7 gegen die Deutschen so traumatisch gewesen wäre. Jetzt wird noch deutlicher als zuvor, dass es von Beginn an gar nicht ihre WM gewesen ist, besser gesagt seit Juni 2013, als die Protestwelle vieles im Land und vor allem auch das Selbstbild der Brasilianer*innen erschütterte.
Nicht die WM der BrasilianerInnen
Es setzte ein Prozess ein, der so langwierig ist wie schwer zu interpretieren. Deutlich wird er nur in Stimmungen: Es gab keine richtige Begeisterung, viel weniger geschmückte Straßen als sonst, und am meisten wunderten sich die Brasilianer*innen selbst darüber. Aber gerne ließen sie sich von den angereisten Fans und den spannenden Spielen anstecken und feierten das Spektakel. Alle wussten, dass die Mannschaft schlecht war und ein einziger Neymar es nicht reißen wird. Aber gerne glaubten sie dem TV-Einpeitschern, die das Gegenteil behaupteten.
Präsidentin Dilma Rousseff sagte vor dem Spiel, dass das, was in den Stadien passiert, keine Auswirkungen auf die Politik haben wird. Das gilt für den Sport, aber nicht für Planung und Organisation im Vorfeld der Spiele. Zwar wussten die Brasilianer*innen, und offenbar nur sie, dass es keine großen Pannen geben werde, denn in Brasilien klappt eigentlich immer alles auf den letzten Drücker. Aber die Stadien, von denen zahlreiche in Zukunft nicht richtig genutzt werden, und die nicht gebauten Verkehrsprojekte und vor allem die verfehlte Stadtplanung, all dies wird die Menschen weiter beschäftigen. Bei jedem Blick auf diese weißen Elefanten, oder im täglichen Stau wird das Gefühl vor allem Wut sein auf das, was nicht oder was falsch gemacht wurde.
Repression statt Sicherheit
Auch das Sicherheitskonzept, das angeblich so gut funktioniert hat, kann noch zum Boomerang werden. In Bezug auf die Proteste – und das war neben gelegentlicher Fan-Randale der einzige brisante Aspekt – gab es keine Sicherheit, sondern ausschließlich Repression. Völlig überzogen angesichts der geringen Demo-Lust während der WM, und jenseits rechtsstaatlicher Grenzen. Allein in Salvador sind über 45 Menschen bei kleinen Protestaktionen festgenommen worden, obwohl es alles andere als ein Protestzentrum war. Und in Rio de Janeiro wurden 48 Stunden vor dem Finale 19 Menschen in Vorbeugehaft genommen, sieben weitere werden gesucht. Amnesty International bezeichnete diese Maßnahmen als „besorgniserregend, da es ein weiterer Akt der Einschüchterung“ sei und das Recht auf Meinungsfreiheit einschränke.
Eine Bilanz jenseits des grünen Rasens zu ziehen ist kompliziert, weil es sich bei einer WM vor allem um ein Medienereignis handelt. Selten zuvor haben Journalist*innen – sprich das brasilianische Oligopol der geradezu gleichgeschalteten Massenmedien, die von wenigen einflussreichen Familien kontrolliert werden – soviel Einfluss auf die Wahrnehmung des Geschehens genommen und die eigene Bevölkerung wie auch die ausländische Presse so sehr an der Nase herumgeführt: Im Vorfeld schrieben sie einen Organisations-Gau herbei, wobei es ihnen nur darum ging, die verhasste Präsidentin zu schwächen. Alle schrieben es ab, doch danach klappte plötzlich alles. Dann wurde die große WM-Party inszeniert, ohne zu berücksichtigen, dass das Brasilianer*innen vor allem höflich mitfeierten und es die Ausländer*innen waren, die die gute Stimmung mitbrachten. Und nach dem Debakel steht im In- und Ausland geschrieben, dass Brasilien trauert und vor einem neuen Trauma steht. Doch die Brasilianer*innen sagen viel mehr „to nem aí – was geht mich das an?“
Es war keine schlechte WM, im Gegenteil. Aber der Gastgeber war mit sich selbst beschäftigt, und es ist ihm hoch anzurechnen, dass er nicht aus dieser Rolle gefallen ist. Deswegen ist 2014 auch nicht eine Neuauflage des Traumas von 1950. Vielmehr relativiert das 7:1 das Trauma, denn damals hatte Brasilien sehr gut gespielt. Es könnte sogar zur Überwindung des Traumas beitragen, denn statt einem Minderwertigkeitskomplex steht jetzt Handeln an. So wie es jetzt ist, soll es weder im Fußball noch in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft weiter gehen. Das Aufbruchssignal waren die Demonstrationen im vergangenen Jahr, die WM nur ein Moment auf diesem Weg.
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