(Berlin, 08. September 2023, npla).- Den kurzen Weg zur bundesdeutschen Botschaft gehen die beiden Freunde gemeinsam. Sorgen und Ungewissheiten lassen sich kollektiv besser schultern, auch das haben sie in den 1000 Tagen des chilenischen Sozialismus gelernt, der vor wenigen Tagen, am 11. September 1973 ein jähes Ende gefunden hat. Ganz in ihrer Nähe, über dem Regierungssitz La Moneda, steigt noch immer Rauch auf. Von hier aus wandte sich Präsident Salvador Allende im Radio ein letztes Mal an die Bevölkerung: Er dankte den Arbeiter*innen, warnte vor düsteren Zeiten und verbreitete zugleich Mut, dass sich „erneut die großen Wege auftun werden, auf denen der freie Mensch dem Aufbau einer besseren Gesellschaft entgegengeht“.
Norbert Lechner und Franz Hinkelammert gehen an diesem Morgen auf großen, menschenleeren Straßen durch Santiago, doch freie Menschen sind kaum zu sehen. „Frei“, das bedeutet in diesen Tagen, nicht zu denen zu gehören, die verhaftet und gefoltert werden – nicht mehr und nicht weniger. Um frei zu bleiben, müssen sie vorsichtig sein. Rundfunkspots und Plakate rufen die Patrioten Chiles dazu auf, alle verdächtigen Subjekte zu denunzieren, „marxistische Agitatoren“ und „Ausländer“ seien besonders gefährlich. Kein Wunder, dass die beiden Inhaber bundesdeutscher Reisepässe den Blickkontakt mit den wenigen Passanten meiden.
Hinkelammert ist in jedem Sinne verdächtig. Der 1,90 Meter große linke Ökonom und Befreiungstheologe mit wildem blondem Haar und Rauschebart ist kaum zu übersehen und ziemlich bekannt. Lechner ist etwas unscheinbarer, seine staatstheoretischen Arbeiten kennen nur wenige. Die akademischen und politischen Interventionen des Soziologen sind eher subtil. Ganz allmählich wird er in den nächsten Jahren die „Innenhöfe der Demokratie“, die subjektive Dimension von Politik ausleuchten: „Um zu leben, darf man die Narben nicht vergessen, Narben, wo die Haut ihre Empfindlichkeit verloren hat.“ Auch Hinkelammerts Reaktion auf den Putsch lässt nicht lange auf sich warten. Den religiösen Unterstützern Pinochets bescheinigt er eine „Theologie des Völkermordes“, ökonomische Apologet*innen des brutalen Regimewechsels in Chile – wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan – geißelt er als „Götzen des Todes“, die im Namen des Neoliberalismus einen „spirituellen Vernichtungskrieg“ führten.
Noch wissen sie an diesem Morgen nicht, wie viel Unterstützung sie in der Botschaft der BRD erwarten können. Beide hatten Deutschland bewusst den Rücken gekehrt, um sich als Internationalisten in der „Dritten Welt“ zu engagieren. Hinkelammert empfand das Dasein im nur oberflächlich entnazifizierten Westteil des Landes als unerträglich, als „Leben zwischen Schwerverbrechern“. Lechner, der als Kind im Nationalsozialismus, aber auch in den Diktaturen Portugals und Spaniens aufwuchs, blieb Deutschland nach seiner Rückkehr als Jugendlicher fremd. Auch er fühlte sich als Fremder, der „Schwierigkeiten hat, sich seiner Träume zu erinnern und sie auszudrücken“. Das Santiago der späten 60er Jahre ist da um einiges weltoffener, der Abstand zur bleiernen Nachkriegszeit der Alten Welt groß, und mit Salvador Allende als erstem gewählten marxistischen Präsidenten wird das Land ab 1970 für viele linke Intellektuelle und Aktivist*innen endgültig eine zweite Heimat.
Nun ist Allende tot. Die chilenische Linke und ihre internationalen Unterstützer*innen haben der massiven Gewalt der neuen Machthabenden am Ende nichts entgegenzusetzen. Trotz des internationalen Aufschreis, in den auch Regierungen einiger westlicher Staaten wie Frankreich, Schweden und Italien einstimmen: Wer würde schon eine direkte Intervention im „Hinterhof der USA“ vom Zaun brechen? Noch dazu im Namen eines „demokratischen Sozialismus“, den die UdSSR bereits 1968 in Prag bekämpft hatte und den im Westen vielleicht ein Willy Brandt spannend fand, aber mehr auch nicht. 1974 erhöht die BRD ihre Exporte nach Chile um 40 Prozent, die Importe wachsen um 65 Prozent. Dass auch die DDR nach 1973 unter Vermittlung der Schweiz chilenisches Kupfer einführte, ist eine andere Geschichte.
In der diplomatischen Vertretung der BRD in Chile werden Lechner und Hinkelammert von Botschafter Kurt Luedde-Neurath empfangen, ein studierter Jurist, Träger des 1969 verliehenen Bundesverdienstkreuzes erster Klasse sowie ehemaliges Mitglied der NSDAP und der SA. Luedde-Neurath ist kurz angebunden: Ja, wenn sie Sorge um ihre Sicherheit hätten, könnten sie bleiben. Aber die Botschaft der BRD sei kein Hotel, und mit der nächsten freien Maschine würden sie nach Deutschland ausgeflogen. Auf keinen Fall würde er ihre Anwesenheit im Land gutheißen, solange weiter der Sturm tobe. Niemand spricht. Dann steht Lechner auf, bedankt sich und geht zurück auf die Straße, zurück nach Hause. Hinkelammert bleibt sitzen und ist schon bald zurück in Deutschland.
Es ist nicht das Ende einer Freundschaft. Als Menschenrechtler und Forschende für die Unesco und die Freie Universität Berlin werden die beiden weiter engen Kontakt halten, zwei unbequeme Stimmen, zwei ungleiche Lautstärken. Nein, zu Ende geht an diesem Tag etwas anderes und es beginnt etwas, „für das uns zunächst die Worte fehlten“, erinnert sich Lechner in einem Interview 2004. Allende hatte mit viel Zuversicht das zwangsläufige Auftauchen neuer, großer Wege versprochen. Die Überlebenden hätten diesem Versprechen jedoch noch etwas anderes hinzufügen müssen, nämlich „uns aus der Niederlage herauszudenken (…), den Impuls zu geben, für eine neue Art des Denkens und der Politik, am Rand der großen Avenidas“.
Norbert Lechner lebt bis an sein Lebensende 2004 in Santiago, ein Jahr zuvor erhält er die chilenische Staatsbürgerschaft. Franz Hinkelammerts neue Heimat wird Costa Rica, wo er 1976 ein befreiungstheologisches Institut gründet und bis zu seinem Tod im Juli 2023 die Marxsche Religionskritik verteidigt.
Wir übernehmen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung des nd, wo er zuerst erschienen ist.
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